Heute besuchte der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck gemeinsam mit seinem israelischen Amtskollegen Shimon Peres die Gedenkstätte
Yad Vashem in Jerusalem. Ich kann dies nur jedem und jeder empfehlen, und so geht also erfreulicherweise der erste große Staatsbesuch des neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete. Im Gästebuch von
Yad Vashem notierte Gauck folgende Worte handschriftlich:
"
Wenn du hier gewesen bist, sollst du wiederkommen. Zuerst nur: die Flut der Gefühle, erschrecken vor dem Ausmaß des Bösen, mitleiden, mitfühlen, trauern - wegen eines einzigen Kinderschicksals oder wegen der Millionen unschuldiger Opfer.
Und wiederkommen sollst du, weil auch du wissen kannst: Namen der Opfer - wie viele kennst du? Namen der Täter - deutsche zumeist - Verursacher, Vollstrecker, auch Namen von Schreckensorten wirst du dir einprägen und wirst erschrecken vor dem brutalen Interesse von Herrenmenschen.
So wirst du dann hier stehen und dein Gefühl, dein Verstand und dein Gewissen werden dir sagen: Vergiss nicht! Niemals. Und steh zu dem Land, das hier derer gedenkt, die nicht leben durften. Joachim Gauck"
Auch bei seiner Antrittsansprache und bei einem ersten Interview fand der Bundespräsident die richtigen und klaren Worte, was das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel betrifft. Aus Anlaß seines Besuches in der Holocaust-Gedenkstätte
Yad Vashem erinnere ich gerne an den Besuch zweier Päpste am selben Ort und übernehme von der Internetseite des Heiligen Stuhles die damals gehaltenen Ansprachen:
I.
ANSPRACHE DES SELIGEN PAPSTES JOHANNES PAUL II. ANLÄSSLICH DER JUBILÄUMSPILGERREISE INS HEILIGE LAND AM 23. MÄRZ 2000:
Aus unseren Herzen erheben sich die Worte des altehrwürdigen Psalms:
»Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.
Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum.
Sie tun sich gegen mich zusammen;
sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben.
Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,13 – 15).
1. An dieser Stätte der Erinnerungen empfinden Verstand, Herz und Seele ein ganz starkes Bedürfnis nach Stille. Stille zum Erinnern. Stillschweigen, in dem wir versuchen, etwas Besinnung in die Erinnerungen zu bringen, die uns überfluten. Stille, weil es
keine Worte gibt, die stark genug wären, um die grauenhafte Tragödie der »Shoah« zu beklagen. Meine eigenen, persönlichen Erinnerungen betreffen all die Ereignisse, die sich damals zugetragen haben, als die Nazis Polen während des Krieges okkupierten. Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn: Manche von ihnen kamen um, andere haben überlebt.
Ich bin nach »Yad Vashem« [Ein Denkmal und ein Name] gekommen, um den Millionen Juden die Ehre zu erweisen, denen alles genommen wurde, besonders ihre Würde als Menschen, und die im Holocaust ermordet worden sind. Über ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, aber die Erinnerung bleibt.
Hier, wie in Auschwitz und an vielen anderen Orten in Europa, sind wir überwältigt vom Widerhall der herzzerreißenden Klage so vieler Menschen. Männer, Frauen und Kinder schreien zu uns auf aus den Tiefen des Greuels, das sie erfahren mußten. Wie sollten wir ihren Aufschrei nicht hören? Niemand kann das, was damals geschah, vergessen oder ignorieren. Niemand kann die Ausmaße dieser Tragödie schmälern.
2. Wir möchten uns erinnern. Wir möchten uns aber mit einer bestimmten Zielsetzung erinnern, nämlich um zu gewährleisten, daß das Böse nie mehr die Überhand gewinnen wird, so wie es damals für Millionen unschuldiger Opfer des Nazismus der Fall war.
Wie konnte der Mensch eine solche Verachtung des Menschen entwickeln? Weil er den Punkt der Gottesverachtung erreicht hatte. Nur eine gottlose Ideologie konnte die Ausrottung eines ganzen Volkes planen und ausführen.
Die Ehrung als »Gerechte der Völker«, die der Staat Israel hier in Yad Vashem denen zuerkannt hat, die sich heldenhaft – manchmal sogar bis zur Preisgabe ihres eigenen Lebens – für die Rettung von Juden eingesetzt haben, ist eine Anerkennung der Tatsache, daß nicht einmal in der dunkelsten Stunde jedes Licht ausgelöscht ist. Das ist der Grund, weshalb die Psalmen und die ganze Bibel, die sich zwar der Fähigkeit des Menschen zum Bösen wohl bewußt sind, auch verkünden, daß das Böse nicht das letzte Wort haben wird. Aus den Tiefen des Leids und der Trauer kommt der Aufschrei des Herzens des Gläubigen: »Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,15).
3. Juden und Christen teilen ein unermeßliches geistliches Erbe, das aus der Selbstoffenbarung Gottes hervorgegangen ist. Unsere religiösen Lehren und unsere geistliche Erfahrung fordern von uns, das Böse mit Gutem zu überwinden. Wir erinnern uns, aber ohne jedes Verlangen nach Rache oder als Ansporn zum Haß. Für uns bedeutet Erinnerung, für Frieden und Gerechtigkeit zu beten und uns dieser Sache zu verpflichten. Nur eine Welt im Frieden mit Gerechtigkeit für alle kann eine Wiederholung der Verfehlungen und grauenvollen Verbrechen der Vergangenheit verhindern.
Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, daß die katholische
Kirche – vom Gebot des Evangeliums zur Wahrheit und Liebe und nicht von politischen Überlegungen motiviert – zutiefst betrübt ist über den Haß, die Taten von Verfolgungen und die antisemitischen Ausschreitungen von Christen gegen die Juden, zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer. Die Kirche verwirft jede Form von Rassismus als ein Leugnen des Abbildes des Schöpfers, das jedem Menschenwesen innewohnt (vgl. Gen 1,26).
4. An diesem Ort des feierlichen Erinnerns bete ich inständig dafür, daß unsere Trauer um die Tragödie, die das jüdische Volk im zwanzigsten Jahrhundert erlitten hat, zu einer neuen Beziehung zwischen Christen und Juden führen möge. Laßt uns eine neue Zukunft aufbauen, in der es keine antijüdischen Gefühle seitens der Christen und keine antichristlichen Empfindungen seitens der Juden mehr geben wird, sondern vielmehr die gegenseitige Achtung, wie sie jenen zukommt, die den einen Schöpfer und Herrn anbeten und auf Abraham als unseren gemeinsamen Vater im Glauben schauen (vgl. Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah, V; O.R. deutsch, Nr. 14, 3. April 1998, S. 9).
Die Welt muß die Warnung hören, die die Holocaust-Opfer und das Zeugnis der Überlebenden an uns richten. Hier in Yad Vashem lebt die Erinnerung fort und brennt sich in unsere Seelen ein. Sie läßt auch uns rufen:
»Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum […]
Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,14–15).
II.
ANSPRACHE DES REGIERENDEN PAPSTES BENEDIKT XVI. ANLÄSSLICH DER PILGERREISE INS HEILIGE LAND AM 11. MAI 2009:
„Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen … Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals ausgetilgt wird“ (Jes 56,5).
Diese Stelle aus dem Buch des Propheten Jesaja liefert die beiden schlichten Worte, die feierlich die tiefe Bedeutung dieser ehrwürdigen Stätte zum Ausdruck bringen: yad – „Denkmal“; shem – „Name“. Ich bin gekommen, um in Stille vor diesem Denkmal zu stehen, das zur ehrenvollen Erinnerung an die Millionen in der schrecklichen Tragödie der Schoah getöteten Juden errichtet wurde. Sie haben ihr Leben verloren, doch niemals werden sie ihre Namen verlieren: Diese sind fest in die Herzen ihrer Lieben, ihrer Mitgefangenen, die überlebt
haben, und all jener eingeschrieben, die entschlossen sind, niemals zuzulassen, daß eine solche Grausamkeit wieder über die Menschheit hereinbricht. Mehr als alles andere sind ihre Namen für immer in das Gedächtnis des Allmächtigen Gottes eingeprägt.
Man kann einen Mitmenschen seines Besitzes, seiner Chancen oder seiner Freiheit berauben. Man kann ein heimtückisches Netz von Lügen spinnen, um andere zu überzeugen, daß gewisse Gruppen keine Achtung verdienen. Doch sosehr sich einer auch bemüht, man kann niemals den Namen eines Mitmenschen wegnehmen.
Die Heilige Schrift lehrt uns die Wichtigkeit der Namen, wenn jemandem eine einzigartige Aufgabe oder eine besondere Gabe verliehen wird. Gott nannte Abram „Abraham“, weil er zum „Stammvater einer Menge von Völkern“ werden sollte (Gen 17, 5). Jakob wurde „Israel“ genannt, weil er „mit Gott und mit Menschen gestritten und gewonnen“ hat (Gen 32,29). Die in diesem ehrwürdigen Denkmal bewahrten Namen werden auf immer einen heiligen Platz unter den zahllosen Nachfahren Abrahams einnehmen. Wie bei ihm wurde ihr Glaube geprüft. Wie Jakob wurden sie in das mühevolle Ringen, die Pläne des Allmächtigen zu erkennen, hineingestellt. Mögen die Namen dieser Opfer niemals vergehen! Möge ihr Leid nie geleugnet, herabgesetzt oder vergessen werden! Und mögen alle Menschen guten Willens weiter wachsam darauf achten, aus dem Herzen des Menschen auszumerzen, was immer zu Tragödien wie dieser führen könnte!
Die Katholische Kirche, in Verpflichtung zur Lehre Jesu und in der Absicht, seine Liebe zu allen Menschen nachzuahmen, empfindet tiefes Mitgefühl für die Opfer, derer hier gedacht wird. Ebenso ist sie all denen nahe, die heute aufgrund von Volkszugehörigkeit, Hautfarbe, Lebensbedingungen oder Religion verfolgt werden – sie teilt ihre Leiden und macht sich ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit zu eigen. Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus bekräftige ich – wie meine Vorgänger –, daß die Kirche verpflichtet ist, unablässig zu beten und zu arbeiten, um zu gewährleisten, daß der Haß nie wieder in den Herzen der Menschen herrsche. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist der Gott des Friedens (vgl. Ps 85,9).
Die Schriften lehren, daß es unsere Aufgabe ist, die Welt daran zu erinnern, daß Gott lebt, auch wenn wir es manchmal schwierig finden, seine geheimnisvollen und unergründlichen Wege zu verstehen. Er hat sich selbst geoffenbart und wirkt weiterhin in der menschlichen Geschichte. Er allein regiert die Welt in Gerechtigkeit und spricht den Völkern ein gerechtes Urteil (vgl. Ps 9,9).
Wenn man auf die Gesichter blickt, die sich im Becken spiegeln, das innerhalb der Gedenkstätte in Stille ruht, kann man nicht anders, als sich daran erinnern, daß ein jedes davon einen Namen trägt. Ich kann mir nur die freudige Erwartung ihrer Eltern vorstellen, als sie sehnsüchtig auf die Geburt ihrer Kinder warteten. Welchen Namen sollen wir diesem Kind geben? Was wird aus ihm oder ihr werden? Wer hätte sich vorstellen können, daß sie zu einem solch beklagenswerten Schicksal verurteilt werden würden!
Wenn wir hier in Stille stehen, hallt ihr Schrei in unseren Herzen wider. Es ist ein Schrei gegen jeden Akt von Ungerechtigkeit und Gewalt. Es ist ein ständiger Vorwurf gegen das Vergießen von unschuldigem Blut. Es ist der Schrei Abels, der vom Erdboden zum Allmächtigen aufsteigt. Wir bekennen unser unerschütterliches Vertrauen in Gott und verleihen diesem
Schrei Stimme mit den Worten aus dem Buch der Klagelieder, das für Juden wie für Christen voller Bedeutung ist:
„Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende.
Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue.
Mein Anteil ist der Herr, sagt meine Seele, darum harre ich auf ihn.
Gut ist der Herr zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht.
Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn.“ (Klgl 3,22 - 26).
Liebe Freunde, Gott und Ihnen bin ich äußerst dankbar für die Gelegenheit, hier in Stille zu verweilen: eine Stille, um zu gedenken, eine Stille, um zu beten, eine Stille, um zu hoffen.
[
ENDE DER BEIDEN PÄPSTLICHEN ANSPRACHEN IN DER GEDENKSTÄTTE YAD VASHEM.]
Meine Photographien sind allesamt genau drei Wochen vor dem Besuch des deutschen Bundespräsidenten entstanden. Mit herzlichem Gruß, Euer Padre Alex