Kurzer Blick auf den Ursprung und die Entwicklung des "Ablasses" als Institution der Kirche

Kurzbeitrag zur "Historia Institutorum Iuris Canonici" im ANNUS ACADEMICUS 1996 - 1997

Rom, am 13. Mai 1997

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(Padre Alex)


INHALTSVERZEICHNIS


I. EINFÜHRUNG


II. DIE ENTSTEHUNG DES EIGENTLICHEN ABLASSES UND SEINE INSTITUTIONELLE FORTENTWICKLUNG BIS HEUTE

II./1. Die Zeit der "Vorbereitung" - die ersten Wurzelelemente des Ablasses

II./2. Die Zeit der ersten "Ablässe" im weiteren Sinne und schließlich im eigentlichen Sinne

II./3. Kurze Bemerkungen zu den Ablaßdokumenten

II./4. Weitere Bemerkungen zum heute nicht mehr bestehenden Institut der Quæstoren

II./5. Die weiteren Schritte der Entwicklung des "Ablasses" im eigentlichen Sinne

II./6. Kirchliche Dokumente bis in neueste Zeit und damit bishin zum aktuellen Entwicklungsstand des Ablasses


III. KURZE ZUSAMMENFASSUNG UND ERGEBNISSE


IV. BIBLIOGRAPHIE


V. ANMERKUNGEN


I. EINFÜHRUNG

Zur Erinnerung stellen wir die aktuelle Definition des Ablasses im neuen Codex Iuris Canonici an den Anfang, nämlich Can. 992: "Indulgentia est remissio coram Deo poenæ temporalis pro peccatis, ad culpam quod attinet iam deletis, quam christifidelis apte dispositus et certis ac definitis condicionibus, consequitur ope Ecclesiæ quæ, ut ministra redemptionis, thesaurum satisfactionum Christi et Sanctorum auctoritative dispensat et applicat."

Mich hat diese Institution deshalb interessiert, weil ich zwar sehr viel über die Reformationszeit gehört habe, mir jedoch die genaue Entstehung bisher nicht bekannt war. Die Erfassung des aufgegebenen Themas war nicht immer ganz einfach. Erst Dr. Nikolaus PAULUS hat mit seiner Geschichte des Ablasses im Mittelalter, vom Ursprung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Paderborn, 1922) die Ursprünge und ersten Entwicklungen des Ablasses in aller Klarheit in seinen Werken zum Vorschein gebracht. In den 30er-Jahren widmeten sich später zwei Werke über die Buße von Dr. POSCHMANN indirekt der weiteren Vertiefung des Verständnisses der Ablaß-Einführung in der Kirche. Seit 1948 liegt nun POSCHMANNS Werk über den Ablaß im Licht der Bußgeschichte (Bonn, 1948) vor, das die fundamentalen Bände Dr. PAULUS weiter ergänzt hat.(1) Wir haben all diese fundamentalen Werke aus Zeitgründen nicht direkt benützen können, sondern haben vielmehr nur kürzere Beiträge, die aber aus diesen Werken bereits schöpfen, für die vorliegende Arbeit ausgewertet.



II. DIE ENTSTEHUNG DES EIGENTLICHEN ABLASSES UND SEINE INSTITUTIONELLE FORTENTWICKLUNG BIS HEUTE

Die Institution der Ablässe ist bekanntlich nicht spontan entstanden, sondern hatte von heute aus betrachtet eine lange Vorbereitung und setzt im übrigen mehrere Glaubenswahrheiten voraus, welche wenigstens die Sünde, die zeitliche Sündenstrafe (z. B. DS 1542 f., 1689 - 1691, 1712) und die Gemeinschaft der Heiligen zum Gegenstand haben. Die Institution ist der Entwicklung der kirchlichen Bußdisziplin durchaus organisch entsprungen, so viel können wir schon hier sagen.


II./1. Die Zeit der "Vorbereitung" - die ersten Wurzelelemente des Ablasses(2)

Vom Beginn des Christentums bis zum 6. und 7. Jahrhundert ist der Erhalt der Vergebung der nach der hl. Taufe begangenen Sünden ein langsamer und opfervoller Prozeß. Es ist dies bekanntlich die Epoche der "öffentlichen" Buße. Die Wiederaufnahme und Versöhnung des Pönitenten konnte nicht vor der Erfüllung jenes harten subjektiven Bußetuns geschehen, das der Bischof auferlegt hatte. Tatsächlich können wir sagen, daß man in dieser Zeit noch nicht bewußt oder exakt zwischen der Sünden-Schuld (culpa) und der vor Gott durch die Sünde entstandenen Strafe (poena) unterschied, auch wenn man diese Tatsachen bereits implizit und mehr selbstverständlich-lebensmäßig zur Kenntnis genommen hatte: man zweifelte ja schon bei den ersten klaren Schritten der öffentlichen Umkehr nicht mehr am Seelenheil des jeweiligen Menschen und hielt trotzdem langes Büßen noch für notwendig. "Insofern die Kirche dieses subjektive Büßen des Sünders mindestens schon vom 2. Jahrhundert an unter ihre Aufsicht nahm und je nach der Schwere der Schuld regelte, wurde das Bewußtsein der Vollmacht der individuellen oder generellen Festsetzung von Bußwerken und ihrer Anpassung an den einzelnen Sünder schon sehr früh selbstverständlich."(3)

Die Buße jedenfalls hatte den Zweck der vollständigen Sühne des Sünders, die vollständige Heilung und Reinigung seiner Seele. Die Kirche nahm also außerdem auf die jeweiligen Möglichkeiten und die Dispositionen des Pönitenten individuell Rücksicht, der ja auch von der kirchlichen Gemeinschaft getragen wurde: durch das Gebet der Gläubigen, durch die Fürsprache der Märtyrer (aufgrund derer manchmal bereits ein Teil der Buße erlassen wurde!), durch die liturgischen supplicationes des Priesters über dem Pönitenten, wobei diese als nicht-sakramentale Handlungen von der eigentlichen supplicatio sacerdotalis der abschließenden wirksamen Sündenvergebung gewissermaßen als Krönung der öffentlichen Buße zu unterscheiden sind.(4) Es handelte sich also um eine echte Begleitung des gesamten Bußweges und um eine Vorbereitung auf die Versöhnung.

Die ersten Beispiele jedenfalls einer von seiten des Bischofs vorgezogenen Versöhnung des Sünders finden wir bereits gegenüber den lapsi, die im Zuge der Verfolgungen in die Apostasie gefallen waren. Diese vorverlegte Versöhnung wurde erlangt vor allem durch die Fürsprache von Gläubigen, die im Gefängnis auf ihr Martyrium gewartet oder für den Glauben als Bekenner gelitten hatten. Jenen, die darum baten, wurden daher die sog. libelli pacis übermittelt. Bereits TERTULLIAN (Ad martyres, c. II) kennt diese Praxis und heißt sie im Gegensatz zu den Montanisten gut. Vor allem ist hier die Haltung des Bischofs CYPRIAN von Karthago zu beachten, der in Afrika zunächst mit einer zu leichten und direkten Vergabe seitens der Bekenner zu tun hatte, selbst jedoch eine grundsätzlich barmherzige Haltung in der lapsi-Frage einnahm, wenn nur der jeweilige Bischof als Richter fungierte. Zu Beginn des vierten Jahrhunderts behandelten bekanntlich die Plenarsynode von Ankyra (314) und das Konzil von Nicäa (325) die Frage der lapsi. Sie bestätigen neuerlich, daß der Bischof die Vollmacht habe, die Buße zu mildern und die abschließende Rekonziliation vorzuziehen, insbesondere wenn es sich um gut disponierte Sünder handelte, die ihre Sühne mit Eifer leisteten. Der Unterschied jedenfalls zu den späteren Ablässen lag klarerweise auch darin, daß man die Vergebung der Sündenstrafe aufgrund der Buß-Verdienste des Pönitenten zum Zeitpunkt des bischöflichen Versöhnungseingreifens oft als bereits gegeben annahm.

Vom 7. bis 11. Jahrhundert entwickelt sich dann die sog. "private" Buße, dieser Prozeß der Hervortretens privater Elemente beginnt im Grunde schon mit dem 5. Jahrhundert. Dies hat unter anderem eine Verlegung der Rekonziliation zur Folge, die sich jetzt nämlich nach der hl. Beichte und noch vor Verrichtung der Buße findet, also am Anfang des sakramentalen Bußverfahrens der Kirche. Diese Veränderung führt naturgemäß zu einer klareren Unterscheidung zwischen der durch die Versöhnung nachgelassenen Sünden-Schuld und der Sünden-Strafe. Es konnte gar nicht anders sein, als daß die auferlegte Buße nunmehr klarer zu der durch die Sünden entstandenen zeitlichen Strafe in Beziehung gesetzt wurde, für die vor Gott die Pflicht zur Genugtuung entstanden war. Die körperlichen Abtötungen (vor allem Fasten), in denen die Buße bestand und deren Dauer nun dank der keltischen Missionare genaue "Tarife" kannte, also gemäß den immer weiter verbreiteten Bußbüchern in Tagen, Wochen oder Jahren vorgeschrieben war, konnten durch den Beichtvater im übrigen in gute Werke umgewandelt werden, um der Realität und der einfacheren Möglichkeit der Ausführung von seiten des Pönitenten entgegenzukommen. Diese guten Werke mußten aber natürlich denselben "Wert" haben (Almosen, Pilgerreisen, fromme Stiftungen) - die redemptiones waren letztlich nichts anderes als die Fortsetzung der bereits genannten alten Praxis, die Buße an die realen Möglichkeiten im Falle des Falles anzupassen.

Generell hohe Bußansätze für die einzelnen Sünden bei nun häufigerer Beichte hatten schon bald diese Praxis als Art Gegengewicht erzwungen, die allerdings nun auch zu einer sehr materiellen Konzeption der Genugtuung führte, wenn man z. B. den germanischen Gebrauch des "Wehrgeldes" berücksichtigte, welches das kanonische Recht als Ergänzung zur Buße oder als Hauptstrafe zuließ. Gemäß den Dokumenten des 9. Jahrhunderts scheint sich durch die Unwissenheit und Schlampigkeit des Klerus ein sehr elastisches und mechanistisches Kompensationssystem entwickelt zu haben, daß auch manchmal simonistische Züge annahm und die "Tarife" nicht mehr als unveränderlich ansah. Darum also reagierten einige Synoden gegen die Bußbuch-Disziplin und versuchten, dem die alten kanonischen Regeln entgegenzusetzen. Die Reformsynode von Paris (829) verurteilte beispielsweise überhaupt alle Bußbücher - die alte Bußdisziplin im Sinne der bedeutenden Synode von Ankyra konnte jedoch nicht mehr wirklich angewendet werden, was uns z. B. eine Entscheidung des Nationalkonzils von Tribur zeigt, auf welchem nämlich die als unbegrenzt anzusetzende Buße des Can. 22 Ankyras in Hinblick auf die menschliche Schwachheit abgekürzt wurde.

Die Hilfe seitens der Kirche besteht nunmehr außerdem in den absolutiones. Dieser Name darf jedoch nicht zu einem Irrtum einer eigentlich jurisdiktionellen Absolution verleiten. Als authentische Fortsetzung der alten nicht-sakramentalen, also vorbereitenden priesterlichen supplicationes bestanden diese absolutiones (von GREGOR DEM GROSSEN an) vor allem in einem Fürbittgebet der Kirche, verrichtet mit vollmächtiger Autorität, um von Gott die volle Vergebung der Sünden des Pönitenten und damit auch die Vergebung der durch die Sünden entstandenen Strafschulden zu erbitten. Diese absolutiones wurden also in ihrer Wirksamkeit als von der moralischen Würde und Autorität des Fürbitters abhängig angesehen.(5) Der Unterschied jedoch zu den alten liturgischen supplicationes lag nun darin, daß die absolutiones nicht mehr direkt in den sakramentalen Bußprozeß eingebaut waren, sondern zuvor oder danach erteilt wurden. Viele Päpste und Bischöfe machten von ihnen reichen Gebrauch, sie versandten die absolutiones auch schriftlich in entfernte Gegenden.


II./2. Die Zeit der ersten "Ablässe" im weiteren Sinne und schließlich im eigentlichen Sinne(6)

Im 11. Jahrhundert (zuerst in Frankreich) und im 12. Jahrhundert begannen ohne besondere theologische Reflexion noch mehr als die Päpste die Bischöfe beim Gewähren der beschriebenen außersakramentalen Absolutionsfürbitten, den Gläubigen gleichzeitig einen Teil oder das Gesamte der ihnen durch den Beichtvater auferlegten Buße nachzulassen. Zur außersakramentalen Absolutionsfürbitte trat also ein neues Element hinzu: der partiale oder volle Nachlaß der in der Beichte auferlegten kanonischen Kirchenbuße, ein Nachlaß, der ebenso eine Absolution darstellt, allerdings in einem wesentlich anderen Sinne, nämlich als jurisdiktioneller Akt und im Forum der Kirche. Das sind - so können wir sagen - die ersten bekannten Ablässe.

Dieser Nachlaß ist jedoch im übrigen nicht absolut gratis. Er vollzieht sich in der Form einer Kommutation der Buße in die Verrichtung eines wesentlich einfacheren frommen Werkes. In dieser Hinsicht setzen die ersten Ablässe eigentlich die Redemptionen der vorher beschriebenen Epoche fort. Aber es wird bei der Umwandlung das Prinzip der Gleichwertigkeit aufgegeben, und außerdem ist zu beachten, daß es sich nicht mehr um bloß individuelle Redemptionen handelt, sondern um eine neue Möglichkeit für alle Gläubigen, ohne daß der Beichtvater intervenieren mußte. Noch haben die Ablässe den Aspekt einer Reduktion oder Erleichterung der in der Beichte auferlegten Buße.

Die ersten wirklichen Ablässe waren also "einerseits wirklich ein jurisdiktioneller Akt (Nachlaß der wirklichen kanonischen Buße) und wurden dennoch von Anfang an (wegen der mit diesem jurisdiktionellen Akt verknüpften 'Absolutions'-Fürbitte) als wirksame außersakramentale Tilgung der zeitlichen Sündenstrafen vor Gott betrachtet. Die Verknüpfung beider Akte macht, von der historischen Entwicklung aus gesehen, das Wesen des Ablasses aus. Der Zusammenhang des Ablasses mit dem priesterlichen Interzessionsgebet beim Bußsakrament und mit den Redemptionen und Kommutationen erklärt, warum der Ablaß zunächst nicht als Reservat des Papstes angesehen wurde, sondern von Bischöfen und Beichtvätern in Wahrnehmung ihres Amtes gewährt wurde."(7)

Bereits gegen Ende des 11. Jahrhunderts beginnt die Kirche jedenfalls, den Kreuzfahrern völligen Straferlaß zu verheißen (URBAN II.; Mansi XX 816), und so begannen sich langsam die vollkommenen Ablässe zu entwickeln (siehe später BONIFAZ VIII. und den ersten vollkommenen Jubiläums-Ablaß von 1300). INNOZENZ III. begünstigte im Rahmen des vierten Laterankonzils von 1215 nicht nur die eigentlichen Kreuzfahrer mit einem vollkommenen Ablaß, sondern auch jene, die Hilfsmittel für den Kreuzzug zur Verfügung stellten. Rom meinte jedenfalls, daß die Bischöfe zu leichtfertig Teilablässe vergaben, und daher verbot das Laterankonzil, für den Anlaß einer Kirchweihe mehr als ein Jahr und für den Jahrestag der Weihe mehr als 40 Tage Ablaß zu erteilen.

Interessanterweise setzt man bis 1967 fort, die Ablässe in Tagen, Wochen und Jahren zu zählen, so wie man es noch machte, als die Ablässe wahre Nachlässe der gemäß "Bußtarif" auferlegten Bußen des hohen Mittelalters waren. Aber später, wenn von 40 Tagen, sieben Wochen oder sieben Jahren Ablaß gesprochen wird, muß man darunter verstehen, daß die Kirche den Nachlaß jener zeitlichen Strafe gewähren möchte, die vor Gott abzubüßen wäre und die man früher eben in 40 Tagen, sieben Wochen und sieben Jahren Buße tatsächlich im Forum der Kirche absühnte.

Im 13. Jahrhundert sind sich die Theologen jedenfalls im allgemeinen einig bezüglich der Legitimität der geschilderten Nachlaßpraxis. Zuvor hatten übrigens weder GRATIAN noch PETRUS LOMBARDUS von den Ablässen gesprochen. Und zunächst hatte noch ABAELARD den Bischöfen das Recht auf die Ablaßverleihung abgesprochen, wofür er jedoch von der Synode von Sens zensuriert wurde. Ähnlich ablehnend waren PETRUS VON POITIERS und andere Theologen der Frühscholastik. Vom Ende des 12. Jahrhunderts an wird die Stellung der Theologie positiv, und zwar vor allem im Hinblick auf die überzeugende gläubige Praxis. Bei HUGUCCIO (+ 1210) erscheint der Ablaß zum ersten Mal als jurisdiktioneller Akt in bezug auf die eigentlichen Sündenstrafen vor Gott selbst. Doch war nicht mehr für alle der einfache Rekurs auf die Fürbitte der Kirche ausreichend, um diese Praxis in der Theorie zu begründen. Es war klar, daß im Hinblick auf die göttliche Gerechtigkeit jede Strafe eine angemessene und wirksame Genugtuung verlangte - der Ablaß konnte daher nicht nur als bloße Erleichterung der Buße angesehen werden. Wenn nun der vom Ablaß Begünstigte kein der auferlegten Buße entsprechendes gleichwertiges satisfaktorisches Werk mehr verrichtete, so mußte dieser Mangel doch von anderer Seite suppliert werden. Aber von wo sollte der Ersatz kommen? Die ausdrücklich entwickelte Lehre vom "Schatz" der Kirche (schon bei HUGO VON ST. CHER, 1230) erlaubt dann jedoch die Antwort auf die Frage. Die überreichen Genugtuungen der Heiligen haben einen Kompensationswert, der die nachgelassenen Buße im Sinne der Solidarität ersetzt, welche ja die Glieder des Mystischen Leibes eint. "Jedoch scheint vor der eigentlichen Hochscholastik die Meinung vorherrschend gewesen zu sein, daß der Ablaß seine transzendente Wirkung nicht aus einer direkten Lossprechungsgewalt der Kirche, sondern nur per modum suffragii habe."(8) Als man inspirierterweise zum Gedanken vordringt, daß die hierarchische Kirche einen rechtlichen und jurisdiktionellen auswertbaren Anspruch auf diesen Schatz habe ähnlich der Verfügungsgewalt eines Ordensoberen über die Güter der Gemeinschaft, ist die Lehre über den Ablaß in seinen wesentlichen Grundzügen etabliert. Der "Erlaß der zeitlichen Sündenstrafe, der bisher von der Kirche nur erfleht wurde, so daß daraufhin eine kirchliche Bußauflage erlassen wurde, konnte nun als in einem jurisdiktionellen Akt geschehend gedacht werden, der autoritativ - wie ein Besitzer über sein Vermögen - und so mit unfehlbarer Wirkung über diesen Kirchenschatz verfügt (Albert, Bonaventura, Thomas)."(9) Die Definition beispielsweise des Pariser Professors HENRI DE GAND (+ 1293) könnte noch heute verwendet werden: "Indulgentia est remissio sive relaxatio poenæ temporalis pro peccatis actualibus debitæ relictæ in absolutione sacramentali, facta rationabiliter a legitimo prælato Ecclesiæ in recompensationem ex thesauro Ecclesiæ de supererogatione sive poena indebita justorum proveniens."(10)


II./3. Kurze Bemerkungen zu den Ablaßdokumenten(11)

Die aus dem Frühmittelalter (11. und 12. Jahrhundert) überlieferten Ablaßdokumente bezeichnen mit den Ausdrücken absolutio, remissio, indulgentia zunächst die von einem Träger der kirchlichen Schlüsselgewalt an Gott gerichtete Fürbitte um Verzeihung der Sünden bzw. Sündenstrafen, dann aber auch - wie wir bereits inhaltlich gesehen haben - den Nachlaß einer bestimmten zeitlichen Sündenstrafe. Diese Ablaßbriefe wurden durch Bischöfe und Kardinäle ausgefertigt, vielfach auch von mehreren Bischöfen gemeinsam (litteræ collectivæ). Die ältesten diesbezüglichen päpstlichen Ablaßdokumente stammen jedenfalls aus dem 11. Jahrhundert (vgl. z. B. URBAN II.. auf der Synode von Clermont, 1095). - Ablaßbullen heißen die feierlichen päpstlichen Verkündigungsschreiben der Ablässe.

Von den Ablaßbriefen sind die vornehmlich aus dem Spätmittelalter überlieferten Beichtbriefe (confessionalia), auch litteræ indulgentiales genannt, zu unterscheiden. Entgegen der allgemeinen Vorschrift, dem Pfarrseelsorger zu beichten, berechtigten diese Beichtbriefe den Inhaber, sich einem Beichtvater zuzuwenden, der ihn von allen Sünden - nur wenige päpstliche Reservatfälle ausgenommen - absolvieren konnte. Mit diesen Beichtbriefen konnte auch ein Ablaß verbunden sein: der Beichtvater erhielt die Vollmacht, dem Inhaber einmal im Leben und dann wieder in der Todesstunde im Auftrag des Papstes einen vollkommenen Ablaß zu erteilen. Um in den Besitz eines solchen Briefes zu gelangen, brauchte man bloß die vorgeschriebene Geldspende zu entrichten. Diese Briefe waren jedoch nur von Nutzen bei Vorliegen von Reue und entsprechend gültigem Ablegen der Beichte.

Daß auch der Ausdruck "absolvas a culpa et poena" oder "indulgentia peccatorum" in mittelalterlichen Ablaßbullen und -breven nur den Sinn von Strafnachlaß und nicht von Schuldennachlaß haben kann, hat N. PAULUS in einer Reihe von Arbeiten dargetan, auch wenn TH. BRIEGER beweisen wollte, daß der Ablaß im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts durch die römische Kurie in einen Schuldenerlaß umgewandelt worden sei.(12)


II./4. Weitere Bemerkungen zum heute nicht mehr bestehenden Institut der Quæstoren

Ohne Zweifel jedoch versprachen die Quæstoren seit der Zeit CLEMENS V. eben auch im falschen Sinne die remissio a culpa et a poena, was jedoch z. B. in der Dekretale Abusionibus(13) und etwas später von JOHANNES XXII. scharf verurteilt wurde. Leider waren die Strafen nicht immer präzisiert worden, und mancher Bischof setzte die päpstlichen Verbote kaum durch, wenn es um den Bau einer Kathedrale ging (siehe das Beispiel von Utrecht im Jahre 1327).

Die Ablaßprediger oder Almosenprediger oder quæstores(14), bisweilen auch Stationierer genannt, weil man die von ihnen veranstalteten Versammlungen mit dem Begriff statio bedachte, sind als direkt mit dem Ablaß zusammenhängendes Institut in den vorliegenden Quellen erst am Anfang des 12. Jahrhunderts erwähnt, auch wenn die Existenz der Almosenablässe bereits im 11. Jahrhundert an ihren diesbezüglich früheren Einsatz denken läßt. Durch ihr Treiben haben sie also bekanntlich öfters zu bittersten Klagen Anlaß gegeben. Zahlreiche Synoden suchten ihre Ausschreitungen zu verhindern. Schon das Laterankonzil von 1215 hatte verlangt, daß sie päpstliche oder bischöfliche Briefe bei sich tragen und nicht über ihre Auflagen hinausgehen sollten. Da aber alle Verordnungen nichts halfen(15), wurde das Institut der Quæstoren vom Trienter Konzil 1562 vollständig aufgehoben.


II./5. Die weiteren Schritte der Entwicklung des "Ablasses" im eigentlichen Sinne(16)

Auf Bitten von Gläubigen gewährte - wie schon kurz erwähnt - BONIFAZ VIII. für das Jahr 1300 "ad basilicas ipsas accedentibus reverenter, vere poenitentibus et confessis, vel qui vere poenitebunt et confitebuntur ... non solum plenam et largiorem, immo plenissimam omnium suorum ... veniam peccatorum"(17), was alle 100 Jahre wiederholt werden sollte. Die Gläubigen aus ganz Europa reagierten enthusiastisch und überfüllten Rom. CLEMENS VI. fixierte daher 1343 diese Jubiläen für alle 50 Jahre und URBAN VI. 1389 für alle 30 Jahre. Zum vollkommenen Ablaß der Kreuzzüge und des Jubiläums kamen im Lauf des 14. Jahrhunderts dann jene mit den confessionalia verbundenen hinzu, die in dieser Arbeit bereits unter II./3. behandelt wurden.

In der weiteren Entwicklung vollzieht sich also im Verständnis des Ablasses eine Absetzung von der in der Beichte auferlegten Buße. Immer mehr wurde der Ablaß nun als gnadenvoller Nachlaß dieser Strafen gesehen, zeitlicher Strafen, von denen alle aufgrund der täglichen läßlichen Sünden, aufgrund einer sündenzugeneigten Gebrechlichkeit betroffen seien. In dieser Perspektive konnten die Ablässe nun durch die Kirche in ausgedehnter Weise gewährt und von allen gewonnen werden, auch wenn es nicht mehr um den Nachlaß einer direkt auferlegten Buße ging. Aus denselben Gründen wurde (vom hl. THOMAS an) die Ablaßverleihung immer unabhängiger vom Bußsakrament und ein päpstliches Reservat, weil nur vom Papst (oder abhängig von ihm) über den Kirchenschatz in rechtlicher Weise verfügt werden konnte, "während früher, als es sich wesentlich auch (nicht nur!) um eine Nachlassung einer kirchlichen Bußauflage gehandelt hatte, alle, die diese Buße verhängten (Beichtväter oder wenigstens Bischöfe), Ablässe kraft eigener Gewalt erteilen konnten."(18)

Was das fromme Werk betrifft, das durch den Ablaß vorgeschrieben wird, welches ja im Ursprung eine gemilderte Umwandlung der in der Beichte auferlegten Buße darstellte, verarmt auch dieses in bestimmter Hinsicht. Es wird nun zur Kondition, um den Ablaß gewinnen zu können, worin nunmehr die Interpretation den Ansporn der Kirche in Richtung Mitglieder erblicken konnte, eifrig gute Werke zu verrichten. Es war jedenfalls eine Häufung der Ablässe bei immer kleineren Werken festzustellen. Auch ist hier nochmals an die seit dem 11. Jahrhundert praktizierten Almosenablässe zu erinnern, die im Spätmittelalter wegen ihres materiellen Nutzens für kirchliche Zwecke bekanntermaßen maßlos vermehrt wurden und so als eine beliebige und bequeme Geldquelle galten, die oft simonistisch mit theologischen Leichtfertigkeiten und Übertreibungen von den sog. Ablaßpredigern ausgeschöpft wurde, wie das Konzil von Trient sogar ausdrücklich feststellte (Mansi XXXIII 193 f.; vgl. auch DS 1820). Jedenfalls sind zahlreiche Kirchen, Spitäler und Brücken mit solchen Beiträgen erbaut worden. Man weiß ja, daß LUTHER seine Revolte anlaßmäßig auch gegen den Ablaß richtete, den LEO X. ab 1515 zum Auftreiben der notwendigen Summen für die Peterskirche in Rom gewährte.

Schließlich, nachdem also die Ablässe nicht mehr in erster Linie reale Ermäßigungen der persönlich auferlegten Buße darstellten, sondern nur mehr den Nachlaß der vor Gott abzubüßende zeitlichen Strafe, war es fast logisch und normal, daß von Lebenden gewonnene Ablässe an die Seelen der Verstorbenen weitergeleitet werden wollten. Theologen und Kanonisten lehrten ja schon bald die Zuwendbarkeit an die Seelen der Verstorbenen (vgl. z. B. den hl. THOMAS, In IV dist. 45 q. 2 a. 2 sol. 2; Suppl. q. 71 a. 10). Die ersten diesbezüglichen päpstlichen Ablaßbewilligungen erscheinen jedoch offiziell erst in der Mitte des 15. Jahrhunderts. CALIXTUS III. ermutigt zum Kreuzzug gegen die Mauren mit einem vollkommenen Ablaß, gewinnbar für die Seelen im Fegefeuer. SIXTUS IV. sah in einer Bulle am 3. August 1476 zum Peterskirchenbau ebenfalls einen vollkommenen Ablaß vor, den Seelen per modum suffragii zuwendbar.

Die bekannten Mißbräuche wurden zwar kritisiert, aber die Ablässe blieben äußerst populär, sodaß anläßlich der Ablaßpredigten Volksmengen die Kirchen bevölkerten. Außerdem war die vor dem Ablaß vorgesehen Beichte zweifellos auch Quelle der moralischen Erneuerung, und die Jubiläen waren ohne Zweifel wirksames Symbol der Einheit der Christenheit. Schließlich halfen die eingesammelten Geldmittel oft Werken des Allgemeinnutzens. Viele christliche Aktionen im eigentlichen Sinn konnten nur dank der Ablässe durchgeführt werden, so z. B. die Befreiung festgehaltener Pilger oder von Gefangenen. Aber es war eben auch dieser Erfolg, der zu den Mißbräuchen führte.

Am 9. Nov. 1519 verurteilte jedenfalls LEO X. die Thesen LUTHERS, auch wenn er anerkannte, daß bestimmte Ordensleute nicht gedeckte Lehren verkündeten. Er unterschied ausdrücklich zwischen der Gewährung von Ablässen an Lebende per modum absolutionis und der Applikation auf die Seelen der Verstorbenen per modum suffragii.


II./6. Kirchliche Dokumente bis in neueste Zeit und damit bishin zum aktuellen Entwicklungsstand des Ablasses(19)

Das Konzil von Trient hat über die Natur der Ablässe selbst dogmatisch nichts dargelegt. Es begnügte sich, den Gebrauch der Ablässe zu dekretieren als "christiano populo maxime salutarem", der beibehalten werden muß und verurteilte jene, welche die Ablässe "inutiles esse asserunt, vel eas concedendi in Ecclesia potestatem esse negant" (DS 1835). Außerdem - ohne daß eine Definition vorliegt - ist die Existenz eines Schatzes der Kirche ausreichend vom ordentlichen Lehramt dargelegt (DS 1025 - 1027, CLEMENS VI. schon 1342; DS 1448 und 1467, LEO X. in den Jahren 1518 und 1520; DS 2641, PIUS VI. im Jahre 1794), um als theologisch sichere Lehre gelten zu können.

Im Jahre 1562 dekretierte jedenfalls PIUS IV. durch die Bulle Decet romanum pontificem, daß alle weiteren Konzessionen "gratis" seien würden. Im Jahre 1567 hob dann der hl. Papst PIUS V. in der Bulle Etsi Dominus alle Almosenablasse auf, und am 2. Jänner 1569 setzte er die Exkommunikation für jene fest, die mit den Ablässen Handel treiben wollten, was noch im CIC 1917 zum Can. 2327 mit der Strafe einer dem Papst einfach reservierten Exkommunikation führte. Im Jahre 1593 setzte CLEMENS VIII. eine Kardinalskommission ein, um weitere Mißbräuche in der Materie der Gewährung und Anwendung der Ablässe zu vermeiden. PAUL V., der Mitglied dieser Kardinalskommission gewesen war, wollte aus der Kommission dann ein eigenes Dikasterium machen. Erst CLEMENS IX. errichtete die Indulgenz- und Reliquienkongregation mit dem Motu Proprio In ipsis pontificatus vom 6. Juli 1669. 1855 hatte PIUS IX. der Kongregation das Recht verliehen, Ablässe zu gewähren, was jedoch wieder 1897 durch LEO XIII. zurückgenommen wurde. Jedenfalls hatte 1883 auf Anordnung desselben Papstes die Kongregation eine offizielle Kollektion ihrer Entscheidungen seit Bestehen veröffentlicht.(20)

Durch das Motu Proprio Quæ Ecclesiæ vom 28. Jänner 1904 vereinigte dann der heilige Papst PIUS X. die Indulgenz- und Reliquienkongregation mit der Ritenkongregation, die zwar beide ihre eigenen Bereiche behielten, allerdings einen einzigen Kardinalpräfekten hatten. PIUS X. entschied im Rahmen der Kurienreform dann, die Ablaßsachen an das Heilige Offizium zu übergeben, bald darauf übertrug dies jedoch BENEDIKT XV. mit dem Motu Proprio Alloquentes vom 25. März 1917 an die Heilige Pönitentiarie. 1908 war also endgültig die eigene Indulgenzkongregation aufgelöst worden.(21) Der CIC 1917 bot zum ersten Mal in der Kirchengeschichte eine übersichtliche Gesamtgesetzgebung zur Frage an (l. III, pars I, tit. IV, cap. 5, Cann. 911 - 936) und handelte darin über die Gewährung und Gewinnung von Ablässen. Bis zur nachkonziliaren Reform - so kann zudem festgestellt werden - existierten praktisch keine wichtigeren frommen Übungen, Gebete und Werke, die nicht zumindest mit einem partialen Ablaß belohnt wurden.

PAUL VI., der sich einer gewissen Problematik "Ablaß in unserer Zeit" bewußt war, beauftragte die kompetente Pönitentiarie mit der Ausarbeitung eines Reformprojektes. Während der vierten Periode des II. Vatikanischen Konzils nützte man die zeitliche Möglichkeit, das Projekt den Vätern vorzulegen. Die theologischen Prinzipien jedoch des ersten Teiles des Reformdokumentes sollen die Väter jedoch nicht begeistert angenommen haben.(22) Nach weiterer Arbeit hat die Apostolische Konstitution Indulgentiarum doctrina vom 1. Jänner 1967 die letzten kleineren Entwicklungen im Bereich des Ablaßwesens mit sich gebracht. Dieser Konstitution ging eine Konsultation der Bischofskonferenzen voraus. Die neue Konstitution hat vor allem die persönliche Kooperation des Gläubigen bei der Gewinnung des Ablasses neu bewertet. Es sollte ein größerer geistlicher Gewinn aus den Ablässen gewonnen werden. Die Unterscheidung zwischen vollkommenen und partialen Ablässen wurde beibehalten, wenn auch der Teilablaß nicht mehr in antiker Weise in Tagen, Wochen oder Jahren angegeben werden sollte, was aber - wie wir bereits gesehen haben - in den vergangenen Jahrhunderten nur noch ein symbolisches Überbleibsel der nicht mehr geübten Bußdisziplin des Hochmittelalters darstellte. Der Papst hat vorgezogen, als neues Maß jenes zu wählen, "iuxta quam actio ipsa consideratur christifidelis, qui opus indulgentia ditatum perficit." (Kap. V/Nr. 12)(23) Darum entstand auch kurz danach die neue Indulgenz-Norm Nr. 5: "Christifideli qui, corde saltem contritus, peragit opus indulgentia partiali ditatum, tribuitur ope Ecclesiæ tantadem poenæ temporalis remissio, quantam ipse sua actione iam percipit."(24)

Anders gesagt, der Nachlaß der zeitlichen Strafe, den der Gläubige durch seine Handlung gewinnt, wird in gewisser Weise durch die Intervention der Kirche verdoppelt, die ja dem Werk noch einen Teilablaß anhängt. Diese Intervention der Kirche verleiht also der Aktion des Gläubigen, die an sich schon satisfaktorisch ist, einen noch größeren Wert der Genugtuung. Außerdem variert natürlich die Tiefe dieser satisfaktorischen Wirkung je nach Disposition des Gläubigen. Was nun die vollkommenen Ablässe betrifft, so ist die Anzahl reduziert worden, "ut christifideles indulgentiæ plenariæ æquam æstimationem faciant et eam, debitis ornati dispositionibus, acquirere valeant." (Kap. V/Nr. 12) Ebenso wurden die an Objekte (realen) und Orte gebundenen (lokalen) Ablässe stark reduziert und gleichzeitig ihr Name aufgegeben, "quo clarius constet indulgentiis ditari christifidelium actiones, non vero res vel loca, quæ sunt tantum occasiones indulgentias acquirendi." (Kap. V/Nr. 12)(25)

Mit dem Enchiridion indulgentiarum vom 15. Juni 1968 wurden die Normen der Konstitution für die Praxis verdeutlicht. Viele alte Ablässe wurden gestrichen, auch weil es ab nun drei neue Ablaßgewährungen genereller Art gibt, welche die Werke der Frömmigkeit, Liebe und Buße betreffen. Man wollte so bei den Ablässe das "opus operantis" stärker betonen als die lange Liste der dem gewöhnlichen Leben manchmal entfernteren Praktiken im Geiste des "opus operatum". Allerdings ist das Wissen und der Gebrauch der Ablässe nach Beobachtung des Autors trotzdem extrem zurückgegangen, was mit der mangelnden Katechese, aber auch und vor allem mit der allgemeinen Krise der Bußpraxis und des gelebten Glaubens überhaupt zu tun hat. Nur noch wenige Gläubige wissen damit etwas anzufangen, selbst viele praktizierende Gläubige z. B. auch in sog. neuen Bewegungen. Wenn überhaupt, so trifft man den aktiven Gebrauch der Ablässe bei noch eher traditionell verbliebenen oder wieder verstärkt traditionell formierten Katholiken und in eben solchen Orten und Gemeinschaften. Im Durchschnitt wird von manchen Seelsorgern höchstens noch zu Allerseelen eine Verkündigung gemacht, weil immerhin noch in vielen liturgischen Direktorien daran erinnert wird. Auch scheinen heute nur wenige Beichtväter an die geistlich und eschatologisch wertvolle Möglichkeit der Ablässe zu erinnern, auch wenn klar ist, daß die Ablässe nicht das wichtigste und schon gar nicht das einzige Mittel des entwickelten geistlichen Lebens darstellen werden können.



III. KURZE ZUSAMMENFASSUNG UND ERGEBNISSE(26)

Wir haben also gesehen, daß die Kirche zweifellos von Anfang an kraft der ihr von Christus verliehenen Vollmacht reuigen Sündern die Bußzeit abgekürzt und Bußstrafen erlassen hat. Diese in den ersten christlichen Jahrhunderten üblichen Bußerlässe, besonders jene, die mit Rücksicht auf die Fürbitte der Märtyrer gewährt wurden, können nur insofern als "Ablässe" bezeichnet werden, als der Ausdruck "Ablaß" eben vieldeutig ist. Man darf also den großen Unterschied nicht übersehen zwischen dem Bußerlassen der alten Kirche und den heutigen Ablässen. Jene Bußerlässe wurden von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der einzelnen Pönitenten gewährt, zudem waren sie auf das innigste verknüpft mit der kirchlichen Rekonziliation oder der sakramentalen Absolution. Generelle, außerhalb des Bußsakramentes erteilte Ablässe lassen sich erst im 11. Jahrhundert nachweisen. Namentlich waren es die frühmittelalterlichen Bußbücher mit ihren für die einzelnen Sünden bestimmten Bußtarifen, die den generellen Bußerlässen die Wege bereiteten. Da die einzelnen Sünden zudem in der Regel mit hohen Strafen belegt waren, mußte daher durch Redemptionen und später durch generelle Ablässe entgegengekommen werden. So hat sich also der Ablaß in der heutigen Form allmählich aus der frühmittelalterlichen Praxis entwickelt, wobei zunächst bloß ein Teil der Bußzeit erlassen wurde, während gegen Ende des 11. Jahrhunderts anläßlich der Kreuzzüge vollständiger Straferlaß verheißen wurde. Seit dieser Zeit wurden die Ablaßbewilligungen nach und nach immer zahlreicher, wie auch die geforderten Leistungen allmählich sehr herabgesetzt wurden. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts gibt es echte päpstliche Ablaßbewilligungen für die Seelen im Fegefeuer. Schließlich wurde der Ablaß in der glaubensmäßigen Praxis also nur noch als Nachlaß der auch nach der hl. Beichte verbliebenen zeitlichen Sündenstrafen betrachtet - die Zeitangabe bei den Teilablässen blieb also dann reine Erinnerung an die alte Bußdisziplin, und dies sogar bis 1967. Die somit entstandenen Ablässe im eigentlichen Sinne erfreuten sich durchaus hoher Wertschätzung und hatten für das Frömmigkeitsleben eine große Bedeutung, auch im Sinne eines Ansporns und auch nach der Reformationszeit, die jedoch zum endgültigen Verschwinden der Almosenablässe zweifellos mit beitrug und damit auch zum Verschwinden des Quæstoreninstitutes. - Der neue CIC 1983 (Cann. 992 - 997) hat zwar die Gesamtgesetzgebung im Hinblick auf die Existenz des Enchiridion indulgentiarum (1968) verkürzt, definitionsmäßig hat sich jedoch an der Institution des Ablasses kaum etwas geändert. Zweifellos steht der Ablaß in seinen Grundlagen auch auf einer erst später entdeckten Verwaltungsvollmacht göttlichen Rechtes, nämlich jener der Kirche und in ihr jener der Hierarchie, die den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen autoritativ verwaltet und zuwendet. Die Möglichkeit, zeitliche Sündenstrafen nachzulassen, ist eindeutig göttlichen Rechtes - nur die genauen Bedingungen und Weisen konnten und können auch in Zukunft durch das kirchliche Recht geregelt werden. M. E. ist es aber trotz der späten Entwicklung des eigentlichen Ablasses im heutigen Sinne undenkbar, daß das Institut der Ablässe als solches gestrichen werden könnte. Heute gilt es jedenfalls, den Ablaß in Katechese und Praxis wiederzugewinnen.

IV. BIBLIOGRAPHIE

IV./1. Konsultierte Quellen:

Abusionibus, in: CORP. IUR. CAN., Clement., lib. V., tit. IX., "De poenitentiis et remissionibus", cap. II, ed. Friedberg. vol. II, 1190 f.

Antiquorum, in: CORP. IUR. CAN., Extrav. Comm., lib. V., tit. IX., "De poenitentiis et remissionibus", cap. I, ed. Friedberg. vol. II, 1304.

***** *****

THOMAS V. AQUIN, In IV dist 45 q. 2 a. 2, in: S. Thomae Aquinatis opera omnia (1 =) In quattuor libros sententiarum, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, 654 f.

THOMAS V. AQUIN, Suppl. q. 71 a. 10, in: La Somma Teologica. Traduzione e Commento a Cura dei Domenicani italiani. Testo Latino dell'Edizione Leonina (XXXII), Rom 1972, 117 - 119.

***** *****

[DS =].Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, quod primum edidit Henricus Denzinger et quod funditus retractavit auxit notulis ornavit Adolfus Schönmetzer S. I., Editio XXXVI emendata, Barcellona - Freiburg i . B. - Roma 361976 (= stato di 1965).

ENCHIRIDION INDULGENTIARUM. Normæ et concessiones, Vatikan 3/1986.


IV./2. Konsultierte Autoren:

ADNÈS P., Art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et Histoire (VII), Paris 1971, 1713 - 1728, vor allem 1717 - 1720.

AUBERT R., Art. "INDULGENCES ET RELIQUES (CONGRÉGATION DES)", in: Dictionnaire d'Histoire et de Géographie Ecclésiastiques (XXV), Paris 1995, 1105.

CHIRAT H., Les Origines et la Nature de l'Indulgence d'après une publication récente, in: Revue des Sciences Religieuses (Strasbourg), 28. J., Nr. 1 (Jänner 1954) 39 - 57.

GALTIER P., De Pænitentia. Tractatus dogmatico-historicus, Paris 1923, vor allem 467 - 472 (Brevis Historia Indulgentiarum).

GALTIER P., Les indulgences: origine et nature, à propos d'un ouvrage récent (POSCHMANN [B.]: Der Ablass im Licht der Bussgeschichte [Bonn, 1948, in-8, VII-122 pp.), in: Gregorianum. Commentarii de re theologica et philosophica editi a professoribus Pontificiæ Universitatis Gregorianæ, Vol. XXXI, 2 (1950) 258 - 274.

HORN St. O., Art. "Ablaß", in: BÄUMER R./SCHEFFCZYK L. (Hrsg.), Marienlexikon herausgegeben im Auftrag des INSTITUTUM MARIANUM REGENSBURG (I), St. Ottilien 1988, 15 f.

Art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire d'Histoire et de Géographie Ecclésiastiques (XXV), Paris 1995, 1104.

JOMBART É., Art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire de Droit Canonique (XXX), Paris 1953, 1331 - 1352, vor allem 1333 - 1336.

MAGNIN E., Art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire de Thèologie Catholique contenant l'exposé des doctrines de la théologie catholique. Leurs preuve et leur histoire (VII), Paris 1922, 1594 - 1636.

PAULUS N., Art. "Ablaß (indulgentia, absolutio, remissio, relaxatio)", in: Lexikon für Theologie und Kirche. Zweite, neubearbeitete Auflage des kirchlichen Handlexikons (I), Freiburg i. B. 1930, 32 - 36.

RAHNER K. - HÖDL L. - ANTWEILER A., Art. "Ablaß", in: Lexikon für Theologie und Kirche. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage (I), Freiburg i. B. 1957, 46 - 54.


V. ANMERKUNGEN

(1) Vgl. P. GALTIER, Les indulgences: origine et nature, à propos d'un ouvrage récent (POSCHMANN [B.]: Der Ablass im Licht der Bussgeschichte [Bonn, 1948, in-8, VII-122 pp.]), in: Gregorianum. Commentarii de re theologica et philosophica editi a professoribus Pontificiae Universitatis Gregorianae, Vol. XXXI, 2 (1950) 258; vgl. H. CHIRAT, Les Origines et la Nature de l'Indulgence d'après une publication récente, in: Revue des Sciences Religieuses (Strasbourg), 28. J., Nr. 1 (Jänner 1954) 39 - 57.

(2) Vgl. P. ADNÈS, art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et Histoire (VII), Paris 1971, 1717 f.; vgl. K. RAHNER, art. "Ablaß", in: Lexikon für Theologie und Kirche. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage (I), Freiburg i. B. 1957, 48; vgl. E. MAGNIN, art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire de Thèologie Catholique contenant l'exposé des doctrines de la théologie catholique. Leurs preuve et leur histoire (VII), Paris 1922, 1594 ff; vgl. É. JOMBART, art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire de Droit Canonique (XXX), Paris 1953, 1334.

(3) RAHNER (1957) 48.

(4) Vgl. GALTIER (1950) 259 - 261; der hl. Leo schrieb: "Indulgentia Dei nisi supplicationibus sacerdotum nequit obtineri" (Epist. 108, II; PL 54. 1011 - zit. nach GALTIER [1950] 259) und: "Peccatorum reatus ... supplicatione sacerdotali solvitur" (Epist. 108, III; PL 54.1012 B - zit. nach GALTIER [1950] 260).

(5) Vgl. GALTIER (1950) 261.

(6) Vgl. ADNÈS (1971) 1718; vgl. RAHNER (1957) 48 f.; vgl. MAGNIN (1922) 1606 f.; vgl. JOMBART (1953) 1334 f.

(7) RAHNER (1957) 49.

(8) RAHNER (1957) 49 f.

(9) RAHNER (1957) 50.

(10) Quod., 1. XV, q. XIV (zit. nach MAGNIN [1922] 1611, der wiederum aus E. GÖLLER, Ausbruch, etc., 68, Anm. 3, schöpft. Den offensichtlichen Abschreibfehler "rationalibiter" habe ich ausgebessert.)

(11) Vgl. L. HÖDL, art. "Ablaß", in: LThK (1957) 53 f.; vgl. N. PAULUS, art. "Ablaß (indulgentia, absolutio, remissio, relaxatio)", in: LThK (1930) 35; vgl. MAGNIN (1922) 1613.

(12) Vgl. J. B. SÄGMÜLLER, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechtes, Freiburg i. B. 1904, 443, Anm. 1.

(13) CORP. IUR. CAN., Clement., lib. V., tit. IX., "De poenitentiis et remissionibus", cap. II, ed. Friedberg. vol. II, 1190 f.

(14) Vgl. PAULUS (1930) 35.

(15) MAGNIN (1922) 1610 zitiert z. B. das Konzil von Béziers (1246): "Praecipimus quod quaestores non permittantur in ecclesiis aliud populo praedicare quam in indulgentiis domini papae et sui dioecesani litteris continetur ..." (zit. wiederum nach HARDOUIN, Concil., t. VII. col. 408).

(16) Vgl. ADNÈS (1971) 1718 f.; vgl. RAHNER (1957) 50 f.; vgl. PAULUS (1930) 35; vgl. MAGNIN (1922) 1612 ff.; vgl. JOMBART (1953) 1335 f.

(17) Antiquorum, in: CORP. IUR. CAN., Extrav. Comm., lib. V., tit. IX., "De poenitentiis et remissionibus", cap. I, ed. Friedberg. vol. II, 1304.

(18) RAHNER (1957) 50.

(19) Vgl. ADNÈS (1971) 1719 f.

(20) Rescripta authentica S. Congregationis indulgentiis sacrisque reliquiis praepositae ab anno 1668 ad annum 1882, Regensburg (Pustet) 1883.

(21) Vgl. R. AUBERT, art. "INDULGENCES ET RELIQUES (CONGRÉGATION DES)", in: Dictionnaire d'Histoire et de Géographie Ecclésiastiques (XXV), Paris 1995, 1105; vgl. JOMBART (1953) 1336 ff.

(22) Vgl. Art. "INDULGENCES", in: Dictionnaire d'Histoire (1995) 1104 (dort werden angegeben R. LAURENTIN, Bilan du Concile, Paris 1966, 141 - 152, sowie A. WENGER, Vatican II. Chronique de la Ive session, Paris 1966, 414 - 25).

(23) ENCHIRIDION INDULGENTIARUM. Normæ et concessiones, Vatikan 3/1986, 110.

(24) ENCHIRIDION (1986) 21.

(25) Zitiert immer aus dem ENCHIRIDION (1986) 110.

(26) Vgl. eine gute Zusammenfassung bei PAULUS (1930) 34.


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