Manchmal ist es gut, nicht selbst die Arbeitsaufträge auszusuchen. So erhielt ich wieder einmal die Bitte, ein Buch zu rezensieren, das ich sonst sicherlich nie gelesen hätte. Es hat sich gelohnt - es handelt sich um
Sebastiano VILLEGGIANTE, Ciullo d'Alcamo e il Diritto Canonico Matrimoniale, Libreria Editrice Vaticana, Città del Vaticano 2004, 105 Seiten, Kostenpunkt: EUR 20,--. Hier mein sicher fehlbares Ergebnis:
Der italienische Durchschnittsstudent wird sich vielleicht fragen, was der im 16. Jahrhundert von Angelo COLOCCI einem Cielo d'Alcamo bzw. Ciullo d'Alcamo zugeschriebene "Contrasto" (auch nach den ersten Worten benannt: "
Rosa fresca aulentissima") mit dem kirchlichen Eherecht zu tun haben könnte. In der Tat liefert Rota-Anwalt Sebastiano VILLEGGIANTE, emeritierter Professor für Prozeßrecht, mit der bei der Libreria Editrice Vaticana untergebrachten Arbeit, versehen mit einem Vorwort von
Prälat Giuseppe SCIACCA, Auditor der Rota, eine für manche offenbar überraschende neue Interpretation des sizilianischen Liebes-Streitgesprächs aus dem 13. Jahrhundert. Ehrlicherweise betont VILLEGGIANTE in einer kurzen Einleitung (vgl. S. IX), daß er nur den ihm vorliegenden Text des "Contrasto" und seinen Inhalt zum Ausgangspunkt genommen hat und sich die Behandlung damit verbundener und schon von vielen diskutierten literaturwissenschaftlichen Fragestellungen bewußt ersparen wollte. Von daher gibt es auch keine Erklärung, warum sich VILLEGGIANTE im Gegensatz zur Seite 87 des Buches (dort beginnt der Anhang mit dem eingescannten "Contrasto"/Cod. Vat. N. 3793, und hernach folgt die moderne Übersetzung durch Giuseppe COTTONE) im gesamten anderen Text und im Titel für die Namensform "Ciullo" statt "Cielo" entscheidet. Ebenso sieht VILLEGGIANTE beispielsweise keine Notwendigkeit, vom Standpunkt des kanonischen Eherechts auf eine neuere, wenn auch minoritär vertretene Interpretation der ersten beiden Verse des "Contrasto" (vgl. Giovanni R. RICCI,
L'interpretazione rimossa. I primi due versi del "Contrasto" di Cielo d'Alcamo. I quaderni di gazebo 3, Firenze, 1999) einzugehen, da hier angeblich eine gesellschaftlich nicht ungewöhnliche Art von (potentieller) Bisexualität angesprochen sein könnte: "
Rosa fresca aulentissima, c'apari inver la state, le donne ti desiano, pulzell'e maritate" ("
Frische wohlriechendste Rose, die Du den Sommer erstehen läßt, die Frauen verlangen nach Dir, Jungfrauen und Ehefrauen", Strophe I). Vielmehr wird der Leser schon auf Seite 3 mit der Arbeitshypothese VILLEGGIANTES konfrontiert: unabhängig davon, daß der genannte Ciullo den "Contrasto" zu Ehren Katharinas von Marano, der wahrscheinlich
per rescriptum principis legitimierten Tochter Friedrichs II. (König von Sizilien, 1198 - 1250), geschrieben haben könnte, die im Mai 1247 den Markgrafen von Savona, Jacopo von Carretto, heiratete, deuteten im Text selbst der Schwur als Verdeutlichung des Ehekonsenses, die öffentliche "Form" der (Hochzeits)zelebration, die Anerkennung des werbenden Mannes (Bräutigams) als Herrn unmittelbar nach dem Erweis des Konsenses und die daran sofort anschließende Einladung der Umworbenen zum Vollzug auf das Vorliegen eines Eheschlusses hin. Die Arbeit VILLEGGIANTES gliedert sich in zwei Teile und zwölf kurze Kapitel. Zunächst wird die Unangemessenheit der bisherigen Interpretation des "Contrasto" herausgestellt, dann wird der Frage nach der spezifischen Art der (jeweils) im Text erkennbaren Liebe nachgegangen, weiters wird in mehreren Kapiteln die Form des Eheschlusses nach unterschiedlichem Gesichtspunkt behandelt, und schließlich wird die juridische Auswirkung des Eheschlusses herausgestellt, aber auch versucht, bei Ciullo einen Rechtsbegriff zu orten.
VILLEGGIANTE wehrt sich also gegen eine seiner Meinung nach bisher verkürzende Interpretation, daß es nämlich beim "Contrasto" nur um die verzehrende Sehnsucht des Verliebten nach der vollen fleischlichen Einigung mit seiner Geliebten ginge, die diesem Verlangen am Ende einfach nachgäbe (tatsächlich endet der "Contrasto" mit ihren - von VILLEGGIANTE als Anerkennung ihrer nunmehrigen ehelichen Pflichten gewerteten - Worten: "
A lo letto ne gimo a la bonura, Chè chissa cosa n'è data in ventura" ["
Gehen wir also ohne weiteres ins Bett, da dies für uns vorgesehen ist"], XXXII). Primär ginge es in Wirklichkeit um die sich anbahnende personale bräutliche Liebe. Denn nur so wäre der "Contrasto" ein echtes Loblied auf die Brautleute. Die Grundfrage ist daher: ging es Ciullo nur um die geschlechtsgebundene Liebe oder umfassender um die bräutliche Liebe? Für VILLEGGIANTE ist von Anbeginn klar, daß die letzten drei Absätze des "Contrasto" (XXX - XXXII) eine damals übliche "Form" des Eheschlusses belegen. Der künstliche Liebesstreit in den Strophen zuvor wird einfach poetisch dadurch bewirkt, daß die Braut den Bräutigam in seiner Werbung mißversteht und nicht sogleich erkennen will, daß es ihm nicht nur um eine sexuelle Ebene geht, sondern um eine echte und dauerhafte Ehe, innerhalb derer die volle Vereinigung vielmehr am ehelichen
officium naturae teilhat. Wobei VILLEGGIANTE die oft heftig ausgedrückte Liebessehnsucht des Mannes als literarische Übertreibung verstanden wissen möchte: daß der Werbende nur triebgesteuert bzw. sogar nekrophil wäre, sei vom Gesamtkontext her ausgeschlossen, auch wenn er - eben übertreibend - ausrufe (XXV): "
Se tu nel mare gititi, donna cortese e fina, ... poi c'anegaseti, trobareti, a la rina: ... con teco m'aio a giongiere a pecare." ("
Wenn Du Dich ins Meer wirfst, liebenswürdige und feine Dame, ... und ich Dich dann tot im Sand finden werde: ... werde ich mich mit Dir vereinigen, um zu sündigen".) Die wahre Intention des konsenswilligen Mannes würde der konsenswilligen Frau offenbar erst nach seinem Schwur klar. VILLEGGIANTE stellt nachvollziehbar fest: ohne das langanhaltende Mißverständnis zwischen den Brautleuten gäbe es weder den "Contrasto" noch die damit verbundene Beschreibung der damals möglichen "Form" der Hochzeit.
Zweifellos kann die neuartige, durchaus logische und streckenweise sehr überzeugend dargelegte Interpretation des "Contrasto" dem Literaturwissenschaftler eine notwendige Horizonterweiterung bringen - was aber bringt das Werk dem Kanonisten oder Richter? Im Grunde nichts Neues. Anhand des vorliegenden Liebesdialoges bzw. Hochzeitsliedes werden bekannte Grundsätze des Eherechtes bzw. der Rechtsprechung mit passenden Zitaten des heiligen Thomas oder der Rota-Rechtsprechung in Erinnerung gerufen. Knapp wird man zusammenfassen können: normalerweise genügt die klassische Liebesheirat, um auch gültig zu heiraten - Simulationen sind in diesem Fall sehr unwahrscheinlich. Wobei trotz der Interpretationsargumente des Autors, daß im gesamten Text alle Wesenseigenschaften der Ehe angesprochen sind (vgl. 71 f.), für den "Contrasto" selbst nicht mit Absolutheit ausgeschlossen werden kann, daß ein erkennbarer (Ehe)konsens in Wirklichkeit nur den dichterischen bzw. äußerlich-simulatorischen Rahmen für die zu erlangende Befriedigung des leidenschaftlichen Vereinigungsverlangens darstellt. VILLEGGIANTE erinnert jedoch daran, daß es im 13. Jahrhundert noch keine substantiell vorgeschriebene "Form" des Eheschlusses gab: Priester und Zeugen waren nicht nötig, als Sakramentenspender galten damals wie heute die Brautleute. Von daher rührt scheinbar auch die Blockade bei der heute gängigen Interpretation, den "Contrasto" nicht als echtes Hochzeitslied aufzufassen. VILLEGGIANTE sieht sich somit auch genötigt, die noch nicht weitgehend genug in Richtung bräutlicher Liebe gehende "Contrasto"-Interpretation von Giuseppe BARONE (vgl. 29 - 33 und 51 - 55) zu kritisieren: "
Egli (der junge Bräutigam, Anm. v. Verf.)
è preso sì dalla passione, ma come presupposto indefettibile di un autentico amore umano diretto alla costituzione di un matrimonio tra due battezzati, aperto alle generanda prole. Ed a ben vedere, dello stesso amore era presa anche lei che, dopo il rituale giuramento di matrimonio, non esita a dichiarare al suo sposo: 'io tutta quanto ardo' (Cfr. Contrasto, XXXII, 156): il giuramento chiesto da lei e prestato da lui non la incendia del fuoco d'amore all'improvviso, ma fa venir meno tutte le remore che, tenendola come avvinghiata, avevano trattenuto e quasi temperato ogni suo slancio d'amore." (29 f.)
Man wird aber doch die Frage stellen dürfen, ob sich das bisher mehrheitlich überlieferte Verständnis des "Contrasto" und die neue Interpretation VILLEGGIANTES eigentlich ausschließen müssen, ob also nicht in Wirklichkeit beide Interpretationen friedlich zusammengeführt werden können und der ein wenig sensationell wirkende Gegensatz einfach nur von daher rührt, daß sich bisher kein Kanonist des Textes und der geschichtswissenschaftlich präzisen Herausfilterung juridischer Elemente eines möglichen Eheschlusses angenommen hätte. Gegen BARONE hält VILLEGGIANTE daher fest, daß im Text schließlich nicht nur eine private Übereinkunft zwischen zwei Verliebten ohne juridische Bedeutung getroffen, sondern vom damaligen Zelebrationsverständnis her eindeutig eine echte Ehe geschlossen würde, auch wenn eine
benedictio sacerdotis abgeht, die aber bekanntlich den Ehekonsens und somit die naturgemäße Unauflöslichkeit der Ehe selbst nicht tangiert. Der Schwur auf das Evangelium ("
Lo vangiele, carama, ch'io le portto in sino; ... Sovr'esto libro juroti, mai non ti vengno mino. Arcompli mi' talento in caritate" ["
Das Evangelium, meine Liebste, trage ich an meiner Brust, ... auf dieses Buch schwöre ich Dir, nie werde ich Dich verlassen. Erhöre meinen Wunsch in Liebe"], XXXI) genügte damals als ein sicherer Beweis des Konsenses zwischen Getauften, und die radikale Haltungsänderung der Frau im "Contrasto" hernach beweise, daß ihre (damals nicht selbstverständliche) Bitte nach einem öffentlichen Eheschluß in einem sicherlich bevölkerten Schloß offenbar erfüllt worden wäre. "
E mentre lui giura e lei gli trasferisce la potestà sul proprio corpo invitandolo ad andare a letto, Ciullo per bocca della sposa evidenzia l'officium naturae (Cfr. S. Thomas, Scriptum super Sententiis, lib. 4 dist. 26, art. 2: 'matrimonium est instititutum ad procreationem prolis ... competit ei quod sit in officium naturae: matrimonium non est tantum remedium contra peccatum, sed est principaliter in officium naturae' ...): un modo eccellente per esaltare il connubium, e implicitamente la persona dei due sposi ai quali l'epitalamio veniva offerto." (55) Für VILLEGGIANTE steht daher fest, daß Ciullo d'Alcamo nicht nur den Verdienst hat, in italienischer Volkssprache geschrieben zu haben, sondern daß er auch als offenbar doch gebildeter Mann die rechtliche Struktur der Ehe und das kanonische Recht im Sinne des Decretum Gratiani und der Dekretalen von Gregor IX. kennen mußte.
VILLEGGIANTE hat sich mit dieser originellen und übersichtlichen Arbeit - er publiziert schon seit 1959 - einen weiteren Verdienst für die Bekanntmachung der kirchlichen Rechtswissenschaft, aber auch ihrer präzisen Methoden und Beurteilungskriterien erworben. Das Buch kann daher unter anderem als professionelles Beispiel dafür gelten, wie eine Liebes- bzw. Ehegeschichte von kirchlichen Anwälten oder Richtern zur rechtlichen Beurteilung herangezogen wird und wie sich das kanonische Recht interdisziplinär einbringen kann. (
ENDE DER REZENSION)
In diesem Sinne hoffe ich, das gesamte sizilianische Hochzeitslied noch ins Deutsche zu bringen. Vielleicht findet sich eine talentierte Person, die dann diese erste Übersetzung auch noch zu einem poetisch schönen Lied umformen kann ;-)
Auch dem Internetprojekt von
http://www.padre.at hat der Papstwahlmonat April 2005 neue Rekordzugriffe erbracht, dazu in Kürze wie immer in der
Statistik. Herzlichen Gruß und gesegneten Christi-Himmelfahrtstag wünscht Euch allen Euer Padre Alex - Mag. Mag. Dr. Alexander Pytlik
P. S. Zur gesamten Thematik paßt gut die Fragestellung,
was eigentlich Liebe ist.