Thursday, February 28. 2013
ZUM RECHTSKRÄFTIGEN RÜCKTRITT VON ... Posted by Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
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20:00
Comments (0) Trackback (1) ![]() ZUM RECHTSKRÄFTIGEN RÜCKTRITT VON PAPST BENEDIKT XVI.
Seine Heiligkeit Benedikt XVI. hat am 11. Februar 2013 nachweislich aus freien Stücken heraus auf das ihm von Gott selbst anvertraute Petrusamt mit Datum vom heutigen 28. Februar und mit der in Rom geltenden Uhrzeit 20.00 Uhr verzichtet, sodaß ab jetzt der Stuhl des heiligen Apostelfürsten Petrus leer (vakant) ist und die geltenden Bestimmungen zur Erwählung eines neuen Papstes volle Beachtung finden müssen. Da das Papstamt keine sakramentale Weihe (kein Sakrament) ist, bleibt es dem Träger auch nach seinem Amtsverzicht nicht so wie die heilige Taufe, die heilige Firmung und die drei Stufen des heiligen Weihesakramentes (Diakon, Priester, Bischof) erhalten. Sakramental ist der Papst immer Bischof, nämlich als Papst der Bischof von Rom, nunmehr jedoch emeritierter Diözesanbischof von Rom bzw. emeritierter Papst, und vom Sakrament her ist er katholischer Bischof ohne Regierungsaufgaben. Wenn Benedikt Joseph Ratzinger nun weiterhin als "Heiligkeit" angesprochen wird und auch eine weiße Soutane tragen sollte, so ist dies von der sakramentalen Struktur und vom göttlichen Recht in der Kirche Christi, daß es immer nur einen Papst geben kann, vielleicht schwer verständlich. Ich verstünde es eher vom völkerrechtlichen Standpunkt her: immerhin ist der Papst die einzige natürliche Person der Welt, welche auch Völkerrechtssubjekt ist, was normalerweise nur Staaten sind, nicht jedoch der Staat der Vatikanstadt, denn dieser ist dem Vatikan, dem Heiligen Stuhl unterstellt, und eben dieser Heilige Stuhl ist Völkerrechtssubjekt, und er war es auch, als es kein "staatliches" Territorium gab. Und eben der Heilige Stuhl ist der Papst. Nur von dieser internationalen Ebene her könnte ich also verstehen, daß auch gegenüber anderen Völkerrechtssubjekten und Präsidenten es angemessen sein könnte, daß er äußerlich nicht völlig zurückgestuft wird, sondern als Emeritus auch noch äußere Zeichen tragen darf, die mit seinem zu 100 % verlorengegangenen Petrusamt zusammenhängen.
Mit den am 10. Februar 2013 vorformulierten lateinischen Worten trat Papst Benedikt XVI. zurück (entnommen der mittlerweile in sieben Sprachen übersetzten Declaratio vom 11. Februar 2013, vgl. auch das Video): "Fratres carissimi! Non solum propter tres canonizationes ad hoc Consistorium vos convocavi, sed etiam ut vobis decisionem magni momenti pro Ecclesiae vita communicem. Conscientia mea iterum atque iterum coram Deo explorata ad cognitionem certam perveni vires meas ingravescente aetate non iam aptas esse ad munus Petrinum aeque administrandum. Bene conscius sum hoc munus secundum suam essentiam spiritualem non solum agendo et loquendo exsequi debere, sed non minus patiendo et orando. Attamen in mundo nostri temporis rapidis mutationibus subiecto et quaestionibus magni ponderis pro vita fidei perturbato ad navem Sancti Petri gubernandam et ad annuntiandum Evangelium etiam vigor quidam corporis et animae necessarius est, qui ultimis mensibus in me modo tali minuitur, ut incapacitatem meam ad ministerium mihi commissum bene administrandum agnoscere debeam. Quapropter bene conscius ponderis huius actus plena libertate declaro me ministerio Episcopi Romae, Successoris Sancti Petri, mihi per manus Cardinalium die 19 aprilis MMV commisso renuntiare ita ut a die 28 februarii MMXIII, hora 20, sedes Romae, sedes Sancti Petri vacet et Conclave ad eligendum novum Summum Pontificem ab his quibus competit convocandum esse. Fratres carissimi, ex toto corde gratias ago vobis pro omni amore et labore, quo mecum pondus ministerii mei portastis et veniam peto pro omnibus defectibus meis. Nunc autem Sanctam Dei Ecclesiam curae Summi eius Pastoris, Domini nostri Iesu Christi confidimus sanctamque eius Matrem Mariam imploramus, ut patribus Cardinalibus in eligendo novo Summo Pontifice materna sua bonitate assistat. Quod ad me attinet etiam in futuro vita orationi dedicata Sanctae Ecclesiae Dei toto ex corde servire velim." In der vom Heiligen Stuhl angebotenen deutschen Übersetzung lauten diese Worte so: "Liebe Mitbrüder! Ich habe euch zu diesem Konsistorium nicht nur wegen drei Heiligsprechungen zusammengerufen, sondern auch um euch eine Entscheidung von großer Wichtigkeit für das Leben der Kirche mitzuteilen. Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewißheit gelangt, daß meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben. Ich bin mir sehr bewußt, daß dieser Dienst wegen seines geistlichen Wesens nicht nur durch Taten und Worte ausgeübt werden darf, sondern nicht weniger durch Leiden und durch Gebet. Aber die Welt, die sich so schnell verändert, wird heute durch Fragen, die für das Leben des Glaubens von großer Bedeutung sind, hin- und hergeworfen. Um trotzdem das Schifflein Petri zu steuern und das Evangelium zu verkünden, ist sowohl die Kraft des Körpers als auch die Kraft des Geistes notwendig, eine Kraft, die in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen hat, daß ich mein Unvermögen erkennen muß, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen. Im Bewußtsein des Ernstes dieses Aktes erkläre ich daher mit voller Freiheit, auf das Amt des Bischofs von Rom, des Nachfolgers Petri, das mir durch die Hand der Kardinäle am 19. April 2005 anvertraut wurde, zu verzichten, so daß ab dem 28. Februar 2013, um 20.00 Uhr, der Bischofssitz von Rom, der Stuhl des heiligen Petrus, vakant sein wird und von denen, in deren Zuständigkeit es fällt, das Konklave zur Wahl des neuen Papstes zusammengerufen werden muß. Liebe Mitbrüder, ich danke euch von ganzem Herzen für alle Liebe und Arbeit, womit ihr mit mir die Last meines Amtes getragen habt, und ich bitte euch um Verzeihung für alle meine Fehler. Nun wollen wir die Heilige Kirche der Sorge des höchsten Hirten, unseres Herrn Jesus Christus, anempfehlen. Und bitten wir seine heilige Mutter Maria, damit sie den Kardinälen bei der Wahl des neuen Papstes mit ihrer mütterlichen Güte beistehe. Was mich selbst betrifft, so möchte ich auch in Zukunft der Heiligen Kirche Gottes mit ganzem Herzen durch ein Leben im Gebet dienen." Damit steht fest, daß der vormalige Papst Benedikt XVI. so, wie vom Kirchenrecht (vgl. can. 332 § 2 CIC bzw. can. 44 § 2 CCEO, vgl. auch Universi Dominici Gregis, Nr. 77) und zur Gültigkeit eines solchen Rücktritts verlangt, frei gehandelt hat und diese seine Entscheidung auch hinreichend kundgemacht wurde. Was für mich eine Besonderheit darstellt, weil wir das in den kirchenrechtlichen Studien nie bedacht oder behandelt hatten und weil ich mir auch nicht vorstellen kann, daß es schon einmal in der Kirchengeschichte einen solchen terminierten Papstrücktritt gegeben hätte, ist eben die konkrete Frist vom 11. bis 28. Februar 2013, also als Papst im Präsens zu sagen, daß man zurücktrete, jedoch die Rechtskraft dieses Rücktritts erst 17 Tage später eintreten zu lassen. (Auch von daher bin ich der Ansicht, daß sämtliche historischen Vergleiche mit zurückgetretenen Päpsten nicht wirklich möglich sind.) Diese konkrete Festlegung eines Rücktrittstermines steht dem Papst kraft göttlichen Rechtes zweifellos zu, aber ich weiß nicht, ob schon jemand spekulativ an eine solche Vorgehensweise gedacht hatte. Wir hatten beim Studium immer gehört, daß ein Papst mit der freien und öffentlichen Erklärung seines Rücktrittes auch sofort sein Petrusamt vollständig verliere. Damit aber wurde insofern kirchenrechtliches Neuland betreten, als plötzlich die Möglichkeit im Raum stand, daß Benedikt XVI. noch bis um 19.59 Uhr diese seine Rücktrittserklärung widerrufen hätte können. Bekanntlich ist der Papst - abgesehen von Heiligsprechungen - bei Personalentscheidungen nicht unfehlbar, auch nicht was eine solche auf ihn selbst bezogene Entscheidung betrifft. In den kirchenrechtlichen Lehrbüchern war jedoch überall nachzulesen, daß ein Rücktritt nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, weil eben offensichtlich immer davon ausgegangen wurde, daß ein solcher Papst nach seiner Erklärung automatisch sein Amt verlieren würde, was ja auch weiterhin stimmt. Hätte Benedikt XVI. keinen Zeitpunkt genannt, dann wäre er nach den oben zitierten lateinischen Worten sofort seines Amtes verlustig gegangen, und noch am 11. Februar hätte alles für die Wahl des neuen Papstes vorbereitet werden müssen. Zwar war der von Benedikt XVI. gewählte Zeitraum von mehr als zwei Wochen sicherlich der richtigen Interpretation seines Rücktritts und einer gewissen "Verdauungsphase" auf allen Ebenen der Kirche (und der Welt) dienlich, aber ich sehe trotzdem bei solchen Fristen (um so länger sie laufen würden) einige Risiken, nämlich kirchenpolitischer Art, daß also bestimmte Gruppen noch bis zum letzten Moment versuchten, "ihre Leute" an diese und jene Stellen zu bringen, bevor die Sedisvakanz eintrete. Ja, ich gebe es ehrlich zu: schon am 11. Februar 2013 hat mir dieser konkrete, terminierte Rücktritt nicht gefallen, auch wenn mir kein Urteil zusteht und ich die Entscheidung des früheren Papstes Benedikt XVI. voll und ganz respektiere und als Katholik auch respektieren muß. Persönlich werde ich immer gegen einen Papstrücktritt sein, und in der Kirchenrechtswissenschaft wurde immer schon von einem sehr schwerwiegenden Grund ausgegangen, der notwendig wäre, um als Inhaber des Petrusamtes guten Gewissens auf sein Amt zu verzichten. Hinzu kommt für mich einfach die ganz normale Frage des "Insiderwissens": wer hat es zuerst gewußt, wer hat dementsprechend noch gehandelt, hoffentlich mehr im Guten. Die Frage stellt sich für mich auch deshalb, weil Bruder Georg Ratzinger schon vor Monaten in die Pläne seines Bruders eingeweiht worden sein soll, auf das Amt des Papstes zu verzichten. Andere wiederum gehen gewissermaßen von einer gemeinsamen Entscheidung aus, oder sie meinen als zuverlässige Analysten, daß dieser Schritt beim letzten Papst einfach immer schon zu erwarten war, doch es sei immer um den richtigen Zeitpunkt gegangen. Sie berufen sich auch auf eines der wichtigsten Bücher zum Verstehen des früheren Papstes, nämlich auf das Interviewbuch "Licht der Welt". Und doch bleibe ich bei meiner Meinung: diese Institution göttlichen Rechtes darf niemals in absoluter Weise an "Power"-Bedingungen physischer oder psychischer Art gebunden sein. Ich widerspreche auch den Schriftstellern Martin Mosebach und Eberhard Wagner, denn der selige Johannes Paul II. konnte sehr wohl und praktisch bis zum Schluß seinen Willen klar kundtun. Ich erinnere an das noch begangene Jubiläumsjahr 2000, ich erinnere an die 2001 in seiner Hauptverantwortung vorgenommene Verschärfung der kirchenrechtlichen Bestimmungen gegen (sexuellen) Mißbrauch, und ich erinnere nicht zuletzt an seine Entscheidung für eine Apostolische Visitation des Bistums St. Pölten in dem Jahr vor seinem Tod. Obschon dann eine immer größere Mehrheit von Gläubigen und Nichtchristen, ja die klar vernehmbare Mehrheit von Kirche und Welt die Rücktrittsentscheidung von Benedikt XVI. nach vielen Maßstäben bis zum letzten Augenblick würdigte, sah sich derselbe dann aber doch verpflichtet, seinen Schritt zu verdeutlichen und auch zu rechtfertigen. Ähnlich wie bei der vorletzten (geographisch einseitig empfundenen) Berufung von Kardinälen müssen also auch ernstzunehmende kritische Stimmen eingelangt sein, vor allem wegen des noch laufenden Jahres des Glaubens und wegen der nicht mehr veröffentlichten Enzyklika über die göttliche Tugend des Glaubens. Am wichtigsten empfinde ich dabei seine gestrige Ansprache zur letzten Generalaudienz vor hunderttausenden Gläubigen, also genau einen Tag vor dem Eintreten der Rechtskraft des Amtsverzichtes. Dabei sagte Benedikt XVI., daß er die Kreuzesnachfolge keinesfalls aufgebe und auch nicht in eine Art "Privacy" zurückkehre: "Als ich am 19. April vor fast acht Jahren eingewilligt habe, den Petrusdienst zu übernehmen, hatte ich die feste Gewißheit, die mich immer begleitet hat: diese Gewißheit, daß die Kirche lebt und zwar aus dem Wort Gottes. Wie ich schon mehrmals erzählt habe, vernahm ich in meinem Innern diese Worte: 'Herr, warum verlangst du das von mir, und was verlangst du von mir? Es ist eine große Last, die du mir auf die Schultern legst, aber wenn du es von mir verlangst, werde ich auf dein Wort hin die Netze auswerfen, in der Gewißheit, daß du mich leiten wirst, auch mit all meinen Schwächen.' Und acht Jahre danach kann ich sagen, daß der Herr mich wirklich geführt hat, er ist mir nahe gewesen, täglich habe ich seine Gegenwart wahrnehmen können. Es war eine Wegstrecke der Kirche, die Momente der Freude und des Lichtes kannte, aber auch Momente, die nicht leicht waren; ich habe mich gefühlt wie Petrus mit den Aposteln im Boot auf dem See Gennesaret: der Herr hat uns viele Sonnentage mit leichter Brise geschenkt, Tage, an denen der Fischfang reichlich war, und es gab Momente, in denen das Wasser aufgewühlt war und wir Gegenwind hatten, wie in der ganzen Geschichte der Kirche, und der Herr zu schlafen schien. Aber ich habe immer gewußt, daß in diesem Boot der Herr ist, und ich habe immer gewußt, daß das Boot der Kirche nicht mir, nicht uns gehört, sondern ihm. Und der Herr läßt sie nicht untergehen; er ist es, der sie lenkt, sicherlich auch durch die Menschen, die er erwählt hat, denn so hat er es gewollt. Das war und ist eine Gewißheit, die durch nichts verdunkelt werden kann. Und das ist der Grund, warum mein Herz heute voll Dankbarkeit gegenüber Gott ist, weil er es der ganzen Kirche und auch mir nie an seinem Trost, seinem Licht, seiner Liebe hat fehlen lassen. (...) Ein Papst ist nicht allein bei der Leitung des Bootes Petri, auch wenn er der Hauptverantwortliche ist. Ich habe mich beim Tragen der Freude und der Last des Petrusdienstes nie allein gefühlt; der Herr hat mir viele Menschen zur Seite gestellt, die mir mit Großherzigkeit und Liebe zu Gott und zur Kirche geholfen haben und mir nahe waren ... auch ich war unterschiedslos allen und jedem zugeneigt mit jener pastoralen Liebe, die das Herz jedes Hirten ist, vor allem des Bischofs von Rom, des Nachfolgers des Apostels Petrus. Jeden Tag habe ich jeden von euch mit väterlichem Herzen ins Gebet mit hineingenommen (...) An dieser Stelle möchte ich sehr herzlich auch den vielen Menschen aus aller Welt danken, die mir in den letzten Wochen bewegende Zeichen der Zuwendung, der Freundschaft, des Gebets geschickt haben. Ja, der Papst ist nie allein – das erlebe ich nun noch einmal in großer, das Herz berührender Weise (...) In diesen letzten Monaten habe ich gespürt, daß meine Kräfte nachgelassen haben, und ich habe Gott im Gebet angefleht, mich mit seinem Licht zu erleuchten, um mir zu helfen, die Entscheidung zu fällen, welche nicht für mein eigenes Wohl, sondern für das Wohl der Kirche die richtigste ist. Ich habe diesen Schritt im vollen Bewußtsein seines schwerwiegenden Ernstes und seiner Neuheit, aber mit einer tiefen Seelenruhe getan. Die Kirche zu lieben bedeutet auch, den Mut zu haben, schwierige, durchlittene Entscheidungen zu treffen und dabei immer das Wohl der Kirche und nicht sich selbst im Auge zu haben. - Lassen Sie mich da noch einmal auf den 19. April 2005 zurückkommen. Das Schwere der Entscheidung lag gerade auch darin, daß ich nun vom Herrn immer und für immer beansprucht war. Immer – wer das Petrusamt annimmt, hat kein Privatleben mehr. Er gehört immer und ganz allen, der ganzen Kirche. Sein Leben wird sozusagen ganz entprivatisiert. Ich durfte erleben und erlebe es gerade jetzt, daß einem das Leben eben darin geschenkt wird, daß man es weggibt. Vorhin habe ich davon gesprochen, daß die vielen Menschen, die den Herrn lieben, auch den Nachfolger des heiligen Petrus lieben und ihm zugetan sind. Daß er wirklich Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter rundum auf der ganzen Welt hat und in ihrer Gemeinschaft geborgen ist. Weil er nicht mehr sich selber gehört, gehört er zu allen, und alle gehören zu ihm. - Das 'immer' ist auch ein 'für immer' – es gibt keine Rückkehr ins Private. Meine Entscheidung, auf die aktive Ausführung des Amtes zu verzichten, nimmt dies nicht zurück. Ich kehre nicht ins private Leben zurück – in ein Leben mit Reisen, Begegnungen, Empfängen, Vorträgen usw. Ich gehe nicht vom Kreuz weg, sondern bleibe auf neue Weise beim gekreuzigten Herrn. Ich trage nicht mehr die amtliche Vollmacht für die Leitung der Kirche, aber im Dienst des Gebetes bleibe ich sozusagen im engeren Bereich des heiligen Petrus. Der heilige Benedikt, dessen Name ich als Papst trage, wird mir da ein großes Vorbild sein: Er hat uns den Weg für ein Leben gezeigt, das aktiv oder passiv ganz dem Werk Gottes gehört. - Ich danke allen und jedem auch für den Respekt und das Verständnis, mit dem ihr diese so wichtige Entscheidung aufgenommen habt. In Gebet und Besinnung werde ich den Weg der Kirche weiterhin begleiten, mit jener Hingabe an den Herrn und seine Braut, die ich bis jetzt täglich zu leben versucht habe und die ich immer leben möchte. Ich bitte euch, vor Gott meiner zu gedenken und vor allem für die Kardinäle zu beten, die zu einer so bedeutenden Aufgabe gerufen sind, und für den neuen Nachfolger des Apostels Petrus: Der Herr begleite ihn mit dem Licht und der Kraft seines Geistes. - Erbitten wir die mütterliche Fürsprache der Jungfrau Maria, der Mutter Gottes und der Kirche, daß sie jeden von uns und die ganze kirchliche Gemeinschaft begleite; ihr vertrauen wir uns an, in tiefer Zuversicht. - Liebe Freunde! Gott leitet seine Kirche, er stützt sie immer, auch und vor allem in den schwierigen Momenten. Verlieren wir niemals diese Sicht des Glaubens, die die einzig wahre Sicht des Weges der Kirche und der Welt ist. Möge in unserem Herzen, im Herzen eines jeden von uns immer die frohe Gewißheit herrschen, daß der Herr uns zur Seite steht, uns nicht verläßt, uns nahe ist und uns mit seiner Liebe umfängt. Danke!" Drei Tage zuvor hatte er beim Gebet des "Engel des Herrn" den zahlreich versammelten Gläubigen gesagt, daß er die Kirche nicht verlasse: "Darüber hinaus bedeutet das Gebet nicht, sich von der Welt und ihren Widersprüchen abzusondern, wie dies Petrus auf dem Tabor gern getan hätte, sondern das Gebet führt zurück auf den Weg, zurück zum Handeln. »Das christliche Leben«, so habe ich in der Botschaft für diese Fastenzeit geschrieben, »besteht darin, den Berg der Begegnung mit Gott immer wieder hinaufzusteigen, um dann, bereichert durch die Liebe und die Kraft, die sie uns schenkt, wieder hinabzusteigen und unseren Brüdern und Schwestern mit der gleichen Liebe Gottes zu dienen« (Nr. 3). - Liebe Brüder und Schwestern, ich fühle, wie dieses Wort Gottes in diesem Augenblick meines Lebens besonders an mich ergeht. Der Herr ruft mich, den »Berg hinaufzusteigen«, mich noch mehr dem Gebet und der Betrachtung zu widmen. Doch dies bedeutet nicht, daß ich die Kirche im Stich lasse, im Gegenteil. Wenn Gott dies von mir fordert, so gerade deshalb, damit ich fortfahren kann, ihr zu dienen, mit derselben Hingabe und mit derselben Liebe, wie ich es bis bislang versucht habe, doch auf eine Weise, die meinem Alter und meinen Kräften angemessener ist. Bitten wir um die Fürsprache der Jungfrau Maria: sie helfe uns allen, im Gebet und in der tätigen Liebe immer Jesus, dem Herrn, zu folgen." Und bereits zwei Tage nach der Erklärung seines Rücktritts hatte Benedikt XVI. bei der Generalaudienz am 13. Februar 2013 gesagt: "Liebe Brüder und Schwestern! Wie ihr wißt, habe ich mich dazu entschlossen, auf das Amt, das mir der Herr am 19. April 2005 anvertraut hat, zu verzichten. Ich habe dies in voller Freiheit zum Wohl der Kirche getan, nachdem ich lange gebetet und vor Gott mein Gewissen geprüft habe. Ich bin mir des Ernstes dieses Aktes sehr bewußt, aber ich bin mir ebenso bewußt, nicht mehr in der Lage zu sein, das Petrusamt mit der dafür erforderlichen Kraft auszuüben. Mich trägt und erleuchtet die Gewißheit, daß es die Kirche Christi ist und der Herr es ihr nie an seiner Leitung und Sorge fehlen lassen wird. Ich danke euch allen für die Liebe und für das Gebet, mit dem ihr mich begleitet habt. [Applaus] Danke! Ich habe in diesen für mich nicht leichten Tagen gleichsam physisch die Kraft des Gebets verspürt, die mir die Liebe der Kirche, euer Gebet bringt. Betet weiter für mich, für die Kirche und für den kommenden Papst. Der Herr wird uns leiten." Es gibt möglicherweise noch weitere Zitate des früheren Papstes, welche seine Rücktrittsmotivation während der von ihm gewählten Frist ähnlich verdeutlichen wie die soeben übernommenen Redeausschnitte. Als besonders schön und wichtig empfinde ich in diesem Zeitraum jedenfalls seinen frei gehaltenen lebendigen Rückblick auf die Zeit seiner Mitarbeit am XXI. Ökumenischen Konzil der Katholischen Kirche, am II. Vatikanischen Konzil, die zum jetzigen Zeitpunkt auf der Internetseite des Heiligen Stuhles leider noch nicht in Deutsch vorliegt. (Das ist auch ein leiser Vorwurf von meiner Seite: bis heute ist es offenbar nicht gelungen, daß die deutsche Sprache bei den Dokumenten des Heiligen Stuhles beispielsweise und ausnahmslos immer gleichzeitig mit der englischen, spanischen und französischen Übersetzung vorliegt.) Auch wenn Benedikt XVI. im letzten Moment (am 22. Februar mit Rechtskraft am 25. Februar 2013) leichte Modifzierungen an der für die Erwählung des Papstes relevanten Apostolischen Konstitution seines seligen Vorgängers vornahm, so liegt der in Rom wirkende Professor P. David-Maria Jaeger OFM richtig, daß es bisher kein Gesetz für einen "emeritierten Papst" bzw. einen emeritierten Diözesanbischof von Rom gebe. Es geht dabei auch um Vorrechte und die Frage einer Immunität. Man erinnere sich aber beispielsweise auch an den Fall der zurückgezogenen Einstweiligen Verfügung gegen das deutsche Satiremagazin "Titanic": der Rückzug erfolgte ja primär aus völkerrechtlichen Gründen, denn ein Völkerrechtssubjekt (= der Papst) kann sich unmöglich den Gesetzen eines anderen Völkerrechtssubjekts (= Deutschland) unterstellen, als ob er gewissermaßen eine "gewöhnliche Privatperson" mit staatsbürgerlichen Rechten wäre. Nun jedoch schaut die Sache anders aus, denn Benedikt XVI. ist nicht mehr der Heilige Stuhl und nicht mehr Inhaber des Petrusamtes: jetzt wäre eine solche Klage bis zum Schluß denkbar und durchziehbar und müßte doch mit dem (neuen) Papst abgesprochen werden, ja präzise gesprochen: der emeritierte Pontifex ist dem neuen Papst gegenüber zum Gehorsam verpflichtet. Und genau das hat er heute den Kardinälen gesagt: "Und unter Euch, dem Kardinalskollegium, ist auch der künftige Papst, dem ich schon heute meine Verehrung und meinen Gehorsam ohne Bedingungen verspreche." Noch viele Fragen könnte man hier ansprechen, die sich nun ergeben oder die schon diskutiert wurden. So wurde behauptet, daß der Rücktritt des Papstes das Petrusamt entsakralisiere (vgl. beispielsweise die Wortmeldungen der beiden wahlberechtigten deutschsprachigen Kardinäle Walter Kasper und Rainer Maria Woelki, des Historikers Prof. Thomas Großbölting und des Denkers Eberhard Wagner). Ja, man könnte von solchen inner- und außerkirchlichen Kommentaren her sogar fragen, ob nicht sogar diese Entscheidung dem eigenen Aufruf einer Entweltlichung der Kirche widerspreche, denn schließlich kann ein Amt göttlichen Rechtes wie jenes des Papstes niemals auf der Ebene eines UNO-Generalsekretärs gesehen werden, weder vom Auftrag noch vom konkreten Amt her. Doch Benedikt XVI. wollte es keinesfalls so verstanden wissen. Realistisch und kritisch sieht aber auch der bereits in Rom weilende wahlberechtigte Australier George Kardinal Pell den Rücktritt des vormaligen Papstes, der gestern den Abschied des Papstes bei der letzten Generalaudienz als sehr schön und authentisch miterlebte. Pell nahm am Petersplatz zu seiner kritischen Sicht Stellung und erklärte, daß er einfach ähnlich wie Benedikt XVI. die Vorteile und Nachteile einer solchen Rücktrittsentscheidung bedacht habe. Er akzeptiere die Rücktrittsentscheidung natürlich, aber dem Papst wäre sehr bewußt gewesen, daß sein Rücktritt einen Bruch mit der (bisherigen) Tradition darstellte, was zu einer leichten Destabilisierung führe. Aber Benedikt XVI. habe eben gefühlt, daß er aufgrund seiner Krankheit und Schwäche einfach nicht mehr die Kraft habe, die Kirche in diesen herausfordernden Zeiten anzuführen. Und am Beispiel des Kammerdienerverrates und der illegalen Kopien von zahlreichen Dokumenten macht Kardinal Pell fest, daß diejenigen Personen, welche in der unmittelbaren Umgebung für Benedikt XVI. regierten, dies "nicht immer brillant" gemacht haben. ("I think the governance is done by people around the Pope and that wasn't always done brilliantly." Wer Arbeitszeugnisse kennt, weiß, wie diplomatisch hier Pell formuliert.) Benedikt XVI. sei ein herausragender Lehrer gewesen, aber er hätte diese Dokumentenflucht (sowieso) nicht verhindern können. Und völlig richtig stellt Kardinal Pell fest, daß sich die Medienwelt in den letzten zehn Jahren weiter verändert habe: alles werde genauer betrachtet. (Man denke an die Entscheidung von Benedikt XVI., authentifizierte Twitterkonten zu eröffnen.) Wenn durch die Medien Korruption auch in der Kirche aufgedeckt wurde, so sei es eine Hilfe für die Kirche (gewesen). Kardinal Pell selbst wolle jemanden wählen, der zur Tradition der Kirche stehe und insbesondere die Glaubwürdigkeit im moralischen und disziplinären Bereich stärke und der auch fähig sei, die Welt anzusprechen. Er wolle einen Papst, der bereits mit der Regierung einer Diözese gute Erfahrung habe und fähig sei, die Moral der Römischen Kurie zu verbessern. Im Gegensatz zu Kardinal Pell rechne ich jedoch nicht mit einem früheren Beginn des Konklave, sondern ich sehe sogar die seit 25. Februar 2013 geltenden neuen Bestimmungen zur Vorverlegung des Beginns kritisch. Wichtig ist für (katholische) Christen jedenfalls, daß die Erwählung des Papstes kein demokratisch-säkularer Vorgang ist, sondern vielmehr machen die Anrufung des Heiligen Geistes und der ganze Rahmen aus dem genau geregelten Vorgang lediglich das notwendige und veränderbare Instrumentarium, wen Gott zum neuen Petrusnachfolger erwählt habe. Eine ganz eigene und sehr positive Wertung der Rücktrittsentscheidung nimmt indes der österreichisch-ungarische Denker Eberhard Wagner in seinem Blogbuch vor. In den beiden Teilen seines Eintrages (unter dem Titel "Linien der Kontinuität") hat er einmal mehr originelle Gedanken, die nirgendwo so nachlesbar waren oder sind. Es ist eine durchaus harte und fundamentale Kritik, die der Katholischen Kirche in seinen Augen helfen soll. Ich teile einige Punkte seiner Position nicht, vor allem nicht die grundsätzliche Kritik an der Seligsprechung des Vorgängerpapstes Johannes Paul II. (vgl. dazu auch meinen obigen Widerspruch zu Mosebachs Analyse, nach der Johannes Paul II. angeblich gar nicht mehr regieren hätte können), und ebenso ist klar, daß auch die letzten beiden allgemeinen Konzilien der Katholischen Kirche dogmatisch nicht "korrigiert" werden können, sondern es kann nur ein möglicherweise falsches Verständnis der Lehre beider Vatikanischen Konzilien korrigiert werden. Eberhard Wagner hat jedenfalls einige kritische Punkte erfaßt, die tatsächlich zur Krise der Kirche in der heutigen Gesellschaft und vor allem in unserer westlichen Kultur bzw. in der Internetkultur mitbeigetragen haben und immer noch beitragen. Seine positive Würdigung des Papstrücktritts reiht sich nicht opportunistisch in einen allgemeinen Lobes-Chor ein, sondern steht auf einem wesentlich durchdachteren Fundament. Denn es wäre zu wenig, den Rücktritt des Papstes nur gutzuheißen, weil er diese Entscheidung als Papst getroffen habe. Ein blindes Folgen ohne Nachdenken, obschon - wie schon oben gesagt - dieser Rücktrittsentscheidung keine Unfehlbarkeit zukommen kann, hilft der Kirche wenig. Sehr klug und antifundamentalistisch schreibt diesbezüglich übrigens Pater Engelbert Recktenwald in seinem Beitrag vom 15. Februar 2013 mit dem Titel "Zum Streit um den päpstlichen Amtsverzicht": "Eine senile Queen von England tut niemandem weh, ein seniler Papst wäre in der heutigen Zeit für die Kirche eine Katastrophe (...) Die Frage, ob der Papst von einer Möglichkeit Gebrauch macht, die mit der kirchlichen Lehre kompatibel und vom Kirchenrecht ausdrücklich vorgesehen ist, ist keine Frage der Theologie, sondern der Klugheit". Zurück zu Eberhard Wagner, er schreibt zum Abschluß seines ersten Eintrags anläßlich des heute rechtskräftigen Papstrücktrittes: "Die [Anm. von mir: bestimmte fromme Menschen] sofort davon sprechen, daß alles was sie erleben, im historischen Maßstab groß und außergewöhnlich sein muß. Weil sie selbst es ja sind. Also wurde auch Ratzinger sofort zum Superstar erhöht, wird auch sein Pontifikat - noch mehr fast als das seines Vorgängers - sofort zum 'großen Pontifikat' überhöht. Denn wenn es das nicht wäre - dann wäre ihre eigene Heiligkeit beschattet. Deshalb muß auch Benedikt XVI. sofort heiliggesprochen werden, wie man mancherorts hört - und warum? - Ganz offen: weil es für die erwähnte Form der Frömmigkeit gar nicht anders geht als daß alles, womit sie zu tun haben, dem sie das Papsttum (oder die Rechtgläubigkeit etc.) zusprechen (und DAS tun sie nämlich) auch heilig ist. Die Heiligkeit des Papstes Ratzinger ist also nur Ausdruck IHRER Heiligkeit. Ihr Hängen am Papsttum ist nicht Treue. Es ist die Forderung, die sich aus ihrer Selbsteinschätzung ergibt. Und da kann es nur verklärte Gestalten geben, mit denen sie es zu tun haben. Derselbe Grund, warum kaum noch jemand in der Kirche sein Amt ausübt, sein Amt, sondern das Konkrete, das was seine Aufgabe als Mensch wäre, der Gnade überläßt. Das ist eitle Vermessenheit, der wahre Krebsschaden der Kirche. Der sie überall niederreißt, weil das Heilige nicht mehr sichtbar wird. Nur noch die Menschen stehen da, und behaupten, sie wären die Kirche, ganz persönlich. Und ist es nicht seltsam? Dieses 'Wir sind Kirche' eint alle Richtungen, die man als einander widersprechend in der Kirche bezeichnet. Es ist ein Scheinwiderspruch. Die 'Konservativen' und die 'Progressiven' sind nicht unterschieden. Es ist ein Streit unter denselben narzißtischen Charakteren. - Die nirgendwo mehr ihre konkrete Aufgabe erfüllen, dem Wesen ihrer Sendung als Mensch treu bleiben, in allen Formen, Gestalten und Hierarchien. Sondern die sich über die Welt 'hinwegbeten'. Deshalb überall, wo man hinblickt, so katastrophales Versagen. Deshalb überall die Infragestellung fundamentalster Wahrheiten, die nur noch per ständig zu erneuernder Verordnungen halbwegs zurückgedrängt werden können, und müssen. Und Bischöfe, die das nicht tun, was sie zu tun hätten. Lieber Parallelstrukturen aufbauen, in denen sie ihre Phantasien von Frömmigkeit und Neuevangelisierung ausleben können, ohne die wirkliche Bürde ihres Amtes tragen zu müssen. Während sie das Schiff der Kirche allen überlassen, die ans Ruder drängen. Und das sind viele: Eine Kirche, in der der faktische Mensch in den Vordergrund geschoben wurde, muß zwangsläufig zum Karrieristenstadel verkommen. Und in einer solchen Kirche wird auch Gehorsam zur Hörigkeit. Oder zum frechen Ungehorsam. Denn genau dem Gehorsam, der Grundlage alles Erkennens, fehlt das Maß. Er wird in Wahrheit zur Okkupation dessen, dem man angeblich gehorcht, das aber nur dem eigenen Machtrausch dient, wird zum schizoid genutzten, infamen Feigenblatt. Vernunft verkommt zur Logorrhoe einer subjektiven Frömmlerei." Und im zweiten Eintrag geht Eberhard Wagner noch deutlicher auf den Rücktritt von Benedikt XVI. ein und schreibt: "Und deshalb hat Joseph Ratzinger mit seinem Rücktritt, in dem er erklärt, daß seine Natur die spezielle Gnade des Papstamtes nicht mehr tragen kann, seine vielleicht klarste und kräftigste Aussage als Theologe, Philosoph und Papst getätigt. Die den Nerv der Zeit traf, wie nichts sonst aus seiner Amtszeit, die schon aufgrund des Alters des 2005 Erwählten nur als Zwischenpontifikat zu verstehen war. - Ja vielleicht sogar noch viel mehr - ob er es bewußt so sah, oder nicht. Denn ob er es so beabsichtigte oder nicht, so hat er damit einen historischen Schritt gesetzt, indem er eine über hundertjährige Entwicklung, die bei weiten Bevölkerungskreisen zu einer längst unzulässigen Verklärung des Papstes führte, zu einem Ende brachte. Mit einem Schlag hat er eine Nüchternheit aufscheinen lassen, die nur gut sein KANN. Mit einem Akt hat er das Papstamt auf sein ihm zugehöriges realistisches Maß gestutzt, und - hoffentlich - vielerorts Ernüchterung bewirkt. - Der weiß, daß er nicht mehr in der Lage ist, den realen Anforderungen seines Amtes zu genügen. Das im Amt des Regierens, des Ordnens, des Kampfes der Autorität als Dienst an der Einheit besteht, der sich nicht mit frommen Formeln erledigt. Da braucht es konkrete Manneskraft. Denn es geht um das Amt, nicht um seine Person. Der deshalb bescheiden zurücktritt, weil er es real nicht mehr ausfüllen kann. Weil er offenbar noch Respekt vor der Würde hat, die er zu repräsentieren hat. - Wenn es heißt, daß sein Rücktritt historisch problematische Folgewirkungen haben könnte, indem nämlich das Papstamt 'entsakralisiert' wird, so ist das in dieser Hinsicht absolut wünschenswert. Indem die Kirche selbst nicht auf das faktische Vorhandensein ihrer Glieder eingeschränkt wird, sondern über allem ihre wahre, noch ungewirklichte Gestalt, der nie verstummende Anspruch neu gesehen wird (...) Damit aber wäre seine Entscheidung wirklich wegweisend, und viel deutlicher, als viele wahrhaben wollen: Denn Benedikt XVI. zerreißt damit (ob bewußt oder nicht) auch diesen unsäglich verqueren Schleier des Papismus, der - und mit welcher Paßgenauigkeit zur Zeit des Internet, der Ortslosigkeit, und damit der Unwirklichkeit - so unermeßlichen Schaden angerichtet hat. Der ganz sicher kein Weg der Neuevangelisierung - im Jahr des Glaubens! von diesem Papst ausgerufen! - ist. Wo die Kirche zum Eventverein entwürdigt, der Papst zur faktischen Identifikationsfigur der Vermassung, zum 'Star' abgehalftert wurde. Den es zuletzt sogar noch auf Twitter kostenlos zu beziehen gab (...) Vielleicht hören die Leut, ernüchtert, gezwungen zum Realismus auch in der Betrachtung des (nächsten) Papstes, nun endlich auf, pausenlos über den Vatikan zu diskutieren, anstatt in ihrer Pfarre das Kreuz zu schultern, von dem sie so gerne hätten, daß es jemand anderer für sie beiseiteschafft. Der Papst, zum Beispiel. Während man das Feld allen möglichen Umtrieben überläßt - WIR, wir haben ja unsere virtuelle Kirche, rechtgläubig und superfromm, per iPod. - Es ist krank, wenn der Gesundheitszustand des Papstes die Leute mehr interessiert als der ihres Pfarrers. Wenn die Leute in Internetforen und Sondertreffen über Zölibat und Enzykliken diskutieren, anstatt ihrem Pfarrer das zu sein, was seiner Stellung entspricht und jede Zölibatsdiskussion obsolet macht: Braut. Was aber auch ihr einziger Ansatz wäre, am Heil teilzuhaben, das die Kirche sehr real ist." Wer diese Beiträge liest und auf seine Weise versteht, weiß auch, was auf den nächsten Papst zukommt. Und dann erscheint ein Kommentar von Wolfgang Fellner in der Tageszeitung "Österreich" nur noch als widersprüchlicher Populismus und vollkommene Fehleinschätzung dieses Papstrücktrittes. Er geht letztlich und paradoxerweise von einer uralten theologischen Schule aus, die den menschlichen Inhaber des Papstamtes mit dem Stuhl des heiligen Petrus unauflöslich verheiratet sah. Was schreibt Fellner also heute, abgesehen davon, daß er sich wirklich völlig irrt bei seiner Meinung, daß Benedikt XVI. "keinerlei Konsequenzen zu den fürchterlichen Mißbrauchsenthüllungen" hätte folgen lassen: "Der beste Dienst, den dieser Papst seiner Kirche geleistet hat, war sein Rücktritt. Aber: wenn schon der Papst nicht mehr im Amt bleibt, bis der Tod ihn abberuft – warum muß dann jede Ehe halten, bis der Tod sie scheidet? Wenn der Papst frei entscheidet, wie er sein Leben führen will – warum nicht auch Homosexuelle? Und: wenn der Papst die Regeln Gottes reformiert und in Pension geht – warum dürfen dann nicht auch die Gläubigen die Kirche reformieren? Dämme. Mein Gefühl ist: mit diesem Rücktritt können in der Kirche ganze Dämme an so genannten 'heiligen' Verboten brechen. Nach Benedikts Abtritt hat sich die Kirche eine Flut an Reform verdient ..." Nein, und nochmals nein: das Papstamt ist kein Sakrament, und kein von Gott erwählter Mensch ist unauflöslich an das Amt des heiligen Petrus geknüpft. Und somit begeht Fellner hier eine (bereits bedenklich eingerissene) populistische Ebenenverwechslung. So sehen wir, wie unterschiedlich gescheit oder weniger gescheit ein solcher historisch einzigartiger Vorgang gewertet und verstanden werden kann. Wie schon an anderer Stelle festgehalten: ich respektiere diese päpstliche Entscheidung zu 100 %, aber innerlich kann ich weder die Motivation noch den Termin verstehen, muß ich aber auch gar nicht. Ich habe in jedem Falle volles Vertrauen in die Vorsehung der Allerheiligsten Dreifaltigkeit in bezug auf die Kirche, und genau das hat Benedikt XVI. in der ihm verbleibenden Amtszeit mehrfach in glaubhafter Weise gepredigt und dargestellt. Wer jedoch dem Prinzip "Einmal Papst, immer Papst" anhängt, muß gegen jeden Rücktritt eines Papstes sein. Da das Papstamt aber keine unverlierbare Weihe ist, ist dem verehrten Benedikt Joseph Ratzinger soeben dieses Amt voll und ganz verlorengegangen. Was also für die heilige Taufe, die heilige Firmung, für die Diakonatsweihe, die Priesterweihe und die Bischofsweihe gilt, daß sie nämlich ein unverlierbares Prägemal an der unsterblichen Seele des Menschen hinterlassen, das gilt nicht für das Petrusamt. Deswegen gibt es dieses dogmatische Prinzip "Einmal Papst, immer Papst" auf die konkrete Person des (früheren) Amtsinhabers bezogen nicht. Und mit all diesen fehlbaren Gedanken und Hinweisen verbleibe ich mitten in der Fastenzeit als Euer Padre Alex - Dr. Alexander Pytlik, verbunden im Gebet für die Wahlkardinäle und den künftigen sichtbaren Stellvertreter Jesu Christi auf Erden! Friday, January 25. 2013
GEGEN PLAGIATE: DER ... Posted by Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
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20:15
Comments (0) Trackbacks (0) ![]() GEGEN PLAGIATE: DER GESELLSCHAFTLICHE AUFTRAG DES CHRISTLICHEN GLAUBENS NACH JOHANNES MESSNER
Es ist nicht das erste Mal, daß ein von mir erarbeiteter und mit genauer Quellenangabe verfaßter Text einfach ganz oder in weiten Teilen so offensichtlich (bis ins Detail inklusive Satzzeichen und Anmerkungen) kopiert wird, ohne daß nur ein einziger Verweis auf meine Autorenschaft und die wissenschaftliche Herkunft erfolgt. Zwar ging es dabei offenbar bisher nicht um Titelerschleichungen, aber schon bei kleineren Beiträgen und Seminararbeiten fängt die Täterschaft von Plagiatoren an. Auch hier gilt für mich: wenn jemand schon im Kleinen Plagiate nötig hat, was hat er dann im Großen getan? Meiner Meinung nach sind dann viele Arbeiten eines Plagiators mit einem Schlag überprüfungswürdig. Beim letzten Plagiatsfall, der meine Veröffentlichungen betraf, schrieb ich den betroffenen Innsbrucker Seminaristen an und reichte sofort bei einem Portal für "Hausarbeiten" Beschwerde ein. Der Text verschwand sogleich, und der Plagiator entschuldigte sich bei mir. Damit war die Sache für mich erledigt. Doch beim aktuellen Plagiatsfall liegt überhaupt keine Reaktion vor, und so wähle ich diesmal den Weg über mein eigenes Blogbuch. Denn nur wenn Plagiatoren und Plagiate öffentlich werden, wird die ganze in meinen Augen überall untragbare Sache offenbar erst ernstgenommen. Ist es so schwer, an irgendeiner Stelle die Quelle zu benennen und das zu beachten, was seit Anbeginn meines Internetangebotes in meinem Impressum von allen verlangt ist, die etwas aus meinen Texten zitieren oder übernehmen? Nun aber zum konkreten Fall:
UPDATE: Der Autor (Plagiator) hat mich am 11. Februar 2013 nachmittags angerufen und sich entschuldigt. Er werde die Quellen nachtragen, und es werde nicht mehr passieren. Aufgrund der mittlerweile erfolgten Quellenhinweise und der ehrlichen Stellungnahmen an den Publikationsorten habe ich am 20. Februar 2013 die Verlinkungen dorthin und die Benennung des Autors in Anerkennung der angemessenen Reaktion gelöscht. Es ging um meinen Vortrag beim Churer Philosophentag des Jahres 1997, der im Internet seit mehr als einem Jahrzehnt abrufbar ist. Durch das Vorgehen (rund um den 13. Dezember 2012) wurden Heinrich Reinhardt und Alexander Pytlik gleichzeitig Opfer eines Plagiats, wenn es auch ein kleineres Beispiel darstellt. Das war und ist also mein Text aus dem Jahr 1997 (!), der Ende 2012 "plagiiert" wurde, wobei ich alle kopierten Stellen in den Fettdruck gebracht habe: "GLAUBE FORMT GESELLSCHAFT" ANHAND DES SOZIALTHEORETISCHEN ANSATZES JOHANNES MESSNERS (Kurzreferat am Churer Philosophentag) Einleitung (Auszug aus dem Bericht Hw. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Reinhardts über den Philosophentag unter www.kath.ch) Jeder Glaube, sobald er zu einem vollständig in Bindung auslaufenden Glaubensakt geworden ist, muss sich öffentlich zeigen. Das gehört zum Wesen des Glaubens. Also übt er, gerade als religiöser Glaube, prägende Kräfte auf die Gesellschaft aus. Dies exemplifizierte Lic. iur. can. Alexander Pytlik (Rom) anhand des gesellschaftstheoretischen Ansatzes von Johannes Messner (1891 - 1984). Unter dem Titel «Glaube formt Gesellschaft» erläuterte Pytlik die wichtigsten Konfigurationen von christlichem Glauben, repräsentiert durch die Katholische Kirche, und säkularer Gesellschaft. Durch seinen klar reflektierten Ordnungsgedanken, der die Mitte hält zwischen ungesundem Supranaturalismus und profanem Naturalismus, kommt Messner zu seiner Lehre von der relativen Autonomie aller Seinsbereiche, also auch der gesellschaftlichen Strukturen. In seinem Denken erhält die Kirche keineswegs eine Über-Kompetenz, die sie zum direkten Eingriff an allen Stellen berechtigte. Infolge ihres übernatürlichen Ursprungs besitzt die Kirche starke, aber stets gestufte Orientierungskräfte, die niemals ohne Respektierung der Freiheit der Individuen wirksam werden. Messner spielt in diesem Zusammenhang zwar die Vision von der «christlichen Gesellschaft» durch, sagt aber sofort dazu, dass diese wegen der erbsündlichen Verfaßtheit der Menschheit niemals voll realisierbar ist; sie ist eine produktive Utopie. Staat und Kirche müssen zum gerechten Aufbau einer humanen Gesellschaft in genau beschreibbaren Bahnen zusammenwirken, sollen sich jedoch der Vorläufigkeit alles Menschlichen bewusst bleiben. Die Kirche bekennt gerade in ihrer durch den Pluralismus der Bekenntnisse und Lebensstile ohnehin nahegelegten weisen Zurückhaltung die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes und die klare, durch keine zeitbedingten Faktoren störbare Glaubensgewissheit des Christen. So formt sie im Sinne Christi die Gesellschaft. Es ist ein unauffälliges Formen, weit entfernt vom ständigen Rufen nach dem «weltlichen Arm», aber um so nachdrücklicher: ein Beispielgeben. Referat Eure Exzellenz, sehr geschätzte Herren Professoren! In meinem Beitrag folge ich bekanntlich Johannes Messner, dem großen österreichischen Sozialethiker und Rechtsphilosophen in der Naturrechtstradition, der von 1891 - 1984 lebte und schon in jungen Jahren auf dem Weg zum Priestertum erkannte, wieviel sich in Zukunft im Bereich der Sozialordnung für oder gegen das Christentum entscheiden werde. Ich möchte anhand seines Schrifttums einige kleine Diskussionsanstöße zur Thematik "Glaube formt Gesellschaft" geben. es handelt sich also um keine neue Position von mir, sondern eine treue und volle Verwendung Messners, ein volles Zuwortkommenlassen Messners selbst, wobei ich gemäß meiner Kenntnis der Werke Messners die Jahre 1929 - 1966 unterschiedslos "verwendet" habe, weil sich ja an seinen Grundpositionen kaum etwas änderte, nur die Begründungsart expliziter erfahrungsbezogen wurde und neue Umstände zu differenzierteren Schlüssen nach dem II. Weltkrieg führen mußten. Als tatsächlich gelebte Wirklichkeit beansprucht Glaube, Religion den ganzen Menschen, so daß die gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche nicht außerhalb ihres Einflusses liegen können. Darum bestehen gute Gründe, von der gesellschaftlichen Formkraft, von der Kulturkraft der Religion zu sprechen. Zunächst ist hier allgemein an die Bedeutung der Religion (für Gesellschaft und Kultur) zu denken. Offensichtlich liegt sie vor allem in der von ihr ausgehenden Verwurzelung der wesentlichen Werte der Tradition und des Ethos im Ewigen, Unbedingten und Unwandelbaren: sie ist also die stärkste Bindungskraft in Tradition und Ethos. Außerdem begründet die Religion als Lebensform gesicherte Überzeugungen über den Daseinssinn des Menschen und seine Stellung in der Welt und damit die nachhaltigste psychologische Antriebskraft im Bereich der wesenhaften Lebenserfüllung nach der einzelmenschlichen wie nach der gesellschaftlichen Seite. Durch die Religion werden dem Menschen ferner Werte erschlossen, die ihn ganz und gar über die Enge seines so leicht in den sinnenhaften Lustwerten sich verfangenden Ich hinausheben und seiner Hingabekraft die höchsten Ziele weisen. Nichts gibt der geistig-schöpferischen Entfaltung des Menschen Ahnungen und Visionen von tiefer erregender Kraft als die Religion, und nichts speist so wie die gelebte Religion dauernd das Reservoir von Spannkraft in Ausdauer und Opferwilligkeit, das für die Ranghöhe der Kultur so entscheidend ist, auch wenn Kulturförderung als solche nicht Zweck der Religion ist, ihr Zweck liegt in der Heilsaufgabe. Tatsächlich erfolgt die Kulturwirkung der religiösen Kräfte vor allem vermittels des Unbewußten, nicht vermittels bewußter Zwecksetzung (im Unterschied zum bewußten und konkreten Einsatz für die Gesellschaftsordnung als solche). Weil und wenn aber ihre Wertwirklichkeiten und Wertziele den ganzen Menschen, sein Denken und Wollen, sein Tun und Leben beanspruchen, wird die Religion allumfassender Lebensgrund der Kultur, ohne daß Kultur bewußtes Produkt der Religion oder Religion unmittelbar Dienstbefohlene der Kultur sein könnte, was nämlich den Verlust ihres jeweiligen innersten Wesens und Wertes bedeutete. Sieht man in der Religion jedoch nichts anderes als einen der "transzendenten" Bereiche, die der Vernunfterkenntnis des Menschen völlig verschlossen sind, dann kann die Religion nur eine Kulturerscheinung neben anderen und das Christentum nur ein Element neben anderen in der (westlichen) Kulturentwicklung bilden.(1) In Wahrheit besteht die entscheidende Bedeutung des Christentums für die Entwicklung der westlichen Kultur in der von ihm ausgehenden Klarheit hinsichtlich der der Transzendenz angehörenden Wahrheiten und Werte und hinsichtlich der sich dem Menschen damit eröffnenden Einsicht in den Sinn seines Daseins und seiner Kultur. J. H. Newman sagt mit hunderten der besten Geister dieses Kulturkreises, daß es dem Menschen die gesicherte Einsicht in das Wesen seiner Natur, ihre Würde und die Richtung ihrer Entfaltung brachte, nämlich "die Sicherung der Wahrheiten des natürlichen Sittengesetzes und der natürlichen Religion", wobei "das erste Gebot des neuen Gesetzes die Liebe ist, nämlich gegenseitiger guter Wille, brüderliche Liebe und Friede"(2). Die genauere Umschreibung dessen, was im Rahmen unserer Thematik Aufgabe der Religion und der religiösen Autorität ist, oder um gleich zum entscheidenden Punkt zu kommen, was in der heute bestehenden geistig-seelischen Lage von ihnen geschehen oder von ihnen erwartet werden kann, gehört zu den schwierigsten Fragen der Ethik. Der bloße Appell zur "Rückkehr" zum Christentum ist schon deshalb keine Lösung, weil die seelisch-geistigen Voraussetzung dafür fehlen, daß er, an die Allgemeinheit gerichtet, auf fruchtbaren Boden fallen kann, zumal außerdem "Rückkehr" auch an historische Formen erinnert, in welche die Religion als gelebte Wirklichkeit eingehen muß, welche aber gerade das nicht sind, worauf es heute bei der religiösen Erneuerung und ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Kultur ankommt. Wegen der innersten Verflechtung von Religion und Kultur wird die Ethik mit geschärftem Blick auf das achten müssen, was in der Beziehung der beiden im Bereich des Wesenhaften und was im Bereich des geschichtlich Bedingten liegt. Denn gerade wegen der Geschichtlichkeit der kulturellen Lebensform, in die die Religion in das seelisch-geistige Wesen eines Volkes eingehen muß, um zum Lebensgrund seiner Kultur zu werden, "kann die Überzeugung, daß Religion von einem Gesichtspunkt aus Kultur ist und Kultur von einem anderen Gesichtspunkt aus Religion ist, sehr beunruhigend sein"(3) - die Forderung zu kritischer Umsicht, die T. S. Elliot mit diesen Worten an die kulturphilosophische Analyse stellt, hat für die Ethik erhöhte Geltung. Ganz allgemein wird zunächst darauf zu achten sein, daß mögen auch enge Wechselwirkungen zwischen Kultur und Religion bestehen, beide im Grunde verschiedenen Ordnungen angehören und verschiedenen Zielen zugewendet sind, die erstere wandelbaren, bedingten, vorläufigen, geschichtlichen, diesseitigen, die letztere unwandelbaren, unbedingten, endgültigen, ewigen, jenseitigen. Die Religion kann nicht einfachhin in den Dienst der kultur- und gesellschaftsgestaltenden Mächte einer Zeit treten, ohne ihrer eigentlichen Aufgabe der Wegweisung zu den zeitlosen Zielen zu entsagen. Sie kann schon gar nicht den wandelbaren Werten kultureller Lebensformen eine unbedingte Gültigkeit geben, ohne damit auf ihren Anspruch als Hüterin überzeitlicher, unwandelbar gültiger Werte zu verzichten. Daher ist die politische Bindung der Religion, etwa in der Form der in der Zeit des Absolutismus behaupteten Unzertrennlichkeit von "Thron und Altar", ebenso bedenklich wie die Behauptung wesentlicher innerer Zuordnung geschichtlicher Wirtschaftsformen zu einer Religion, etwa der mittelalterlichen Zunftordnung zum Christentum, als einer innerlich der christlichen Lebensordnung wesensgemäßen Form der Sozialwirtschaft. Noch mehr verbietet aber das Wesen der Religion und der religiösen Autorität, die einer säkularisierten Geistigkeit entstammenden Kultur- und Sozialideen einer Zeit zum Gegenstand ihrer Heilsverkündigung zu machen. Nicht weniger als dies wurde im 19. Jahrhundert mit dem Ruf nach einem "Kulturchristentum" verlangt und nicht weniger als das wurde auch oft mit dem Ruf nach einem "Sozialchristentum" verstanden. Sprach man im 19. Jahrhundert davon, das Christentum müsse eine Existenzberechtigung durch eine Wirksamkeit im Sinne des damaligen rationalistisch-liberalistischen Kulturgedankens unter Beweis stellen, so wurde dann von verschiedenen Seiten dem Christentum gesagt, seine Daseinsberechtigung und seine Zukunftsaussichten hinge davon ab, daß es sich in den Dienst kollektivistischer Sozialbewegungen stellte. Was ist denn die tatsächliche Aufgabe der Religion hinsichtlich der Kultur und der Gesellschaft? Außer Frage zu stehen scheint, daß der Religion und der religiösen Autorität als solcher eine unmittelbare Aufgabe oder Zuständigkeit auf kulturellem Gebiet nicht zukommen, weder auf politischem, sozialem, künstlerischem oder geistigem. Ihre Heilsaufgabe betrifft die endgültigen unter den existentiellen Zwecken des Menschen. Wie sie dabei an keine gesellschaftlichen Lebensstile und kulturellen Ausdrucksformen gebunden ist, ist sie auch nicht zuständig, solche vorzuschreiben. Geschichtlich gesehen ist aber nichts gewisser, als daß die Religion und darunter besonders das Christentum, Kultur im eigentlichsten Sinne erzeugt, Lebensstile und Kunstformen geschaffen hat. Es geschah dadurch, daß Vorstellung, Denken und Fühlen der Menschen, eingewurzelt, wie er war, in den das ganze Leben durchwirkenden religiösen Lebensgrund ihren Ausdruck im ganzen Umkreis des kulturellen Lebens suchten, im gesellschaftlichen ebenso wie im geistigen. Es geschah aber in einer Art unbewußter schöpferischer Entfaltung jenes Lebensgrundes, keineswegs in irgendwelchen von der religiösen Autorität befohlenen Kunststilen oder von ihr geplanten Gesellschaftsstilen. Religion und religiöse Autorität können, gerade wenn ihr Verhältnis zur Kultur in Frage steht, gar keine andere Aufgabe von entscheidenderer Bedeutung haben als die ihnen wesenseigene Heilsaufgabe: vom Ausmaß der Erfüllung dieser Aufgabe hängt es ab, wieweit der Urgrund einer Kultur selbst lebendig und zeugungskräftig ist und bleibt. Die in den jeweiligen geschichtlichen gesellschaftlich-kulturellen Lebensformen verbundenen Menschen ganz allgemein, besonders aber die für die Gesellschaftsgestaltung und Kulturentwicklung vor allem verantwortliche Schichte ("Elite") einzuwurzeln in den religiösen Lebensgrund, mit anderen Worten, selbst zu einer Lebenswirklichkeit zu werden, ist die entscheidende Kulturaufgabe der Religion. Neben dieser unmittelbaren Aufgabe tritt eine Fülle von Aufgaben mittelbarer Art für die Religion in ihrem Verhältnis zur Kultur. Der Grund besteht darin, daß der religiös-sittliche Endzweck des Menschen mit seinen übrigen existentiellen Zwecken, also auch den gesellschaftlich-kulturellen, sowohl nach der Seite seines Anspruchs wie nach der Seite seiner Verwirklichung engstens verknüpft ist. Weil er dem Menschen in keinem Lebensbereich gestattet, sich selbst Gesetz zu sein, läßt er keine Trennung von Religion und Kultur zu. Daher fallen die kulturellen Lebensordnungen mittelbar ("indirekt") in die Zuständigkeit der Religion und der religiösen Autorität: ihre Zuständigkeit ist es, das Gewissen der Gesellschaft zu sein, zu urteilen oder auch zu verurteilen, soweit die gesellschaftlich-kulturellen Formen oder Einrichtungen den davon abhängigen Menschen oder Gruppen die Erfüllung existentieller Zwecke in höherem oder geringerem Maße erschweren. Das ist aber nur die eine Seite der mittelbaren Kulturaufgabe der Religion. Geht der Blick nur nach dieser Richtung, dann kann sehr leicht der Eindruck einer überwiegend negativen Haltung entstehen, was Newman eine Art von "Nihilismus" nannte, der "verbietet, aber nicht weiter führt oder schöpferisch wirkt"(4). Diese Gefahr ist dann vorhanden, wenn nicht gleichzeitig eine starke schöpferische Kraft eines Großteils aller Schichten der Gesellschaft, besonders auch einer geistigen Elite, vorhanden ist, die aus der voll gelebten religiösen Wirklichkeit erwächst und in alle Kulturbereiche hineinwirkt, in den geistigen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen. Die Kulturaufgaben als Aufgaben der religiösen Verantwortung sind somit solche der Laien. Ihnen fällt es zu, vom religiösen Gewissen her wirklichkeitsnahe Lösungen in der jeweiligen Kultursituation zu finden und zu verwirklichen. Sie mißverstehen ihre Aufgabe, wenn sie in der Kulturkrise und beim Versagen der Gesellschaft in ihren Grundordnungen nach der religiösen Autorität ("Kirche") rufen und von ihr die Verkündigung neuer Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme erwarten. Sie verlangen von der religiösen Autorität etwas, wozu diese nicht zuständig ist, etwas, was die sittliche Aufgabe der durch ihre Berufsarbeit am Lebensprozeß der Kultur unmittelbar Beteiligten ist. ---> "zu sehen, wie sehr die Kirche in den letzten Jahrhunderten sich mehr und mehr von der unmittelbaren Leitung aus den profanen Kulturgebieten zurückzog, besonders auffällig aus dem politischen Leben, in dem Bewußtsein, daß die nicht in die ihr von ihrem Stifter übertragene Mission fällt, ja daß sie die mit einer solchen Leitung zusammenhängende Verantwortung gar nicht übernehmen darf, und zwar gerade im Interesse ihrer eigentlichen Aufgabe und ihrer besonderen Mission. Aber auch aus dem Grunde, weil alle einzelnen Gebiete des Lebens die Kräfte für die Erreichung ihrer besonderen Zwecke in sich tragen, vom Schöpfer in sie hineingelegt, und daß ihnen auch besondere Gesetze vorgeschrieben sind, ebenfalls von ihrem Schöpfer, denen sie zu folgen haben in der Verfolgung ihrer besonderen Ziele."(5) "Das heißt aber vor allem, daß wir Katholiken bei Meinungsverschiedenheiten in Angelegenheiten rein politischer, sozialer, ästhetischer, wissenschaftlicher Natur und bei sachlichen Auseinandersetzungen viel weniger an religiöse Ideen und an das sittliche Gewissen appellieren sollten, sondern an sachliche Gründe."(6) "Für die katholische Gesellschaftsauffassung besagt dies, daß ihr Grundprinzip, die Suprematie des Religiösen, sich in allen Ordnungen des gesellschaftlichen Lebens zeigen muß, daß das Katholische immer streben wird, von innen her diese Ordnung zu bestimmen und ihnen Form und Gestaltung zu geben, daß man darum ebenso sehr von einer Eigengesetzlichkeit des Katholischen sprechen kann, wie man von einer Eigengesetzlichkeit der profanen Kulturgebiete spricht, ja, daß im Sinne der katholischen Gesellschaftslehre, wesenhaft beide aufeinander bezogen sind, eine Bezogenheit, die im Verhältnis von Natur und Uebernatur immer ihre tiefste Erklärung finden wird, wonach die letztere die erstere nicht aufhebt, sondern voraussetzt und zugleich vollendet, weil beide aus der Hand des einen Gottes hervorgegangen und aufeinander zugeordnet sind."(7) Messner fordert hier eine Wirkkraft der katholischen Gesellschafts- und Kulturauffassung nach dem bekannten Satz der philosophia perennis, wonach die volle Verwirklichung eines Zweckes am Ende steht, dieser selbst aber in der Absicht und Tätigkeit dessen, der ihn erreichen will, von Anfang an wirksam ist (Finis, etsi sit postremus in executione, est tamen primus in intentione agentis, et sic habet rationem causae). "Worauf eben hingedeutet wurde, ist eine nun schon allen geläufige Erkenntnis, daß sich nämlich in den Formen gesellschaftlichen Lebens der Geist einer Gesellschaft in solcher Weise verfestigt, daß diese Formen selbst wieder den Menschen den Geist der Gesellschaft aufdrängen."(8) "die Eigengesetzlichkeit des Katholischen soll sich (also) wieder auswirken und mit ihren Kräften alle Ordnungen und Gebiete des öffentlichen Lebens durchwirken, bis sich wieder eine christliche Welt in ihrem ganzen öffentlichen Leben, in ihrem kulturellen und in ihrem wirtschaftlichen Streben, in ihrem politischen und sozialen Sein zu ihrem Gott bekennt. Ist das aber nicht Utopie? Der heutigen Welt gegenüber? Einer gottlosen Gesellschaft gegenüber? Einem neuen Heidentum gegenüber? Es ist nur dann Utopie, wenn der Aufbruch der Zwölf aus Jerusalem, die zuerst den Auftrag erhalten haben, hinzugehen und alle Völker zu lehren, Utopie war. Heute stehen ungezählte Tausende von Gotteshäusern unter den Völkern der Erde"(9) Während der neuzeitliche Naturalismus die absolute Eigengesetzlichkeit in den Bereichen von Politik, Wirtschaft und Kultur behauptet hat, wollen Vertreter eines falschverstandenen Supernaturalismus alle Kulturbereiche, nicht zuletzt Politik und Wirtschaft, ganz zu Gebieten einer auf die übernatürliche Offenbarung und Religion begründeten Ethik machen. In Wahrheit brauchen alle diese Wissens- und Tätigkeitsbereiche nur die Unterordnung ihrer besonderen Zwecke unter die Zweckordnung des Naturgesetzes zu beachten und haben im weiteren das Recht und sogar die Pflicht, nach den besten Wegen und Mitteln zur Erreichung ihrer Ziele zu suchen. Während also der Naturalismus die causae secundae, die geschaffenen Ursachen, unabhängig machen möchte von der causa prima, dem Schöpfer, neigt der Supernaturalismus zur Verkennung der in den causae secundae begründeten (lediglich) "relativen Eigengesetzlichkeit". (Die Folge ist, daß nur eine theologische, auf das geoffenbarte Wort Gottes begründete Ethik anerkannt wird.) Ein Supernaturalismus besonderer Art wird von der einen oder anderen Gruppe auf katholischer Seite in der Form eines "Integralismus" vertreten mit der Forderung, daß im politischen und sozialen Bereich alles unter die "direkte" Autorität der Kirche zu stellen sei, so Messner 1966. Würden die Kirche und ihre Diener einen solchen Anspruch auf eine direkte Gewalt in diesen Bereichen erheben, dann wäre der Vorwurf des sog. "Klerikalismus" gerechtfertigt nach Messner.(10) Es ergibt nur soweit eine - wir können sagen - "direkte" Zuständigkeit der Kirche im politische Bereich, als im Leben und in der Tätigkeit des Staates die absoluten existentiellen Zwecke des Menschen betroffen sind und daher der Sendungsbereich der Kirche in Frage steht. Die Tatsache, daß eine namhafte Zahl von Nichtkatholiken auf Seite der Alliierten während des zweiten Weltkrieges die katholische Kirche heftig anklagten, weil sie von dieser Jurisdiktion nicht Gebrauch achte, zeigt einwandfrei, daß auch außerhalb der traditionellen Naturrechtslehre über die Tragweite der kirchlichen Jurisdiktion kein Zweifel besteht. Nur übersehen die Ankläger, daß es sich bei dieser Jurisdiktion der Kirche ausschließlich um die beste Wahrung der geistlichen Interessen aller ihrer Glieder unter den gegebenen Umständen handelt und eben nicht um politische Interessen. Der direkte Eingriff in den Gewissensbereich, wie er z. B. durch Entbindung vom Treueid gegen den Fürsten im ungerechten Krieg möglich war, ist jedoch nicht der einzige Weg der Ausübung der Vollmacht der Kirche gegenüber dem politischen Bereich, wenn der religiöse oder sittliche berührt wird. Ein anderer ist der Aufruf der Gewissen durch die öffentliche Erklärung der Kirche über die Unvereinbarkeit politischer Prinzipien und Handlungen von Regierungen mit religiösen und sittlichen Rechten. Ein dritter, von der katholischen Kirche besonders zu pflegender Weg wäre - wie schon gesagt - die systematische Schulung der Laien für die Ausübung ihrer Verpflichtungen im bürgerlichen und beruflichen Leben, um dadurch eine erneute Wirksamkeit der religiösen und sittlichen Prinzipien in der säkularisierten Gesellschaft zu erzielen, von Pius XI. im erörterten Sinne definiert als "die in der Gesellschaft wirkende Kirche". Schon 1929 hatte ja Johannes Messner in seinem kleinen Büchlein "Der Weg des Katholizismus(11) im XX. Jahrhundert" geschrieben: "weitere Generationen werden arbeiten, bis der Beginn einer Verwirklichung des Programmes der christlichen Demokratie sichtbar sein wird im geistig-kulturellen, im öffentlich-politischen, im wirtschaftlich-politischen Leben, bis das Christentum wieder der nährende Boden unseres gesamten kulturellen und gesellschaftlichen Lebens sein wird, bis auf diesem Boden ... eine neue christliche Gesellschaft sich zu ihrem Gott halten wird. Der Weg dahin, der Weg des Katholizismus im 20. Jahrhundert wird aber die Katholische Aktion sein."(12) "d. h. daß der Christ nicht nur Christ sein will in seinem Herzen und vielleicht noch innerhalb der vier Wände der Kirche, sondern ebenso und vornehmlich auch in seiner ganzen Einstellung zum Leben, in der ganzen Sinngebung der Welt, der Kultur, des Staates, in seinem Berufe und an dem Platze, an dem er in der Gesellschaft steht, kurz als ganzer Mensch"(13) "Es ist nicht zu leugnen, daß der Vereinskatholizismus in seinem Ungeist vielfach eine Belastung des Wirkens der Kirche in der Gesellschaft darstellt und der Umschlag des ... Kirchenkatholizismus in den Vereinskatholizismus mit seinen Festfeiern, Theateraufführungen und gemeinsamen Ausflügen zum großen Teil ein Mißverständnis der Zeitaufgaben des Katholizismus war."(14) "Unser Glaube selbst muß darum zunächst die ursprüngliche, selbstsichere, universale Übernatürlichkeit der Betrachtung der Welt und der Gesellschaft zurückgewinnen, um dem Versinken der Welt und der Gesellschaft ins Diesseits zu steuern (...) Das ist Weltanschauung in des Wortes eigentlichster Bedeutung: genommen als Betrachtung der Welt und des Lebens von bestimmten Grundwahrheiten aus, katholische Weltanschauung als Betrachtung der Welt aus den Tatsachen und Wahrheiten der Erschaffung der Welt durch das Wort des Herrschaftsanspruches des Menschensohnes an die ganze Welt und alle ihre Lebensbereiche."(15) "Ist es nicht so, daß man mit starkem Nachdruck und mit gewiß berechtigtem Selbstgefühl immer wieder betonte, wir Katholiken besäßen die die gesellschaftliche und kulturelle Krise heilenden Kräfte, daß man aber vielfach gemeint hat, damit sei es schon getan? Als ob nicht erst der Eingang dieser Kräfte ins Leben jene heilbringende Wirkung hätte, die wir brauchen! Und hat man sich nicht allzusehr mit bloßer Freude am Besitz der rettenden Ideen und Werte zufrieden gegeben? Als ob nicht der Einsatz dieser Ideen und Werte in der Wirklichkeit das Entscheidende wäre! Und hat man nicht zu sehr nur 'Ideenpolitik' getrieben und allzu verächtlich auf die 'Realpolitik' herabgeschaut, während doch die hier gemeinten Ideen gerade dazu da sind, verwirklicht zu werden, d. h. reale Gestalt im Leben anzunehmen durch eine christliche Realpolitik. (...) Denn sobald man vom rein metaphysischen Bereich in die wirkliche Welt übertritt, d. h. in die Welt der sittlichen Aufgaben und des sittlichen Handelns, ist die entscheidende Frage die, wie diese Ideen und Werte Gestalt annehmen solle in diesem Leben, wie weit wir sie im einzel-persönlichen und im gesellschaftlich-öffentlichen Leben zu verwirklichen vermögen, namentlich wo die Ansatzpunkte sind für diese Verwirklichung (...) Die eine Gefahr ist also die, daß das zu starke Verweilen im rein Ideologischen nicht so zur 'Arbeit in der Welt' kommen läßt, wie sie doch unsere Pflicht wäre nach dem Missionsauftrag des Meisters (...) Noch eine zweite Gefahr ... darf nicht übersehen werden. Der einseitige Blick auf das ideale Reich der Wahrheiten läßt gerne die wirkliche Welt allzu schwarz erscheinen (...) das Entscheidende ist ... nicht die Kritik, sondern daß man positiv erkenne und sage, was wir vom katholischen Gedanken her zu geben haben, wie wir dies aus dem bloß ideologischen Dasein in die Wirklichkeit überführen, wo die Ansatzpunkte in der heutigen Welt für diese Verwirklichung sind. Ist es nicht Tatsache, daß die ... einseitige Kritik im außerkatholischen Lager überhaupt nicht gehört und schon gar nicht beachtet wird? Und birg die einseitige, fast ganz im Negieren aufgehende Kritik nicht die weitere Gefahr eines gewissen Fatalismus in sich, der vom Gedanken bestimmt ist: die Welt ist schlecht, es nützt doch nichts! (...) während doch ... echter, christlicher und katholischer Geist doch der ist: überall zu helfen, wo Irrende sind, und der menschgewordenen Liebe den Weg zu den Menschen und zur Gesellschaft zu bereiten. - Dies ... ist der tiefste Sinn von dem ... Ruf .. nach der Katholischen Aktion!"(16) Damit zeigt sich eine andere mittelbare ("indirekte") Aufgabe der religiösen Autorität (hinsichtlich der Kultur) in ihrer ganzen Bedeutung: die Aufgabe, die Gewissen zu bilden, sie wach zu erhalten und bereit zu machen für die voll verantwortungsbewußte Arbeit an der Gestaltung der gesellschaftlich-kulturellen Lebensordnungen nach den Forderungen des sittlichen Gewissens. Diese Gewissensbildung muß einsetzen schon im Jugendalter und muß fortgehen mit der übrigen Heilsverkündigung und Gewissensbildung durch das weitere Leben des Menschen. Geschieht dies nicht, dann darf es nicht wundernehmen, wenn die Religion weithin nur als etwas für den Sonntag empfunden wird, das im Alltag, der dem Kulturschaffen gilt, nichts zu tun hat, ganz abgesehen davon, daß "offiziöse" Erklärungen der religiösen Autorität hinsichtlich der gesellschaftlich-kulturellen, besonders politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen kein Gehör finden. Auf die gleiche Ursache geht wenigstens teilweise der oft in Zeiten von Religionskrisen wie von Kulturkrisen auftretende religiöse Spiritualismus zurück. Danach sei die Religion ihrem ganzen Wesen nach ins seelische Gebiet verwiesen, habe jegliche "Verquickung" mit den gesellschaftlich-kulturellen Lebensordnung zu vermeiden und sich ausschließlich der mit dem Endzweck des Menschen befaßten Heilsaufgabe zu widmen. Manche Vertreter solch spiritualistischer Auffassungen der Religion sehen im völligen Rückzug derselben aus der politischen und sozialen Ebene und in ihrem Aufsteigen zu einer angeblich "reinen" Form(17) die sich in der geschichtlich-kulturellen Entwicklung vorbereitende und von ihr geforderte "höhere" Stufe von Religion. Genau so viel, wie die Forderung nach einem "Kulturchristentum" nach der einen Seite zu weit ging, geht die spiritualistische nach einer Art (vielleicht auch ungewollten) "Sakristeichristentum" nach der anderen zu weit: mit jenem ist die Kulturaufgabe zur ersten unmittelbaren Aufgabe der Religion gemacht, mit letzterem ihr jede, auch eine mittelbare Kulturaufgabe, abgesprochen.(18) Gelebte Religion ist immer erhöht gelebte Sittlichkeit, lebendige Sittlichkeit immer wirkkräftige Haltung gegenüber dem Mitmenschen, also "Nächstenliebe". Weil Kultur im Grunde "Menschlichkeit" ist, muß daher gelebte Religion in vielfältigen, von der Nächstenliebe befohlenen Weisen zu Kulturwirkungen führen, in so vielen Weisen, als sie einer durch die Sozialordnung augenblicklich oder überhaupt unheilbaren, aber von der "Menschlichkeit" nicht zu verantwortenden Bedürftigkeit begegnet. Die Größe der Aufgabe hat immer wieder zu Formen der organisierten Nächstenliebe, karitativen Organisationen, gedrängt. Aufgaben von weittragendster Bedeutung scheinen solchen Formen der Nächstenliebe in der heutigen Kultur- und Sozialkrise zu erwachsen. Wenn wir beobachten, so Messner, wie die gewaltigen, von der mittelalterlichen Christenheit erbauten Kathedralen, die angesichts der damaligen Wirtschaftskraft der Völker einzigartige, die schöpferische Lebenskraft ihres Geistes bezeugende Leistungen sind, heute noch immer über die Industrie- und Bankpaläste der modernen Großstadt hinausragen, so drängt sich die Frage auf, ob nicht auf karitativem Gebiete ein Geist zu erwecken wäre, der einmal zu ähnlichem Ruhm Anlaß werden könnte, heute aber an einer religiösen Erweckung teilhaben könnte, die mit den bisherigen Mitteln nicht erreichbar zu sein scheint. Messner dachte an ausgedehnte Formen der Sozialkaritas (natürlich ohne Formen der Individualkaritas zu vernachlässigen, die, auf Opferkraft der einzelnen begründet, die Hilfe für einzelne und Einzelfamilien zum Ziel hat). Die wichtigste Aufgabe der Sozialkaritas bleibt eine umfassende Mitwirkung bei der Lösung der für die Bewältigung der gegenwärtigen Kulturkrise so entscheidend wichtigen Beschaffung von Wohnungen, die der Familie, dem Mutterboden aller Kultur, die Erfüllung ihrer moralischen und kulturellen Aufgaben ermöglichen. Wenden wir uns noch der andauernden Kulturkrise des Westens zu, so wird man Dawson zustimmen, wenn er das meiste von der Erziehung zu einer Rückbesinnung auf die Werte erwartet, die den Wurzelgrund der westlichen Kultur eigentlich bilden und in Verbindung damit der Religion, nämlich dem Christentum, eine entscheidende Rolle zumißt. Die Aufgabe geht alle an, die an der Verantwortung für die Erziehung beteiligt sind, Kirche und Staat, Elternhaus und Schule, Hochschule und Volksbildungseinrichtungen. Die Schwierigkeiten dürfen indessen nicht übersehen werden. Großteils müßten erst die Erzieher selbst für diese Aufgabe erzogen werden. Aber nicht nur fehlt einem Großteil der in den genannten Institutionen für die Erziehungsaufgaben Verantwortlichen der Blick für die fraglichen Werte, es fehlt noch viel mehr, nämlich der Wille, sich noch einmal von der Gültigkeit jener Werte und ihrer Bedeutung für die Überwindung der gegenwärtigen Krise überzeugen zu lassen. Dies trifft besonders zu, wenn jene Werte zu sehr in Verbindung mit geschichtlich gebundenen Lebens- und Kulturformen gedacht werden. Auf solche Weise kann sogar die Gefahr eines zu sehr historisch gebundenen Denkens entstehen: daß, wie schon angedeutet, mehr an einer "Rückkehr" anstatt an eine neue religiöse Lebenswirklichkeit gedacht wird. Die andere Art "historischen Denkens" sieht mit Augustinus stärker das den Kulturen eigene geschichtsbedingte Wesen im Gefolge ihres Aufstiegs und Niedergangs, die Religion selbst aber als das Um und Auf der Geschichte. Keineswegs wird in dieser geschichtlichen Sicht die Verantwortung und Aufgabe der Religion und nun ganz eigentlich des Christentums (und seiner kirchlichen Gemeinschaften) angesichts der gegenwärtigen Krise der westlichen Kultur eine geringere, sie wird eine viel schwerere: sich selbst ganz und gar auf ihren Wesensgrund und ihre ursprünglichen Lebenskräfte zu besinnen angesichts der unvermeidlichen Verflechtung mit historischen Elementen eine Kultur, deren Schicksal zu innerst fraglich geworden ist, und sich damit für die weltgeschichtlich neue Aufgabe, die sie erwarten, vorzubereiten. Dabei dürfen wir wohl nicht übersehen, daß zum offensichtlichen Unterschied von allen anderen Religionen das Christentum, und unter seinem Einfluß die westliche Kultur, ganz und gar dynamischen Wesen sind, und zwar weil die Kirche Christi über innere Erneuerungskräfte verfügt, wie Messner betont, die nicht nur Kulturkrisen zu überdauern, sondern gerade durch den Druck von Kulturkrise zu neuem, tieferem und reicherem Aufquellen gebracht werden können. Eine Hoffnung wird dies nicht schon dadurch, daß nur nach der Rechristianisierung gerufen wird, etwa gar nur in der Form, daß, wenn sie nicht erfolgt, unsere Gesellschaft und Kultur verloren sind, besonders wenn dies von seiten jener geschieht, denen die Mitwirkung an der Verwaltung jener Werte und Kräfte anvertraut ist. Ihre Sache ist die Rechristianisierung selbst, nicht die bloße Aufforderung dazu, verbunden mit Kassandrarufen Neue Wege werden dabei zu finden und zu gehen sein. Der Jonas jedoch, der heute nur mit der Prophezeiung des Untergans zur Umkehr rufen und dann sich auf die Anhöhe außerhalb des verlorenen Ninive setzen zu können glaubt, um das über die Stadt kommende Gericht beobachten zu können, hat seinen Auftrag offenbar schlecht verstanden. Nach Messner jedoch hat Spengler übersehen, daß das Christentum also selbst unversieglich die Kraft der Selbsterneuerung in sich trägt und damit auch der ihm verwachsenen Kultur immer wieder eine neue Zukunft zu geben vermag, das sollte die "westliche" Kultur von allen vorchristlichen Kulturen unterscheiden. Die abendländische Kultur in sein Schema des unausweichlichen Prozesses des Werdens und Vergehens der Kulturen eingereiht zu haben, ist der Grundirrtum Spenglers. Nicht, daß er auf keinen Fall recht behält mit seiner Untergangsprophezeiung für das Abendland und die westliche Kultur. Ebenso gewiß ist aber der mit den Werten und Kräften des Christentums verbundene Missionsauftrag immer ein solcher der Erneuerung, daher immer zur Hoffnung auch "gegen alle Hoffnung" verpflichtend, also nie den endgültigen Rückzug mit der Begründung der Aussichtslosigkeit angesichts der Verhältnisse gestattend. Messner erkennt in einem Zitat Peter Wusts eines der wenigen Kulturgesetze, um die wir wissen: "Wo der Mensch mit seinem Glauben an die Macht positiver Ideen versagt, da beginnen die Dinge dem Menschen das Gesetz der Entwicklung zu diktieren, und das Merkwürdige ist dabei, daß sie immer nihilistische Persönlichkeiten für ihr Zerstörungswerk finden, wo die aufbauenden Persönlichkeiten fehlen."(19) Glaube formt Gesellschaft, direkt und indirekt? Für Messner sind dabei die Bereiche staatliche Ordnung, wirtschaftliche Ordnung, soziale Ordnung und Volksordnung (und damit verwoben die Kultur) zu beachten. Auf alle diese kann sich der Glaube indirekt durch eine betont glaubensgestützte Sozialreform auswirken. Es muß jedoch gesagt sein, daß die leitenden naturrechtlichen Prinzipien noch nicht und an sich Eigengut des Gläubigen darstellen, jedoch durch die Gläubigen vermehrt, überzeugter und gefestigter einzubringen sind, eingebracht wurden und eingebracht werden können. Wenn es auf das Gespräch des Christentums mit der Welt ankommt, dürfte dem naturrechtlichen Denken eine unumgängliche Funktion zukommen. Mit J. Leclercq, dem bekannten Löwener Professor, wollte Messner festgehalten wissen: "Da vier Fünftel der Welt unserem Einfluß entzogen sind, muß man sich da nicht, wie Pius XII. unermüdlich wiederholte, auf den Boden der natürlichen Moral und des Naturrechts stellen, in denen alle Menschen übereinstimmen können? Nur so ist ein wirksames Handeln auf Weltebene möglich."(20) In dieser Weltlage dürfte nach Messner der natürlichen Ethik und dem Naturrecht geradezu "eine missionarische Aufgabe" zufallen, wobei sich wieder einmal die philosophia als ancilla theologiae im besten Sinn erweisen würde, nämlich im Dienste der Verkündigung der Frohbotschaft und im Dienste des Kommens des Reiches Gottes, wie Messner es 1966 zu formulieren wagte.(21) Die Gesellschaftsordnung, soweit die existentiellen Zwecke des Menschen in Frage stehen, ist Teil der sittlichen Ordnung. Die Mitwirkung der Kirche ist für die Erreichung der wesenhaften Ziele einer Sozialreform unerläßlich. Die Kirche ist kraft ihrer Mission zur Hüterin des Sittengesetzes berufen und daher die Hüterin des Gewissens der Gesellschaft. Sie hat daher das Recht und die Pflicht, ihre Stimme mahnend und warnend zu erheben, wenn die Gesellschaft von der natürlichen Ordnung abgeht und in ihren den existentiellen Zwecken des Menschen verpflichtenden Grundfunktionen versagt. Die Zuständigkeit der Kirche ist folglich nicht auf die bloße Verkündigung des Sittengesetzes beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Bewertung der das Wirtschaftsdenken und die Wirtschaftspolitik bestimmenden Prinzipien, soweit davon das Sittengesetz berührt wird. [Evtl. Dialog für Österreich einbauen? ->] Auch ist es Aufgabe der Kirche, die Institutionen eines Sozialsystems sittlich zu beurteilen, soweit diese sich mit den natürlichen Rechten nicht vertragen; man denke an Erziehungseinrichtungen. Die Zuständigkeit der Kirche erstreckt sich daher auf die beiden Seiten der Sozialreform, die geistige und die institutionelle, allerdings nur, soweit das Sittengesetz in Frage steht; es ist nicht ihre Sendung, sich mit Dingen bloß technische oder organisatorischer Art im politischen und wirtschaftlichen Leben zu befassen.(22) Die Kirche ist indessen nicht nur die von Gott eingesetzte Lehrerin und Auslegerin des Sittengesetzes. Ihre Berufung zur Mitarbeit an der Lösung der sozialen Frage geht weiter. Das Versagen des sittlichen Urteils der Menschen und der Gesellschaft ist nur eine Seite der Folgen der Erbschuld, in der die letzte Ursache der sozialen Frage zu suchen ist. Die andere Seite besteht in der Wirrnis der menschlichen Triebe und Leidenschaften, im Egoismus, in der Habsucht, im Hochmut, im Machtwillen mit allen ihren zersetzenden Wirkungen auf die Sozialordnung. Die Gesellschaft ist somit auf die Kirche nicht nur als Hüterin des Sittengesetzes, sondern auch als Quelle sittlicher Erneuerung angewiesen. Die Kirche ist dies vermöge der ihr anvertrauten Gnaden und Kräfte der Erlösung, d. h. der Übernatur. Die Menschheit befindet sich nämlich ständig in Gefahr (und wir schon längst so weit), daß nämlich ihr sittlicher Fortschritt von ihrem wissenschaftlichen Fortschritt überholt wird. Die ungeheuer anwachsenden Kräfte, die der Fortschritt der Wissenschaften in die Hände des Menschen legt, werden nur dann zum Wohl des Menschengeschlechtes ausschlagen, wenn seine sittlichen Kräfte entsprechend wachsen. In zunehmendem Ausmaß ist daher der soziale Fortschritt an den sittlichen Fortschritt gebunden, so ist Messner überzeugt.(23) Im soziologischen Sinn sind Ideologien Anschauungen über die Natur und den Zweck des Menschen und der Gesellschaft, die Einfluß auf die Gestalt und das Funktionieren der Gesellschaftsordnung haben.(24) (Wohl ist die Wechselbeziehung zwischen den "ideologischen Formen", die ein Sozialsystem kennzeichnen, und seinen ökonomisch-technischen Grundlagen nachgewiesen, nicht minder aber, daß die ersteren ursprünglicher Natur sind und daher von sich aus bestimmenden Einfluß auf die Gestaltung des Sozialsystems üben. Der Marxsche historische Determinismus leugnet(e) nicht die Wirkkraft der "ideologischen Formen" auf die Gesellschaft; was er leugnet ist, daß "ideologische Formen", also Ideen und Werte, unabhängig von den wirtschaftlichen Produktionskräften bestehen und Geltung haben. Obwohl im Grunde irrig, veranlaßte die Marxsche Theorie eine genauere Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen den ideologischen und den ökonomischen Formen als Wirkkräften im Leben und in der Entwicklung der Gesellschaft sowie die genauere Untersuchung des Ursprungs, der Wirkungsweise und der Einflüsse der ideologischen Formen.)(25) Messner interessieren hier die ideologischen Mächte wegen ihrer Wirkung auf die Gesellschaftsordnung. Alle Ideen und Werte und somit Zwecke, die einen gestaltenden Einfluß auf das Funktionieren der gesellschaftlichen Ordnung ausüben, faßt er soverstanden als "das Ideologische" zusammen. Das Ideologische ist daher hier als bestimmender Faktor im Sozialsystem gesehen; andere Gruppen solcher Faktoren sind das Institutionelle, die Abneigung gegen Änderungen in der gewohnten Lebensweise, die politischen Kräfte mit dem Streben nach Herrschaft und Macht in einer Gemeinschaft, die technischen Kräfte in ihrer Auswirkung auf sozialwirtschaftliche Kooperation. Das Ideologische umfaßt nicht nur die im Vordergrund des Bewußtseins einer Gesellschaft stehenden Ideen, sondern mindestens gleicherweise jene, die in Sitten, Brauchtum und überhaupt im Volkstum wirksam sind und die tatsächlich im Konflikt mit anderen gestaltenden Kräften eine gewaltige Macht besitzen. Nur wenn das Ideologische eine Wirkung auf ihre Gesellschaft Einfluß gewinnt, übt das Ideologische eine Wirkung auf ihre Gesellschaftsordnung aus. Die moderne Technik macht die Verwendung des Ideologischen durch die verschiedenen Arten der Propaganda zu einem der mächtigsten Mittel der Gestaltung und Leitung der Gesellschaft. Kein Gesellschaftssystem ist nur durch eine Ideologie allein geformt. Das Ideologische wirkt immer nur als Resultante von verschiedenen gegensätzlichen ideologischen Richtungen. Kein Gesellschaftssystem ist in Wirklichkeit das, was es nach der herrschenden Ideologie sein sollte. Unter den in der "westlichen" Gesellschaft wirksamen ideologischen Kräften sind noch immer die der christlichen Welt- und Lebensanschauung nicht die allerschwächsten, obwohl ihr Einfluß teilweise nur durch die Kanäle von Herkommen und Überlieferung geht. Andererseits muß das Christentum unter dem Gesichtspunkt einer empirischen Soziologie als eine der "ideologischen Mächte" angesehen werden, die miteinander um den bestimmenden Einfluß auf die Gestaltung der Gesellschaftsordnung ringen.(26) Philosophisch ist für Messner das Christentum bzw. die katholische Soziallehre(27) (selbstverständlich und) grundsätzlich keine Ideologie, weil dann Ideologie verstanden ist als ein von der wirklichkeitsbezogenen Wahrheit abweichendes Ideen- und Wertsystem. Nur für die empirische Soziologie ist jedes Ideen- und Wertesystem, das gesellschaftlich-ordnungspolitische Ansprüche erhebt, eine Ideologie.(28) Unter den anderen ideologischen Mächten sind besonders zu nennen die des Rationalismus, Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus, Nationalismus, die Rassenkredos und allgemein hinter allen diesen Mächten der ihnen jedenfalls für lange Zeit gemeinsame materialistischsäkularistische Antagonismus gegen das Christentum. In dem Umfang, in dem die ein Gesellschaftssystem bestimmenden ideologischen Kräfte von den wesenhaften Zwecken der menschlichen Natur abgehen, muß ein solches System versagen in der Verwirklichung des Gemeinwohls und daher in der Ermöglichung des wesenhaften Vollwohles aller Glieder der Gemeinschaft. "Wo indessen Folgerungen aus dem sittlichen Naturgesetz auf zeitbedingte Verhältnisse in Frage stehen, also das Urteil über die Formen ihrer Verwirklichung angesichts der konkreten Situation, kann die Berufung auf das Naturgesetz oder das Naturrecht ideologisch beeinträchtigt sein."(29) Doch die christliche Soziallehre sei eben nicht einfach Ideologie, "weil sei zutiefst naturrechtsverbunden ist."(30) "Die natürlichen Rechte und damit das Naturrecht ist ... ontologisch begründet, im Sein und in der Wirklichkeit der Menschennatur, wie sie sich der unmittelbaren menschlichen Erfahrung selbst darbietet."(31)Zu den gewaltigsten dynamischen Kräften im Leben und in der Entwicklung des Staates gehörten (soziologisch gesehen) die religiösen Glaubensüberzeugungen. Um sich den Einfluß religiösen Glaubens auf Leben und Entwicklung der Staaten zu vergegenwärtigen, braucht man nur an die großen Religionen der Menschheit denken, angefangen von der israelitischen mit ihrer Theokratie, an den Konfuzianismus, Buddhismus, Islam und vor allem an das Christentum, ganz zu schweigen von solch enger Verquickung von Religion und Staat, wie sie der japanische Shintoismus darstellte. Man wird dabei im ersten Augenblick vielleicht versucht sein, den Religionen hauptsächlich eine stabilisierende und retardierende Wirkung zuzuschreiben. Man braucht sich jedoch nur an die vom göttlichen Oberherrn befohlenen Strafexpeditionen gegen die Feinde Israels, an die Bekehrungskriege Karls des Großen, an den Heiligen Krieg der Mohammedaner (zu Beginn der Neuzeit und offensichtlich partikulär auch heute!), an Glaubenskriege wie den Dreißigjährigen Krieg, an die Kreuzzüge, an den Einfluß der Auseinandersetzung von Staat und Kirche auf die abendländische Staatsentwicklung zu erinnern, um zu ersehen, daß die der Religion entspringenden bewegenden Faktoren im Leben des Staates keine geringeren sind als die stabilisierenden. Die genauere Analyse dieser Einwirkungen der Religion ist Sache der Religionssoziologie. Mit der Säkularisierung des Denkens seit dem Beginn der Neuzeit traten in der staatlichen Dynamik antireligiöse Glaubensmächte neben und in Gegensatz zu den religiösen Glaubenskräften auf, die diesen an Wirkkraft nicht nachstehen. Weil es sich dabei um Glaubensmächte handelt, die einen Anspruch auf die Formung des gesellschaftlichen Lebens erheben, müssen sie mit den religiösen Glaubensmächten, die den gleichen Anspruch erheben, in Konflikt kommen. Solche Konflikte kennzeichnen die Auseinandersetzungen über die staatliche und kirchliche Kompetenz im liberalen Staat des 19. Jahrhunderts, vor allem in Schul- und Ehefragen. Zu denken ist weiters an die ideologischen Grundlagen der Parteienbildungen in der freiheitlichen Demokratie. Ungleich größer sind die dynamischen Auswirkungen auf das Staatsleben, wenn eine ideologische Macht den monopolitischen, "totalitären" Einfluß auf eine Gesellschaft gewinnt. Das Ziel ist dann die Umformung der ganzen Ordnung der Gesellschaft nach ihren Prinzipien über Natur und Stellung des Menschen in der Gesellschaft und über die Sinngebung der Kultur überhaupt. Wir leben wohl in der weltanschaulich oder ideologisch pluralistischen Gesellschaft. Unter ihren zahlreichen Schattierungen heben sich zwei Hauptgruppen ideologische Überzeugungen heraus: die jedenfalls theoretisch christliche und die a-christliche. Man kann nicht sagen anti- oder widerchristlich, weil der heutige Liberalismus, der heutige Sozialismus und die heutige Aufklärung im Gegensatz zu früher sich der offenen Polemik gegen das Christentum und die Kirche auch immer wieder enthalten. Mit einem sog. wissenschaftlichen naturalistischen Humanismus, mit einer Form Wissenschaftsglaubens, versuchen starke Gruppen in Parteien und Verbänden der christlichen Auffassung vom Menschen, als Formkraft von Gesellschaft und Kultur, Boden zu entziehen. Das wird jenen Gruppen wesentlich erleichtert dadurch, daß die naturalistische Auffassung des Menschen seit Jahrzehnten beherrschend ist in der Belletristik, im Film, im Theater, in einem wesentlichen Teil der Presse, in manchen Ländern auf im Rundfunk und Fernsehen. Der sog. "wissenschaftliche" Humanismus sieht sich selbst durch drei Grundideen gekennzeichnet: die Idee der Menschenwürde und die Idee der Freiheit, wozu die Idee des Fortschritts kommt, begründet auf den Glauben an die wissenschaftliche Vernunft und ihre Fähigkeit zur Herbeiführung einer immer reicheren Lebenserfüllung des Menschen in den auf die Lebensspanne des Menschen bezogenen Werten. Tatsächlich gehen die beiden ersteren Ideen auf die christliche Anthropologie zurück mit ihrer Lehre von der Gottesebendbildlichkeit, die das Christentum aus dem Alten Testament übermittelt hat, und der Lehre von der Gotteskindschaft, die aus der Lehre Christi stammt. Nur durch gewaltige Anstrengungen in der Auseinandersetzung mit den neuen ideologischen Mächten wird das Christentum seine gesellschafts- und kulturformenden Kräfte neu entfalten können. Dies noch besonders, weil zum innergesellschaftlichen der internationale weltanschauliche Pluralismus hinzugekommen ist, in dem die alten Religionen einen neuen Öffentlichkeitsanspruch anmelden, aber auch neue nationalistische (und sozialistische sowie kommunistische) Ideologien sich als gesellschaftspolitische und weltpolitische Kräfte durchzusetzen suchen.(32) Der Begriff "christliche Sozialreform" bezeichnet diesbezüglich die vom christlichen Gewissen geleiteten Bestrebungen zur Beseitigung der Schäden der sozialen Ordnung durch die Behebung der tieferen Ursachen(33) Wir sprechen von "christlich", weil die zugrunde liegenden Prinzipien durch die christliche Auffassung vom Menschen bedingt sind, vor allem durch die Glaubenslehren von der Schöpfung, dem Sündenfall und der Erlösung. Es ist der "christliche Humanismus", der dazu berechtigt, richtig und rechtverstanden von einem "christlichen Naturrecht", von "christlichen Sozialprinzipien" und von einer "christlichen Sozialreform" zu sprechen, auch wenn die Naturrechtslehre ihren Begriff der Menschennatur aus der Vernunfterkenntnis gewinnen muß und sich als sog. "christliches" Naturrecht sich in allem für ihren Begriff der Menschennatur Wesentlichen der in der Glaubenserkenntnis begründeten weiteren Gewißheit versichert wissen wird dürfen.(34) Der Ausdruck wird daher insbesondere nach Messner in den großen Fronten weltanschaulichen Denkens über den Menschen und die Gesellschaft, über Sittlichkeit und Recht, mit vollem Recht zu gebrauchen sein, um sich von den "naturalistischen" Lehren abzusetzen (von den szientistisch-naturwissenschaftlichen, dialektisch-materialistischen, logisch-positivistischen, biologisch-evolutionistischen, utilitaristisch-pragmatischen, idealistisch-monistischen). Im Bereiche jedoch der wissenschaftlichen Naturrechtslehre selbst ist eine Bezeichnung vorzuziehen, die ihre philosophische Grundlage im Verständnis der Menschennatur hervorhebt, zumal die Naturrechtslehre bekanntlich in ihrer philosophischen Entwicklung ganz wesentlich auf vorchristliches, also ausschließlich auf die Vernunfterkenntnis begründetes Denken zurückgeht, daher verwendet Messner lieber den Ausdruck traditionelle Naturrechtslehre. In seinem berühmten schon 1933 in Erstauflage erschienenen Werk Die soziale Frage finden wir auch in der 6. Auflage 1956 das wichtige Kapitel über die christliche Gesellschaft(35), die ja - so denke ich jedenfalls - das Ideal-Ergebnis des gesellschaftsformenden Glaubens sein sollte. Messner wollte wenigstens ein skizzenhaftes Bild geben, nicht nur, weil der sein Denken an den christlichen Sozialprinzipien Ausrichtende sich eine Vorstellung von der christlichen Gesellschaft bilden möchte, sondern auch deshalb, weil im säkularisierten Denken mancher Gruppen der heutigen Gesellschaft unrichtige Vorstellungen und Befürchtungen über die Art und Ansprüche einer christlichen Gesellschaft bestehen. Solchen Befürchtungen gegenüber sei vorweg daran erinnert, daß für das auf die christlichen Sozialprinzipien begründete Denken das Rechtsbewußtsein und die Rechtsgrundlage der Gesellschaft in beträchtlichem Ausmaß entwicklungsbedingt sind und daß daher auch die christliche Gesellschaft in jeder neuen Zeit neue Züge tragen und neue Aufgaben stellen wird, daher keineswegs nur mit dem Blick in die Vergangenheit gedacht oder auch erstrebt werden darf. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß es immer noch geschieht, daß bei "offiziellen" Gelegenheiten von "westlichen" Staatsmännern oft mit Betonung das Beiwort "christlich" beansprucht wird, mögen auch in weiten Teilen die religiösen Überzeugungen selbst geschwächt oder abgestorben sein. Die Wesenszüge der christlichen Gesellschaft wird man kurz so umschreiben können: Es ist die Gesellschaft, die sich der dem Geist und den Forderungen des Christentums eigenen allseitigen Achtung der natürlichen Rechte sowie der von diesen Rechten bestimmten Grundordnung des Gemeinwesen verpflichtet weiß.(36) Der oberste Verfassungsgrundsatz der christlichen Gesellschaft ist demnach die Heiligkeit des Rechts. Der Ordnung des natürlichen Rechts und der natürlichen Gerechtigkeit die Vollwirklichkeit zu geben und zu sichern ist die die Gesellschaftsordnung betreffende Grundaufgabe des Christentums. In der Tat, das Streben nach fester Begründung und immer weiterer Vervollkommnung der Ordnung der Gerechtigkeit ist doppelt Pflicht der christlichen Gesellschaft wegen der durch das Christentum neu vermittelten und neu gesicherten Einsicht in Wert und Recht der Persönlichkeitsnatur des Menschen und in den ganz und gar davon bestimmten Sinn und Zweck der Gesellschaft mit ihrer Rechtsordnung, ihrer Lebens- und Kulturordnung. Die Erfüllung aller anderen Aufgaben der christlichen Gesellschaft, ja auch die des Christentums und der Kirche selbst in dieser Gesellschaft, hängen ganz weitgehend von der Erfüllung dieser Grundaufgabe ab. Voll christlich ist ein Gesellschaft insoweit, als das gelebte Christentum sie allseitig mit seinen sittlichen Kräften durchwirkt und durchformt und damit auch ihr oberster Verfassungsgrundsatz der Heiligkeit des Rechts im christlichen Gewissen ihrer Glieder selbst verankert ist, mit anderen Worten, soweit in der Gesellschaft im ganzen das vom gelebten Christentum gefestigte sittliche Rechtsgewissen wirksam ist. (Darauf wird noch zurückzukommen sein.) Die entscheidenden Kennzeichen dafür, wieweit eine Gesellschaft als christlich gelten kann, liegen bei der Familie: Eine Gesellschaft ist christlich in dem Umfang, als die Familie kraft ihrer Verwurzelung im christlichen Lebensgrund ihre Aufgabe als biologische, moralische und kulturelle Zelle der Gesellschaft erfüllt, auch alle ihre Rechte geachtet sieht, die ihr auf Grund dieser ihrer Aufgaben zukommen. Diesen Rechten entsprechen in der heutigen Gesellschaft Verpflichtungen von Gesellschaft und Staat zur Familienpolitik (worüber wir ausführlich gesprochen haben). Nichts ist indessen so lebenswichtig für die christliche Gesellschaft wie die Eigenkraft christlichen Lebens in der Zelle der Gesellschaft. Sie muß sich zuallererst in der Ehe erweisen wegen der gerade in ihr am unmittelbarsten hervortretenden Einheit des christlichen und natürlichen Sittengesetzes. In den Kindern wirkt durch die Familie jene Eigenkraft in die ganze Gesellschaft und ihre Kultur hinein. In dem, was die Kinder aus dem christlichen Lebensgrund der Familie empfangen, empfängt auch die christliche Gesellschaft das meiste, was ihr an Lebenskräften und Lebensformen Festigkeit und Zukunft geben kann. Dort werden Religion und Leben zu jener Einheit, deren Bedeutung schon den heidnischen Völkern im Bewußtsein der Verbundenheit von Herd und Altar kundtat und die für die christliche Gesellschaft doppelt feststeht, weil sich dem Zeugnis der Natur das unmittelbare Wort Gottes, des Schöpfers dieser Natur, verbindet, darüber, daß das natürliche Sittengesetz, wie es der Mensch in seiner Natur vorfindet, das Lebensgesetz der Gesellschaft ist und daß , damit dieses Lebensgesetz sich voll wirksam erweise, die der Erbschädigung durch die Ursünde verfallene Natur der heilenden Kräfte der Erlösung bedarf. Nach der Familie kommt unter den natürlichen gesellschaftsformenden Kräften zu allererst das Volkstum. Familie und Volkstum bedingen sich in ihren ureigensten Lebenskräften gegenseitig. In ihnen hat die Kultur der Gesellschaft ihren Mutterboden, den Lebensgrund ihrer ursprünglichsten Wurzelkräfte. Denn bei Volkstum ist ja keineswegs nur an Brauchtum im engeren Sinne zu denken, sondern an die die Grundwerte des einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Lebens betreffenden Überzeugungen und die darauf sich gründenden, in den gesellschaftlichen Lebensordnung und im kulturellen Ausdruckswillen sich auswirkenden Haltungen. Diese Überzeugungen und Haltungen bilden den geistig-sittlichen Einheitsgrund der Gesellschaft, lebend und fortlebend in der wechselseitig sich bedingenden Lebenseinheit von Familie und Volkstum: Volkstum ist ohne Muttersprache, Heimat ohne Heim, Vaterland ohne Vaterhaus nicht zu denken. Gleich wahr ist, daß ein Volkstum ohne Christentum keine Zukunft hat, wenn es sich seiner christlichen Vergangenheit zu entschlafen gewillt ist. Ein solches Volk ist doppelt gefährdet, weil es einen "Ersatz" für die verlorenen kulturellen Lebenskräfte nicht gibt. Denn das Volkstum ist Gemeinschaftsbereich, in dem Religion und Kultur, sittliche und gesellschaftliche Ordnung wurzelhaft verbunden sind, weshalb sich eine Gesellschaft an ihren Lebenswurzeln vergreift, wenn sie der Religion ledig sein zu können glaubt. Darum wird gelten müssen: Die Gesellschaft wird erst wieder christlich sein, wenn die Kirchen nicht nur äußerlich das Bild unserer Dörfer und Städte beherrschen, sondern wahrhaft Zeichen allseitig von ihnen ins einzelmenschliche und gesellschaftliche Leben ausstrahlender Kräfte sind. Diese Kräfte würden der christlichen Gesellschaft mit dem dem Christentum eigenen Arbeitsethos und Berufsgedanken ihre Sozialordnung geben: die christliche Berufsidee mit dem ihr eingeschlossenen Bekenntnis zu den vom Schöpfer dem einzelnen vorgegebenen Aufgaben in Gemeinschaft und Einzelleben, sowie das christliche Arbeitsethos mit seiner Bindung der Arbeitsbeziehungen an die Gemeinschaftswerte und die Persönlichkeitswürde. Dieses Arbeitsethos und dieser Berufsgedanke fordern die Solidaritätsordnung in der gesellschaftlichen Arbeitsverbundenheit in Volkswirtschaft, Berufszweig und Einzelbetrieb (wie wir es ausführlich darzulegen versuchten). Diese drei sind die für den sozialen Frieden entscheidenden Punkte der Sozialordnung in der christlichen Gesellschaft. Friede und Freiheit würden in ihrer Sozialordnung Hand in Hand gehen. Denn nach den christlichen Sozialprinzipien wäre das weithin sichtbare Kennzeichen der christlichen Gesellschaft ein Höchstmaß von Freiheit im Rahmen einer sittlichen Lebensordnung. In der Tat, nicht zuletzt ist der Umfang von Zwangsbindungen, die notwendig sind, um die Gemeinwohlordnung zu gewährleisten, das Kennmal dafür, wie weit eine Gesellschaft davon entfernt ist, eine christliche heißen zu dürfen, ist doch schon den heidnischen Gesellschaften gesagt worden, daß die Völker mit den meisten Gesetzen nicht die glücklichsten sind. Weil die Heiligkeit des Rechts ihr ungeschriebener Verfassungsgrundsatz ist, steht in der christlichen Gesellschaft auch die rechtliche Grundordnung der politischen Gemeinschaft unter dem Schutz des christlichen Gewissens. In der modernen demokratischen Gesellschaft ist diese Grundordnung, das Staatsgrundgesetz, auf die ausdrückliche Willensentscheidung des Staatsvolkes begründet. Diese Grundordnung empfängt in der christlichen Gesellschaft ihre verläßlichste Sanktion, nämlich die durch das sittliche Rechtsgewissen mit seinem Bewußtsein der unbedingten Verpflichtung gegenüber der auf die Vollachtung der gleichen Rechte und so auf die gleiche Mitverantwortung aller Staatsbürger begründeten Freiheits- und Gemeinwohlordnung. Das christliche Gewissen schützt daher als einen Hauptbestandteil dieser Ordnung vor allem auch die Prinzipien, auf deren Achtung Bestand und Entwicklung des freie demokratischen Gemeinwesens beruht, nämlich die Prinzipien, die seine politische Willensbildung nach den Forderungen des freien Einverständnisses der Staatsbürger mit ihren gleichen politischen Rechten ermöglicht. Die christliche Gesellschaft widersetzt sich daher dem unmittelbaren Eingriff in die staatliche Willensbildung im Widerspruch zu diesen Prinzipien durch staatliche oder gesellschaftliche Mächte. In ihrem Staat verbürgt die christliche Gesellschaft die persönlichen, politischen, zivilen und sozialen Freiheitsrechte im vollen Ausmaß der sich in der Natur des Menschen offenbarenden sittlichen Eigenverantwortlichkeiten und daher rechtlichen Eigenzuständigkeiten des Menschen: die Menschenrechte. Der Staat der christlichen Gesellschaft wird daher in seinem Schulwesen dem natürlichen Recht der Eltern auf die Bestimmung der Grunderziehung ihrer Kinder, das ist jener in religiöser und sittlicher Hinsicht, voll gerecht werden, also den Rechten der Eltern, die sich im Gewissen zur Erziehung der Kinder nach ihrem christlichen Bekenntnis verpflichtet wissen, wie den Rechten der Eltern, denen ihre Gewissen etwas anderer vorschreibt. Aus den gleichen Gründen gehören die Pflicht der Toleranz und das Recht auf Meinungsfreiheit, wie sie Grundprinzipien der Freiheits- und Gemeinwohlordnung der freien Gesellschaft und ihrer Demokratie bilden, auch der Grundverfassung der christlichen Gesellschaft an. Damit ist das Ringen um die Ordnung des Gemeinwesens nach den im christlichen Gewissen begründeten Wertüberzeugungen und Wertzeilen vor allem verwiesen auf die Weckung von Kräften in der "Gesellschaft", die jenen Wertüberzeugungen und Wertzielen eine wachsende Geltung in der "öffentlichen" Meinung zu erwirken vermögen. Dabei weiß sich dieses Ringen der Gewißheit versichert, daß Wahrheit und Gerechtigkeit, in deren Diensten es steht, keinen stärkeren Bundesgenossen haben als die Freiheit der freien Gesellschaft selbst, solange diese niemandem Rechte entzieht, die sie ihren eigene Prinzipien gemäß allen in gleicher Weise zuzubilligen verpflichtet ist. Wohl bedeutet Toleranz für das christliche Gewissen nicht die Gleichwertigkeit aller religiösen Glaubens- und sittlichen Wertüberzeugungen, bedeutet vielmehr die soziale Tugend der Achtung der persönlichen Überzeugung des Gegners und die Vermeidung der persönlichen Verletzung des Gegners in der öffentlichen Auseinandersetzung und bedeutet die öffentliche Ordnung, die die Freiheit der religiösen Übung und die Freiheit der Vereinigung (Parteibildung) zur Einflußnahme auf Form und Inhalt der politischen Willensbildung gewährleistet. Ihre Schranke findet diese Toleranz nur in den Verpflichtungen zum Schutz des Gemeinwohls vor Mißbrauch der Freiheit, handle es sich um sittliche Wertgüter (öffentliche Sittlichkeit) oder um die Freiheitsordnung selbst (Bedrohung durch politische Umsturzbewegung). Engstens verbunden mit dem Prinzip der Toleranz ist das Recht auf die freie Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild unter keinen anderen Beschränkungen als den eben umschriebenen. Angesichts des Meinungskampfes und des Freiheitsrisikos, die der freien Gesellschaft wesenseigen sind, wird eine Hauptsorge des christlichen Gewissens die Weckung des sittlichen Verantwortungsbewußtseins und der Erziehung zum sachlichen Urteil und dabei vor allem die Heranbildung einer an den Fronten aller einzelnen Gebiete des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens stehenden geistigen Elite sein. Das Ziel ist eine öffentliche Meinung, die selbst zum unnachgiebigen sittlichen Gewissen der Gesellschaft und ihres öffentlichen Lebens wird. Soweit dies der Fall ist, ist eine Gesellschaft christlich. Eine Gesellschaft ist christlich, insofern und insoweit sie sich der Sendung der Kirche Christi öffnet. Das bedeutet ein Doppeltes. Erstens, daß die christliche Gesellschaft sich als solche und nicht nur in ihren Einzelgliedern Gott gegenüber verpflichtet weiß, für sie also die Religion eine öffentliche Angelegenheit und nicht nur Privatsache ist. Es bedeutet zweitens, daß die christliche Gesellschaft der Kirche die Rechte zubilligt, die ihr kraft natürlichen und göttlichen Rechtes zukommen. Dazu gehören die ihres Öffentlichkeitsanspruches als des Anspruchs auf die Anerkennung als öffentlich-rechtlicher, sich in ihrem Bereich zu eigenem Recht und in völliger Freiheit selbst verwaltender Körperschaft. Unter den einzelnen Rechte der Kirche wird der Staat der christlichen Gesellschaft ihre Erstzuständigkeit hinsichtlich der Ehe unter Christen anerkennen, die, weil Sakrament, bezüglich der Voraussetzungen, der Schließung, der wesentlichsten Wirkungen, der Trennung, der Gesetzgebungsgewalt der Kirche untersteht. Der Staat der christlichen Gesellschaft wird der Kirche auch in seinen Schulen ihr volles Recht auf religiöse und sittliche Erziehung der Kinder einräumen, die durch die Taufe Glieder ihrer Gemeinschaft geworden sind. Sofort ist aber klar, daß "unter den bestehenden Verhältnissen", nämlich in der Gesellschaft der politischen Demokratie, hinsichtlich der tatsächlichen Willensentscheidung des Staatsvolkes über Stellung und Rechte der Kirche im "Staate", über Zusammenarbeit oder "Trennung " von Staat und Kirche, das meiste vom Verantwortungsbewußtsein der "Gesellschaft" abhängt. Keinesfalls bedeutet die christliche Gesellschaft eine Aufzwingung gesellschaftlicher oder persönlicher Lebensordnungen unter Erhebung des Staates zum allgewaltigen Mittel im Dienste des Sendungsauftrages der Kirche oder gar von Herrschaftsansprüchen der Kirche im Gegensatz zum Wort Christi "Mein Reich ist nicht von dieser Welt". Ein Mittel von entscheidender Bedeutung für die Erfüllung des Sendungsauftrages der Kirche "unter den bestehenden Verhältnissen", nämlich der freiheitlichen und weithin säkularisierten Gesellschaft, ist ihre Wirksamkeit durch ihre Glieder in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: des wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen. Es ist der Gedanke, mit dem Leo XIII. ihr Wirken "unter den gegebenen Verhältnissen", wie er sagt, in der Enzyklika Graves de communi (18. Jänner 1901) umschrieb: de einer christlichen Bewegung in der "Gesellschaft", "im Volk" mit dem Ziele der Ordnung des öffentlichen Lebens in allen den genannten Bereichen nach den Forderungen des christlichen Gewissens. Es ist der Gedanke, den Pius XI. in dem der "Katholischen Aktion" wider aufgriff. Danach ist die Formung und Führung des Gewissens der Glieder der Kirche hinsichtlich der sittlichen Ordnung des öffentlichen Lebens wesentlicher Teil ihres Sendungsauftrages und ist die Formung und Führung des öffentlichen Lebens aus dem Verantwortungsbewußtsein dieses christlichen Gewissens Sache der Glieder der Kirche, vor allem der Laien, in allen ihren Stellungen und Wirkungsbereichen der Gesellschaft. "Durch das Gewissen der Laien wird das göttliche Gesetz in die irdische Gemeinschaft eingeschrieben" (Pius XII. 20. Feb. 1946, vgl. Orbis Catholicus, 8. Jg. 1954/55, S. 236). Spannkraft und Spannweite dieses Wirkens aus dem Verantwortungsbewußtsein des christlichen Gewissens wird in den meisten Ländern die nähere oder fernere Erfüllung der Hoffnung auf eine allseitig in ihren Gemeinschaftsordnung lebendige christliche Gesellschaft entscheiden. Für Messner ist also klar, wenn man die menschliche Existenz in ihrer Vollwirklichkeit sieht, dann ist die Verkehrtheit des Prinzips "Religion ist Privatsache" offenbar. Natürlich, das sich selbst genügende und autonome Individuum der individualistischen Theorie läßt keine Erstreckung seiner religiösen Existenz in die politische Gemeinschaft zu, und ebenso hat der Staat der kollektivistischen Theorie keinen Platz für die religiöse Existenz der Gemeinschaft, weil er sein eigenes Sein und seine eigenen Kollektivzwecke absolut setzt. Sobald man jedoch die menschliche Existenz in ihrer ganzen Wirklichkeit mit der Absolutheit ihrer existentiellen Zwecke im religiösen Bereich sieht, ist es evident, daß der Staat selbst auch eine religiöse Existenz hat, daß die Religion auch eine öffentliche Angelegenheit ist und daß der Staat nicht weniger als der Einzelmensch Pflichten gegen Gott, den Schöpfer seiner auf den Staat hingeordneten Natur, hat. Ein prinzipieller Säkularismus findet in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ebensowenig eine Begründung wie etwa ein prinzipieller Anarchismus. Es gibt noch Staatsmänner, die ihren Staat noch als Gemeinschaft den Grundwerten der christlichen Kulturtradition verpflichtet sehen. Ein solcher Staat, der sich infolge des gemeinsamen christlichen Bekenntnisses der überwiegenden Mehrheit seines Volkes an die Wahrheits- und Wertüberzeugungen dieses Bekenntnisses gebunden sieht, wird, wenn nicht in seiner Verfassung, so doch in seinem Verhalten, Gott als den Ursprung alles Rechtes einschließlich desjenigen der staatlichen Autorität anerkennen und damit die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der natürlichen Recht in allen Bereichen; er wird in seinem Eherecht dem sakramentalen Charakter der christlichen Ehe voll Rechnung tragen; er wird in seinem Schulwesen dem Recht der Eltern auf eine ihrer Überzeugung gemäße religiös-sittliche Erziehung ihrer Kinder entsprechen; er wird in den öffentlichen und den von ihm kontrollierten Einrichtungen nicht nur schädigende Einwirkungen auf die christliche Lebensanschauung seines Volkes verhindern, sondern positiv die in dieser wurzelnden Kulturideen zu fördern trachten; in seiner Außenpolitik wird er in einer Zeit der Bedrohung des christlichen Kulturerbes nach Möglichkeit seinen Einfluß zu dessen Schutz geltend machen und anderen Völkern, die im Kampfe um ihre christliche Existenz stehen, seine Hilfe in geeigneter Weise zukommen lassen.(37) Die erörterten Prinzipien scheinen für Messner nur dann theoretisch unanfechtbar, wenn an einen Staat gedacht ist, dessen Volk einheitlich an einem christlichen Bekenntnis festhält. In der religiöse gemischten staatlichen Gemeinschaft kann der Staat nicht die Religion eines Volksteils bekennen und fördern, ohne das Gewissen der übrigen Bürger in ernste Konflikte zu bringen. Dies ergibt das Problem der Toleranz des Staates im religiösen Bereich, nämlich konkret 1. die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, 2. die Freiheit der Vereinigung auf der Grundlage gemeinsamer religiöser Pflichten und Interessen, 3. die Freiheit der Werbung für die Überzeugungen der eigenen Religionsgemeinschaft gemäß dem geltenden Recht der Meinungsäußerung. Das Recht auf freie Religionsausübung ist eng mit dem der Gewissensfreiheit verbunden. Es ist ein unbedingtes Recht, insoweit die private Religionsausübung in Frage steht. Dagegen ist das Recht der öffentlichen Religionsausübung ein bedingtes, da keine Beeinträchtigung klarer Rechte anderer (wie etwa beim Menschenopfer) oder der öffentlichen Ordnung damit verbunden sein darf. Das Recht der freien Religionsausübung bedeutet einerseits: Niemand darf zu einer religiösen Übung, die seiner Überzeugung widerspricht, gezwungen werden, auch nicht, wenn es eine solche der wahren Religion wäre; andererseits: Niemand kann rechtlich zu Handlungen gezwungen werden, die den Vorschriften einer religiösen Gemeinschaft widersprechen oder gegen die religiöse Gemeinschaft selbst gerichtet sind, zu der er zufolge des Geheißes seines Gewissens gehört.(38) Das Recht des Menschen auf freie Religionsausübung ermächtigt ihn nicht, andere gegen ihre Überzeugung zu zwingen, sich seiner eigenen Religionsausübung anzuschließen, weil eben die (rechtliche) Vollmacht, die in diesem Recht liegt, nicht über den Zweck hinausgeht, in dem sie begründet ist.(39) Die Kirche kann, ohne ihre Natur zu verleugnen, sich nicht in dem Sinn in den Dienst eines Staates oder einer Nation stellen, daß sie irgendwelchen anderen als den absoluten existentiellen Zwecken einen Vorrang einräumte; eine auf solche Vermischung der Zwecke begründete "Nationalkirche" macht sich zum Bestandteil und Mittel einer einzelnen politischen Gemeinschaft, während der Anspruch der Kirche in ihrer Sphäre nur ein universaler sein kann. Umgekehrt kann der Staat nie aus seiner Natur eine Berechtigung ableiten, das der Kirche durch ihre Mission vorgezeichnete Wirken einer auf das Staatsinteresse begründeten Kontrolle zu unterwerfen (Staatskirchentum). Daher ist am zweckdienlichsten eine einverständliche Regelung in jenen Sphären anzustreben, die sich berühren (Ehe, Schule, Erziehung). Aus den oben entwickelten Prinzipien ergibt sich indessen doch auch eine direkte Zuständigkeit der Kirche im politische Bereich, nämlich soweit im Leben und in der Tätigkeit des Staates die absoluten existentiellen Zwecke des Menschen betroffen sind und daher der Sendungsbereich der Kirche in Frage steht. (Die Tatsache, daß eine namhafte Zahl von Nichtkatholiken auf Seite der Alliierten während des zweiten Weltkrieges die katholische Kirche heftig anklagten, weil sie von dieser Jurisdiktion nicht Gebrauch achte, zeigt einwandfrei, daß auch außerhalb der traditionellen Naturrechtslehre über die Tragweite der kirchlichen Jurisdiktion kein Zweifel besteht. Nur übersehen die Ankläger, daß es sich bei dieser Jurisdiktion der Kirche ausschließlich um die beste Wahrung der geistlichen Interessen aller ihrer Glieder unter den gegebenen Umständen handelt und eben nicht um politische Interessen.) Der direkte Eingriff in den Gewissensbereich, wie er z. B. durch Entbindung vom Treueid gegen den Fürsten im ungerechten Krieg möglich war, ist jedoch nicht der einzige Weg der Ausübung der Vollmacht der Kirche gegenüber dem politischen Bereich, wenn der religiöse oder sittliche berührt wird. Ein anderer ist der Aufruf der Gewissen durch die öffentliche Erklärung der Kirche über die Unvereinbarkeit politischer Prinzipien und Handlungen von Regierungen mit religiösen und sittlichen Rechten. Ein dritter, von der katholischen Kirche besonders zu pflegender Weg wäre die systematische Schulung der Laien für die Ausübung ihrer Verpflichtungen im bürgerlichen und beruflichen Leben, um dadurch eine erneute Wirksamkeit der religiösen und sittlichen Prinzipien in der säkularisierten Gesellschaft zu erzielen, von Pius XI. im erörterten Sinne definiert als "die in der Gesellschaft wirkende Kirche". Es zeugt von der Größe und Kontinuität des Schaffen Messners, daß wir seine Sicht von "Glaube formt Gesellschaft" in einem Zitat aus dem Jahre 1929 über die Katholische Aktion zusammenfassen können: "Für die katholische Gesellschaftsauffassung besagt dies, daß ... das Katholische immer streben wird, von innen her diese Ordnung zu bestimmen und ihnen Form und Gestaltung zu geben, daß man darum ebenso sehr von einer Eigengesetzlichkeit des Katholischen sprechen kann, wie man von einer Eigengesetzlichkeit der profanen Kulturgebiete spricht, ja, daß im Sinne der katholischen Gesellschaftslehre, wesenhaft beide aufeinander bezogen sind, eine Bezogenheit, die im Verhältnis von Natur und Uebernatur immer ihre tiefste Erklärung finden wird"(40) "die Eigengesetzlichkeit des Katholischen soll sich wieder auswirken und mit ihren Kräften alle Ordnungen und Gebiete des öffentlichen Lebens durchwirken, bis sich wieder eine christliche Welt in ihrem ganzen öffentlichen Leben, in ihrem kulturellen und in ihrem wirtschaftlichen Streben, in ihrem politischen und sozialen Sein zu ihrem Gott bekennt."(41) Diesem Eigengesetzlichen des Katholischen bei der Formung der Gesellschaft wird wohl nachzugehen sein, allerdings wird dies nur auf gesunder naturrechtlicher Basis geschehen können. Anmerkungen 1. Cf. J. MESSNER, Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, Innsbruck - Wien - München ²1954, 383. 2. Apologia, Ausg. 1865, 245, 253; Essays Critical and Historical, II. Bd., 1871, 96. (zit. nach Kulturethik, 386). 3. T. S. ELIOT, Notes towards the Defintion of Culture, 1948 (zit. nach Kulturethik, 388). 4. J. H. NEWMAN, in einem Brief v. 2. 11. 1882, cf. W. WARD, The Life of John Henry Cardinal Newman, 1912, Bd. II, 486 (zit. nach Kulturethik, 391). 5. J. MESSNER, Der Weg des Katholizismus im XX. Jahrhundert, Innsbruck - Wien - München 1929 (= "Neues Reich"-Bücherei Nr. 6), 30. 6. Weg des Katholizismus, 32. 7. Weg des Katholizismus, 34. 8. Weg des Katholizismus, 35. 9. Weg des Katholizismus, 36. 10. Cf. J. MESSNER, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck - Wien - München 5/1966, 115 f.; in der Anm. 1 erinnert Messner z. B. an die Enzyklika QA, nn. 31 - 43, nach welcher die Kirche keinerlei Autorität im Bereich der Technik oder im reinen Bereich der konkreten Mittel im ökonomischen Leben habe, jedoch sehr wohl in allen Fragen, die das Moralgesetz berühren. 11. Der Begriff "Katholizismus" soll die in der Welt wirksame Erscheinung des katholischen Glaubens in seiner Geschichtsmächtigkeit zum Ausdruck bringen, getragen von identifizierbaren sozialen Gruppen und Einzelpersonen, die nicht mit der verfaßten Kirche und ihren leitenden Amtsträgern identisch sein müssen. Seine Träger verstehen ihn auch als Erfüllung des kirchlichen Sendungsauftrages "Sozialkatholizismus ist, sofern Sozialreform eine gesellschaftspolitische Zielsetzung darstellt, eine Art des 'politischen Katholizismus', der sich auf bestimmte Anliegen ... konzentriert." (H. SCHNEIDER, Katholizismus, in: A. KLOSE/W. MANTL/V. ZSIFKOVITS [Hrsg.], Katholisches Soziallexikon, Innsbruck - Wien - München ²1980, 1324) Da der jeweilige Katholizismus sein Gepräge daher findet, daß seine Träger einer je spezifischen Gesellschaft (Kultur, Geisteslage, soziopolitische Problematik) zugehören und zugleich eine christliche Antwort auf ihre Problemlage geben wollen, sind Gehalt und Gestalt des Katholizismus dem Wandel ausgesetzt und können in ihrer Sonderart nicht unkritisch für andere Kulturlagen und veränderte Konstellationen als verbindlich gelten. 12. Weg des Katholizismus, 11 f. 13. Weg des Katholizismus, 21. 14. Weg des Katholizismus, 53. 15. Der Weg des Katholizismus, 16. 16. Weg des Katholizismus, 64 - 67. 17. Ein völlig spiritualistisches Christentum vertrat z. B. N. BERDJAJEW, besonders in seinem letzten nachgelassenen Werk: Truth and Revelation, 1953; er fordert ein ganz und gar "prophetisches" Christentum, ohne jegliche "Objektivierung" des religiösen Gewissens in den gesellschaftlich-kulturellen Ordnungen, ja ohne rechtliche und politische Symbole, wie Lohn, Strafe, vor allem ohne Autorität. 18. An einem entschiedenen Punkt der Entwicklung der westlichen Kultur trat der spiritualistische Irrtum mit unheimlicher Kraft auf: in der Armutsbewegung des Mittelalters. Die führende Gruppe strebte damals schon nach dem "reinen" Christentum, wovon ihr Name "Katharer" stammt. Sie wollten mit ihrer Verwerfung von "Reichtum", Besitz und Gewinnstreben die Armut zu einem Ideal der Kulturethik machen. Es ist das historische Verdienst des hl. Franz von Assisi, demgegenüber die Armut als ein Ideal der Persönlichkeitsethik verstanden und zugleich auch mit seiner Ordensgründung zu einer Kraft in der Kulturentwicklung des Westens selbst gemacht zu haben. 19. Die Krisis des abendländischen Menschentums, 1927, 37. 20. Signes de Temps (Zeitschrift der Dominikaner), Oktober 1929 (?), 2. 21. Das Naturrecht, 142. 22. Das Naturrecht, 501. 23. Cf. Das Naturrecht, 502. 24. Cf. Das Naturrecht, 479. 25. Cf. Das Naturrecht, 480. 26. Cf. Das Naturrecht, 482. 27. Nach R. WEILER bezeichnet die katholische Soziallehre "zumeist die wissenschaftlich begründeten (Lehren!), systematisch dargelegten und im Leben der Kirche allgemein vertretenen Auffassungen zur Gestaltung der Gesellschaft (aus christlicher Verantwortung und aufgeklärtem Gewissen)." (Die soziale Botschaft der Kirche. Einführung in die katholische Soziallehre, Wien 1993 [= Schriftenreihe des Institutes für Sozialpolitik und Sozialreform {Dr. Karl Kummer-Institut}, Neue Folge, 2], 10) Sie möchte u. a. allen Menschen guten Willens einen Sinnentwurf für eine gerechte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens als Voraussetzung für richtiges konkretes handeln bieten. 28. Cf. J. MESSNER, Christliche Soziallehre unter Feuer, in: J. MESSNER, Ethik und Gesellschaft. Aufsätze 1965 - 1974, Köln 1975 (= Veröffentlichungen der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach), 385 f. (bereits 1966 veröffentlicht). - Cf. a. a. O., 389: "Daß allerdings christliche Soziallehre der ideologischen Verfärbung entgehen soll, kann nur annehmen, wer mit der Wissenschaftssoziologie und der ihr zugehörigen Ideologiekritik nicht vertraut ist. Denn für sie steht es wissenschaftlich fest, daß keine Gesellschaftslehre, welcher Art immer, der Beeinflussung durch die geschichtlich gegebene gesellschaftliche Verumständung zu entgehen vermag." 29. Christliche Soziallehre, 390; vgl. a. a. O., 389: Messner nannte als Beispiel (wiederum) eine naturrechtlich begründete Verbindung von "Thron und Altar".- Cf. Das Naturrecht, 341 f.: Gerne wird auf einen (inneren) Gegensatz innerhalb der (sog.) "christlichen Naturrechtsdoktrin" hingewiesen, nämlich auf die Ablehnung der absoluten Gewissensfreiheit und Meinungsfreiheit durch Papst Gregor XVI., andererseits auf die fast zur gleichen Zeit erfolgte Anerkennung der Religionsfreiheit und kirchlichen Parität in Deutschland durch Bischof v. Ketteler "unter den gegebenen Verhältnissen". Was diese Gegensätzlichkeit, aber auch die Unterschiedlichkeiten in der Haltung kirchlicher Stellen zur Frage der Staatsform angeht, so dürfte heute innerhalb und außerhalb der Naturrechtslehre zugegeben sein, daß es nicht eine ein für allemal gültige Konkretisierung von Naturrechtssätzen wie überhaupt von allgemeinen Rechtssätzen geben kann. Weil situationsbedingt, wird die Geltungsweise der naturrechtlichen Prinzipien für die für die Regelung der Schulfrage im Verhältnis der Konfessionen eine von Land zu Land verschiedene Form annehmen, besonders wenn die Verhältniszahlen der Religionszugehörigkeit oder die Lagerung der politischen Machtverhältnisse nur Kompromißlösungen möglich machen. 30. Christliche Soziallehre, 390. 31. Christliche Soziallehre, 391 f. 32. Cf. Das Naturrecht, 951. 33. Cf. J. MESSNER; Die soziale Frage im Blickfeld der Irrwege von gestern, der Sozialkämpfe von heute, der Weltentscheidungen von morgen von Dr. jur. utr., Dr. oec. pol. Johannes Messner, Professor der Ethik und Sozialwissenschaften an der Universität Wien, Innsbruck - Wien - München 6/1956, 293. 34. Cf. Das Naturrecht, 471 f. 35. Cf. Die soziale Frage, 602 ff. 36. Cf. Die soziale Frage, 602. 37. Cf. Das Naturrecht, 875 ff. 38. Cf. Das Naturrecht, 437. 39. Cf. Das Naturrecht, 227. 40. Weg des Katholizismus, 34. 41. Weg des Katholizismus, 36. [ENDE MEINES DAMALIGEN VORTRAGES.] UPDATE: Der Autor (Plagiator) hat mich am 11. Februar 2013 nachmittags angerufen und sich entschuldigt. Er werde die Quellen nachtragen, und es werde nicht mehr passieren. Aufgrund der mittlerweile erfolgten Quellenhinweise und der ehrlichen Stellungnahmen an den Publikationsorten habe ich am 20. Februar 2013 die Verlinkungen dorthin und die Benennung des Autors in Anerkennung der angemessenen Reaktion gelöscht. Wirklich unerhört, daß Leute Plagiate nötig haben und sich mit fremden Federn sowie Leistungen schmücken. Einen Artikel einfach zu kürzen, beim Kopieren fast keine Worte zu verändern sowie der Versuch der Anwendung der neuen Rechtschreibung sind eben damals und heute zu wenig, um nicht als Plagiator überführt zu werden ... Wenn jemand keine Zeit hat, Originalwerke auch zu lesen und zu studieren, dann soll er es zugeben und auch dazu stehen. Nur durch Öffentlichmachen kann jegliches Plagiieren gesellschaftlich immer weiter in die Defensive gedrängt und geächtet werden. Das meint Euer Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik am Fest der Bekehrung des heiligen Paulus! Saturday, December 15. 2012
ZUM MITREDEN DIE GANZE BOTSCHAFT ZUM ... Posted by Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
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14:00
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Da auch die neue Weltfriedensbotschaft für den 1. Januar 2013 nicht nur in Italien und Europa sofort einige Diskussionen ausgelöst hat und noch auslösen wird, übernehme ich dieselbe nicht erst im neuen Jahr, sondern schon ab heute, damit jene, die mitreden wollen, nicht lange weitersuchen müssen. Ich schließe mich Pater Lombardi vom vatikanischen Pressesaal voll und ganz an, der angesichts der fast schon gewohnten Reaktionen dazu aufrief, die ganze Botschaft zu lesen und nicht nur Teile. Damit steht aber ganz klar fest, daß sich Extremisten "auf beiden Seiten" irren: diese Botschaft soll wirklich dem universalen gesellschaftlichen Frieden dienen und nicht einer diskriminierenden oder fundamentalistischen Verhärtung. Das beweist vor allem auch der Abschnitt 7, in dem ausdrücklich aus einer mittlerweile bekannten anti-fundamentalistischen Ansprache des Papstes (Libanon) zitiert wird. Von großem Nachteil ist es bei den Klarstellungen Lombardis aber schon seit langem, daß die deutsche Sprache immer entweder gar nicht oder viel zu spät nachgeschoben wird. Lesen wir also einfach selbst den (von der Vatikanseite übernommenen) Text Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. für den Tag der Beschneidung des Herrn Jesus Christus, also den 1. Januar, der in weiten Teilen der lateinischen Kirche heute vor allem als Fest der wahren Gottesmutter Maria begangen wird:
BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST BENEDIKT XVI. ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES SELIG, DIE FRIEDEN STIFTEN 1. JEDES NEUE JAHR bringt die Erwartung einer besseren Welt mit sich. In dieser Perspektive bitte ich Gott, den Vater der Menschheit, uns Eintracht und Frieden zu gewähren, damit für alle das Streben nach einem glücklichen, gedeihlichen Leben Erfüllung finden könne. Fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, das eine Stärkung der Sendung der Kirche in der Welt ermöglicht hat, ist es ermutigend festzustellen, daß die Christen als Volk Gottes, das in Gemeinschaft mit Gott lebt und unter den Menschen unterwegs ist, sich in der Geschichte engagieren, indem sie Freude und Hoffnung, Trauer und Angst [Anm. 1 = Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonstitution über die Welt von heute Gaudium et spes, 1.] teilen, das Heil Christi verkünden und den Frieden für alle fördern. Unsere Zeit, die durch die Globalisierung mit ihren positiven wie negativen Aspekten und durch weiter andauernde blutige Konflikte und drohende Kriege gekennzeichnet ist, erfordert in der Tat einen erneuten und einhelligen Einsatz in dem Bemühen um das Gemeinwohl wie um die Entwicklung aller Menschen und des ganzen Menschen. Alarmierend sind die Spannungen und Konfliktherde, deren Ursache in der zunehmenden Ungleichheit zwischen Reichen und Armen wie in der Dominanz einer egoistischen und individualistischen Mentalität liegen, die sich auch in einem ungeregelten Finanzkapitalismus ausdrückt. Außer den verschiedenen Formen von Terrorismus und internationaler Kriminalität sind für den Frieden jene Fundamentalismen und Fanatismen gefährlich, die das wahre Wesen der Religion verzerren, die ja berufen ist, die Gemeinschaft und die Versöhnung unter den Menschen zu fördern. Und doch bezeugen die vielfältigen Werke des Friedens, an denen die Welt reich ist, die angeborene Berufung der Menschheit zum Frieden. Jedem Menschen ist der Wunsch nach Frieden wesenseigen und deckt sich in gewisser Weise mit dem Wunsch nach einem erfüllten, glücklichen und gut verwirklichten Leben. Mit anderen Worten, der Wunsch nach Frieden entspricht einem grundlegenden moralischen Prinzip, d. h. dem Recht auf eine ganzheitliche, soziale, gemeinschaftliche Entwicklung mit den dazu gehörenden Pflichten, und das ist Teil des Planes Gottes für den Menschen. Der Mensch ist geschaffen für den Frieden, der ein Geschenk Gottes ist. All das hat mich angeregt, für diese Botschaft von den Worten Jesu Christi auszugehen: »Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden« (Mt 5,9). Die Seligpreisungen 2. Die von Jesus verkündeten Seligpreisungen (vgl. Mt 5,3 - 12; Lk 6,20 - 23) sind Verheißungen. In der biblischen Überlieferung stellen die Seligpreisungen nämlich ein literarisches Genus dar, das immer eine gute Nachricht, d. h. ein Evangelium enthält, das in einer Verheißung gipfelt. Die Seligpreisungen sind also nicht nur moralische Empfehlungen, deren Befolgung zu gegebener Zeit – die gewöhnlich im anderen Leben liegt – eine Belohnung bzw. eine Situation zukünftigen Glücks vorsieht. Die Seligkeit besteht vielmehr in der Erfüllung einer Verheißung, die an alle gerichtet ist, die sich von den Erfordernissen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe leiten lassen. Die auf Gott und seine Verheißungen vertrauen, erscheinen in den Augen der Welt häufig einfältig und realitätsfern. Nun, Jesus verkündet ihnen, daß sie nicht erst im anderen, sondern bereits in diesem Leben entdecken werden, daß sie Kinder Gottes sind und daß Gott ihnen gegenüber von jeher und für immer solidarisch ist. Sie werden verstehen, daß sie nicht allein sind, weil er auf der Seite derer steht, die sich für die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Liebe einsetzen. Jesus offenbart die Liebe des Vaters; er zögert nicht, sich selbst hinzugeben und als Opfer darzubringen. Wenn man Jesus Christus, den Gottmenschen, aufnimmt, erfährt man die Freude an einem unermeßlichen Geschenk: die Teilhabe am Leben Gottes selbst, das heißt das Leben der Gnade, Unterpfand eines vollkommen glücklichen Lebens. Jesus Christus schenkt uns im besonderen den wahren Frieden, der aus der vertrauensvollen Begegnung des Menschen mit Gott hervorgeht. Die Seligpreisung Jesu besagt, daß der Friede messianisches Geschenk und zugleich Ergebnis menschlichen Bemühens ist. Tatsächlich setzt der Friede einen auf die Transzendenz hin offenen Humanismus voraus. Er ist Frucht der wechselseitigen Gabe, einer gegenseitigen Bereicherung, dank dem Geschenk, das von Gott ausgeht und ermöglicht, mit den anderen und für die anderen zu leben. Die Ethik des Friedens ist eine Ethik der Gemeinschaft und des Teilens. Es ist also unerläßlich, daß die verschiedenen heutigen Kulturen Anthropologien und Ethiken überwinden, die auf rein subjektivistischen und pragmatischen theoretisch-praktischen Annahmen beruhen. Dadurch werden die Beziehungen des Zusammenlebens nach Kriterien der Macht oder des Profits ausgerichtet, die Mittel werden zum Zweck und umgekehrt, und die Kultur wie auch die Erziehung haben allein die Instrumente, die Technik und die Effizienz im Auge. Eine Voraussetzung für den Frieden ist die Entkräftung der Diktatur des Relativismus und der These einer völlig autonomen Moral, welche die Anerkennung eines von Gott in das Gewissen eines jeden Menschen eingeschriebenen, unabdingbaren natürlichen Sittengesetzes verhindert. Der Friede ist der Aufbau des Zusammenlebens unter rationalen und moralischen Gesichtspunkten auf einem Fundament, dessen Maßstab nicht vom Menschen, sondern von Gott geschaffen ist. »Der Herr gebe Kraft seinem Volk. Der Herr segne sein Volk mit Frieden«, sagt Psalm 29 (vgl. V. 11). Der Friede: Gabe Gottes und Frucht menschlichen Bemühens 3. Der Friede betrifft die Person in ihrer Ganzheit und impliziert die Einbeziehung des ganzen Menschen. Er ist Friede mit Gott, wenn man gemäß seinem Willen lebt. Er ist innerer Friede mit sich selbst, er ist äußerer Friede mit dem Nächsten und mit der gesamten Schöpfung. Wie der selige Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in terris schrieb, deren Veröffentlichung sich in einigen Monaten zum fünfzigsten Mal jährt, bedingt der Friede hauptsächlich den Aufbau eines auf Wahrheit, Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit gegründeten Zusammenlebens.[Anm. 2 = Vgl. Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963): AAS 55 (1963), 265 - 266.] Die Leugnung dessen, was die wahre Natur des Menschen ausmacht – in seinen wesentlichen Dimensionen, in der ihm innewohnenden Fähigkeit, das Wahre und das Gute, letztlich Gott selbst zu erkennen –, gefährdet den Aufbau des Friedens. Ohne die Wahrheit über den Menschen, die vom Schöpfer in sein Herz eingeschrieben ist, werden die Freiheit und die Liebe herabgewürdigt, und die Gerechtigkeit verliert die Basis für ihre praktische Anwendung. Um authentische Friedensstifter zu werden, ist zweierlei grundlegend: die Beachtung der transzendenten Dimension und das ständige Gespräch mit Gott, dem barmherzigen Vater, durch das man die Erlösung erfleht, die sein eingeborener Sohn uns erworben hat. So kann der Mensch jenen Keim der Trübung und der Verneinung des Friedens besiegen, der die Sünde in all ihren Formen ist: Egoismus und Gewalt, Habgier, Machtstreben und Herrschsucht, Intoleranz, Haß und ungerechte Strukturen. Die Verwirklichung des Friedens hängt vor allem davon ab anzuerkennen, daß in Gott alle eine einzige Menschheitsfamilie bilden. Wie die Enzyklika Pacem in terris lehrte, ist diese durch zwischenmenschliche Beziehungen und durch Institutionen gegliedert, die von einem gemeinschaftlichen „Wir“ getragen und belebt werden, das eine innere und äußere Sittenordnung einschließt, in der ehrlich – gemäß der Wahrheit und der Gerechtigkeit – die wechselseitigen Rechte und Pflichten anerkannt werden. Der Friede ist eine Ordnung, die belebt und ergänzt wird von der Liebe, so daß man die Nöte und Erfordernisse der anderen wie eigene empfindet, die anderen teilhaben läßt an den eigenen Gütern und die Gemeinschaft der geistigen Werte in der Welt eine immer weitere Verbreitung findet. Der Friede ist eine in Freiheit verwirklichte Ordnung, und zwar in einer Weise, die der Würde der Menschen angemessen ist, die aufgrund ihrer rationalen Natur die Verantwortung für ihr Tun übernehmen.[Anm. 3 = Vgl. Enzyklika Pacem in terris (11. April 1063): AAS 55 (1963), 266.] Der Friede ist kein Traum, keine Utopie: Er ist möglich. Unsere Augen müssen mehr in die Tiefe schauen, unter die Oberfläche des äußeren Anscheins, um eine positive Wirklichkeit zu erblicken, die in den Herzen existiert. Denn jeder Mensch ist nach dem Bild Gottes erschaffen und dazu berufen, zu wachsen, indem er zum Aufbau einer neuen Welt beiträgt. Gott selber ist ja durch die Inkarnation seines Sohnes und durch die durch ihn erwirkte Erlösung in die Geschichte eingetreten, indem er eine neue Schöpfung erstehen ließ und einen neuen Bund zwischen Gott und den Menschen schloß (vgl. Jer 31,31 - 34) und uns so die Möglichkeit gegeben hat, »ein neues Herz« und »einen neuen Geist« (Ez 36,26) zu haben. Eben deshalb ist die Kirche überzeugt, daß die Dringlichkeit besteht, Jesus Christus, den ersten und hauptsächlichen Urheber der ganzheitlichen Entwicklung der Völker und auch des Friedens, neu zu verkünden. Jesus ist nämlich unser Friede, unsere Gerechtigkeit, unsere Versöhnung (vgl. Eph 2,14; 2 Kor 5,18). Friedensstifter im Sinne der Seligpreisung Jesu ist derjenige, der das Wohl des anderen sucht, das umfassende Wohl von Seele und Leib, heute und morgen. Aus dieser Lehre kann man entnehmen, daß jeder Mensch und jede Gemeinschaft – religiösen wie zivilen Charakters, im Erziehungswesen wie in der Kultur – berufen ist, den Frieden zu bewirken. Der Friede ist hauptsächlich die Verwirklichung des Gemeinwohls der verschiedenen Gesellschaften, auf primärer, mittlerer, nationaler, internationaler Ebene und weltweit. Genau deshalb kann man annehmen, daß die Wege zur Verwirklichung des Gemeinwohls auch die Wege sind, die beschritten werden müssen, um zum Frieden zu gelangen. Friedensstifter sind diejenigen, die das Leben in seiner Ganzheit lieben, verteidigen und fördern 4. Ein Weg zur Verwirklichung des Gemeinwohls und des Friedens ist vor allem die Achtung vor dem menschlichen Leben, unter seinen vielfältigen Aspekten gesehen, von seiner Empfängnis an, in seiner Entwicklung und bis zu seinem natürlichen Ende. Wahre Friedensstifter sind also diejenigen, die das menschliche Leben in all seinen Dimensionen – der persönlichen, gemeinschaftlichen und der transzendenten – lieben, verteidigen und fördern. Das Leben in Fülle ist der Gipfel des Friedens. Wer den Frieden will, kann keine Angriffe und Verbrechen gegen das Leben dulden. Wer den Wert des menschlichen Lebens nicht ausreichend würdigt und folglich zum Beispiel die Liberalisierung der Abtreibung unterstützt, macht sich vielleicht nicht klar, daß auf diese Weise die Verfolgung eines illusorischen Friedens vorgeschlagen wird. Die Flucht vor der Verantwortung, die den Menschen entwürdigt, und noch mehr die Tötung eines wehrlosen, unschuldigen Wesens, können niemals Glück oder Frieden schaffen. Wie kann man denn meinen, den Frieden, die ganzheitliche Entwicklung der Völker oder selbst den Umweltschutz zu verwirklichen, ohne daß das Recht der Schwächsten auf Leben – angefangen bei den Ungeborenen – geschützt wird? Jede dem Leben zugefügte Verletzung, besonders an dessen Beginn, verursacht unweigerlich irreparable Schäden für die Entwicklung, den Frieden und die Umwelt. Es ist auch nicht recht, auf raffinierte Weise Scheinrechte oder willkürliche Freiheiten zu kodifizieren, die auf einer beschränkten und relativistischen Sicht des Menschen sowie auf dem geschickten Gebrauch von doppeldeutigen, auf die Begünstigung eines angeblichen Rechts auf Abtreibung und Euthanasie abzielenden Begriffen beruhen, letztlich aber das Grundrecht auf Leben bedrohen. Auch die natürliche Struktur der Ehe als Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau muß anerkannt und gefördert werden gegenüber den Versuchen, sie rechtlich gleichzustellen mit radikal anderen Formen der Verbindung, die in Wirklichkeit die Ehe beschädigen und zu ihrer Destabilisierung beitragen, indem sie ihren besonderen Charakter und ihre unersetzliche gesellschaftliche Rolle verdunkeln. Diese Grundsätze sind keine Glaubenswahrheiten, noch sind sie nur eine Ableitung aus dem Recht auf Religionsfreiheit. Sie sind in die menschliche Natur selbst eingeschrieben, mit der Vernunft erkennbar und so der gesamten Menschheit gemeinsam. Der Einsatz der Kirche zu ihrer Förderung hat also keinen konfessionellen Charakter, sondern ist an alle Menschen gerichtet, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit. Solch ein Einsatz ist um so nötiger, je mehr diese Grundsätze geleugnet oder falsch verstanden werden, denn das stellt eine Beleidigung der Wahrheit des Menschen dar, eine schwere Verletzung der Gerechtigkeit und des Friedens. Darum ist es auch ein wichtiger Beitrag zum Frieden, wenn die Rechtsordnungen und die Rechtsprechung die Möglichkeit anerkennen, vom Recht auf Einwand aus Gewissensgründen gegenüber Gesetzen und Regierungsmaßnahmen Gebrauch zu machen, die – wie Abtreibung und Euthanasie – die Menschenwürde gefährden. Zu den auch für das friedliche Leben der Völker fundamentalen Menschenrechten gehört das Recht der einzelnen und der Gemeinschaften auf Religionsfreiheit. In diesem geschichtlichen Moment wird es immer wichtiger, daß dieses Recht nicht nur in negativer Deutung als Freiheit von – zum Beispiel von Verpflichtungen und Zwängen in bezug auf die Freiheit, die eigene Religion zu wählen – gefördert wird, sondern auch in positiver Deutung in ihren verschiedenen Ausdrucksformen als Freiheit zu: zum Beispiel die eigene Religion zu bezeugen, ihre Lehre zu verkünden und mitzuteilen; Aktivitäten auf dem Gebiet der Erziehung, der Wohltätigkeit und der Betreuung auszuüben, die es erlauben, die religiösen Vorschriften anzuwenden; als soziale Einrichtungen zu existieren und zu handeln, die entsprechend den ihnen eigenen lehrmäßigen Grundsätzen und institutionellen Zielen strukturiert sind. Leider nehmen auch in Ländern alter christlicher Tradition Zwischenfälle von religiöser Intoleranz zu, speziell gegen das Christentum und gegen die, welche einfach Identitätszeichen der eigenen Religion tragen. Der Friedensstifter muß sich auch vor Augen halten, daß in wachsenden Teilen der öffentlichen Meinung die Ideologien des radikalen Wirtschaftsliberalismus und der Technokratie die Überzeugung erwecken, daß das Wirtschaftswachstum auch um den Preis eines Schwunds der sozialen Funktion des Staates und der Netze der Solidarität der Zivilgesellschaft sowie der sozialen Rechte und Pflichten zu verfolgen sei. Dabei muß man bedenken, daß diese Rechte und Pflichten grundlegend sind für die volle Verwirklichung weiterer Rechte und Pflichten, angefangen bei den zivilen und politischen. Zu den heute am meisten bedrohten sozialen Rechten und Pflichten gehört das Recht auf Arbeit. Das ist dadurch bedingt, daß in zunehmendem Maß die Arbeit und die rechte Anerkennung des Rechtsstatus der Arbeiter nicht angemessen zur Geltung gebracht werden, weil die wirtschaftliche Entwicklung vor allem auf der völligen Freiheit der Märkte basiere. So wird die Arbeit als eine abhängige Variable der Wirtschafts- und Finanzmechanismen angesehen. In diesem Zusammenhang betone ich noch einmal, daß die Würde des Menschen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erfordernisse verlangen, »daß als Priorität weiterhin das Ziel verfolgt wird, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen und für den Erhalt ihrer Arbeitsmöglichkeit zu sorgen«.[Anm. 4 = BENEDIKT XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 32: AAS 101 (2009), 666 - 667.] Voraussetzung im Hinblick auf die Verwirklichung dieses ehrgeizigen Ziels ist eine neue, auf ethischen Prinzipien und geistigen Werten beruhende Sicht der Arbeit, die ihr Verständnis als fundamentales Gut für die Person, die Familie und die Gesellschaft stärkt. Einem solchen Gut entsprechen eine Pflicht und ein Recht, die mutige und neue Formen der Arbeitspolitik für alle erfordern. Das Gut des Friedens schaffen durch ein neues Entwicklungs- und Wirtschaftsmodell 5. Von mehreren Seiten wird erkannt, daß es heute eines neuen Entwicklungsmodells wie auch eines neuen Blicks auf die Wirtschaft bedarf. Sowohl eine ganzheitliche, solidarische und nachhaltige Entwicklung als auch das Gemeinwohl verlangen eine richtige Werteskala, die aufgestellt werden kann, wenn man Gott als letzten Bezugspunkt hat. Es genügt nicht, viele Mittel und viele – auch schätzenswerte – Wahlmöglichkeiten zu haben. Sowohl die vielfältigen, für die Entwicklung zweckmäßigen Güter als auch die Wahlmöglichkeiten müssen unter dem Aspekt eines guten Lebens, eines rechten Verhaltens genutzt werden, das den Primat der geistigen Dimension und den Aufruf zur Verwirklichung des Gemeinwohls anerkennt. Andernfalls verlieren sie ihre richtige Wertigkeit und werden letztlich zu neuen Götzen. Um aus der augenblicklichen Finanz- und Wirtschaftskrise – die ein Anwachsen der Ungleichheiten zur Folge hat – herauszukommen, sind Personen, Gruppen und Institutionen notwendig, die das Leben fördern, indem sie die menschliche Kreativität begünstigen, um sogar aus der Krise eine Chance für Einsicht und ein neues Wirtschaftsmodell zu gewinnen. Das in den letzten Jahrzehnten vorherrschende Wirtschaftsmodell forderte die größtmögliche Steigerung des Profits und des Konsums in einer individualistischen und egoistischen Sicht, die darauf ausgerichtet war, die Menschen nur nach ihrer Eignung zu bewerten, den Anforderungen der Konkurrenzfähigkeit zu entsprechen. Aus einer anderen Perspektive erreicht man dagegen den wahren und dauerhaften Erfolg durch Selbsthingabe, durch den Einsatz seiner intellektuellen Fähigkeiten und seines Unternehmungsgeistes, denn die lebbare, das heißt authentisch menschliche wirtschaftliche Entwicklung braucht das Prinzip der Unentgeltlichkeit als Ausdruck der Brüderlichkeit und der Logik der Gabe.[Anm. 5 = BENEDIKT XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 34 und 36: AAS 101 (2009), 668 - 670 und 671 - 672.] Konkret zeigt sich in der wirtschaftlichen Aktivität der Friedensstifter als derjenige, der mit den Mitarbeitern und den Kollegen, mit den Auftraggebern und den Verbrauchern Beziehungen der Fairneß und der Gegenseitigkeit knüpft. Er übt die wirtschaftliche Aktivität für das Gemeinwohl aus, lebt seinen Einsatz als etwas, das über die eigenen Interessen hinausgeht, zum Wohl der gegenwärtigen und der kommenden Generationen. So arbeitet er nicht nur für sich selbst, sondern auch, um den anderen eine Zukunft und eine würdige Arbeit zu geben. Im wirtschaftlichen Bereich ist – besonders seitens der Staaten – eine Politik der industriellen und landwirtschaftlichen Entwicklung erforderlich, die den sozialen Fortschritt und die Ausbreitung eines demokratischen Rechtsstaates im Auge hat. Grundlegend und unumgänglich ist außerdem die ethische Strukturierung der Währungs-, Finanz- und Handelsmärkte; sie müssen stabilisiert und besser koordiniert und kontrolliert werden, damit sie nicht den Ärmsten Schaden zufügen. Die Sorge der zahlreichen Friedensstifter muß sich außerdem – mit größerer Entschiedenheit, als das bis heute geschehen ist – der Nahrungsmittelkrise zuwenden, die weit schwerwiegender ist als die Finanzkrise. Das Thema der Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung ist aufgrund von Krisen, die unter anderem mit plötzlichen Preisschwankungen bei den landwirtschaftlichen Grundprodukten, mit verantwortungslosem Verhalten einiger Wirtschaftsunternehmer und mit unzureichender Kontrolle durch die Regierungen und die Internationale Gemeinschaft zusammenhängen, erneut ins Zentrum der Tagesordnung der internationalen Politik gerückt. Um dieser Versorgungskrise zu begegnen, sind die Friedensstifter aufgerufen, gemeinsam im Geist der Solidarität von der lokalen bis hin zur internationalen Ebene zu wirken, mit dem Ziel, die Bauern, besonders in den kleinen Landwirtschaftsbetrieben, in die Lage zu versetzen, ihre Tätigkeit würdig, sozial vertretbar, umweltfreundlich und wirtschaftlich nachhaltig zu entfalten. Erziehung zu einer Kultur des Friedens: die Rolle der Familie und der Institutionen 6. Mit Nachdruck möchte ich noch einmal betonen, daß die zahlreichen Friedensstifter aufgerufen sind, sich mit ganzer Hingabe für das allgemeine Wohl der Familie und für die soziale Gerechtigkeit sowie für eine wirksame soziale Erziehung einzusetzen. Niemand darf die entscheidende Rolle der Familie, die unter demographischem, ethischem, pädagogischem, wirtschaftlichem und politischem Gesichtspunkt die Grundzelle der Gesellschaft ist, übersehen oder unterbewerten. Sie hat eine natürliche Berufung, das Leben zu fördern: Sie begleitet die Menschen in ihrem Wachsen und fordert sie auf, durch gegenseitige Fürsorge einander zu stärken. Insbesondere die christliche Familie trägt in sich den Urplan der Erziehung der Menschen nach dem Maß der göttlichen Liebe. Die Familie ist einer der unverzichtbaren Gesellschaftsträger in der Verwirklichung einer Kultur des Friedens. Das Recht der Eltern und ihre vorrangige Rolle in der Erziehung der Kinder – an erster Stelle im moralischen und religiösen Bereich – müssen geschützt werden. In der Familie werden die Friedensstifter, die zukünftigen Förderer einer Kultur des Lebens und der Liebe, geboren und wachsen in ihr heran.[Anm. 6 = Vgl. JOHANNES PAUL II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1994 (8. Dezember 1993): AAS 86 (1994), 156 - 162.] In diese ungeheure Aufgabe der Erziehung zum Frieden sind besonders die Religionsgemeinschaften einbezogen. Die Kirche fühlt sich an einer so großen Verantwortung beteiligt durch die neue Evangelisierung, deren Angelpunkte die Bekehrung zur Wahrheit und zur Liebe Christi und infolgedessen die geistige und moralische Wiedergeburt der Menschen und der Gesellschaften sind. Die Begegnung mit Jesus Christus formt die Friedensstifter, indem sie sie zur Gemeinschaft und zur Überwindung des Unrechts anhält. Ein besonderer Auftrag gegenüber dem Frieden wird von den kulturellen Einrichtungen, den Schulen und den Universitäten wahrgenommen. Von diesen wird ein beachtlicher Beitrag nicht nur zur Ausbildung zukünftiger Generationen von Führungskräften, sondern auch zur Erneuerung der öffentlichen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene erwartet. Sie können auch zu einer wissenschaftlichen Überlegung beisteuern, welche die Wirtschafts- und Finanzaktivitäten in einem soliden anthropologischen und ethischen Fundament verankert. Die Welt von heute, besonders die der Politik, braucht den Halt eines neuen Denkens, einer neuen kulturellen Synthese, um Technizismen zu überwinden und die mannigfaltigen politischen Tendenzen im Hinblick auf das Gemeinwohl aufeinander abzustimmen. Als ein Ganzes aus positiven zwischenmenschlichen und institutionellen Beziehungen im Dienst des ganzheitlichen Wachstums der einzelnen und der Gruppen gesehen, ist das Gemeinwohl die Basis für jede wahre Erziehung zum Frieden. Eine Pädagogik des Friedensstifters 7. So ergibt sich schließlich die Notwendigkeit, eine Pädagogik des Friedens vorzuschlagen und zu fördern. Sie verlangt ein reiches inneres Leben, klare und gute moralische Bezüge, ein entsprechendes Verhalten und einen angemessenen Lebensstil. Tatsächlich tragen die Werke des Friedens zur Verwirklichung des Gemeinwohls bei und wecken das Interesse für den Frieden, erziehen zu ihm. Gedanken, Worte und Gesten des Friedens schaffen eine Mentalität und eine Kultur des Friedens, eine Atmosphäre der Achtung, der Rechtschaffenheit und der Herzlichkeit. Man muß also die Menschen lehren, einander zu lieben und zum Frieden zu erziehen sowie über bloße Toleranz hinaus einander mit Wohlwollen zu begegnen. Der grundsätzliche Aufruf ist der, »nein zur Rache zu sagen, eigene Fehler einzugestehen, Entschuldigungen anzunehmen, ohne sie zu suchen, und schließlich zu vergeben«[Anm. 7 = BENEDIKT XVI., Ansprache anläßlich der Begegnung mit den Mitgliedern der Regierung, der Institutionen des Staates, mit dem Diplomatischen Corps, den Verantwortungsträgern der Religionen und den Vertretern der Welt der Kultur, Baabda, Libanon (15. September 2012)], sodaß Fehler und Beleidigungen in Wahrheit eingestanden werden können, um gemeinsam der Versöhnung entgegenzugehen. Das verlangt die Verbreitung einer Pädagogik der Vergebung. Denn das Böse wird durch das Gute besiegt, und die Gerechtigkeit muß in der Nachahmung Gottvaters gesucht werden, der all seine Kinder liebt (vgl. Mt 5,21 - 48). Es ist eine langwierige Arbeit, denn sie setzt eine geistige Entwicklung, eine Erziehung zu den höheren Werten und eine neue Sicht der menschlichen Geschichte voraus. Man muß auf den falschen Frieden, den die Götzen dieser Welt versprechen, verzichten und so die Gefahren, die ihn begleiten, umgehen: auf jenen falschen Frieden, der die Gewissen immer mehr abstumpft, der zum Rückzug in sich selbst und zu einem verkümmerten Leben in Gleichgültigkeit führt. Im Gegensatz dazu bedeutet die Pädagogik des Friedens aktives Handeln, Mitleid, Solidarität, Mut und Ausdauer. Jesus verkörpert das Ganze dieser Verhaltensweisen in seinem Leben bis zur völligen Selbsthingabe, bis dahin, das Leben zu »verlieren« (vgl. Mt 10,39; Lk 17,33; Joh 12,25). Er verspricht seinen Jüngern, daß sie früher oder später die außerordentliche Entdeckung machen werden, von der wir zu Anfang gesprochen haben, daß es nämlich in der Welt Gott gibt, den Gott Jesu Christi, der ganz und gar solidarisch mit den Menschen ist. In diesem Zusammenhang möchte ich an das Gebet erinnern, in dem wir Gott darum bitten, daß er uns zu einem Werkzeug seines Friedens mache, um seine Liebe zu bringen, wo Haß herrscht, seine Vergebung, wo Kränkung verletzt, den wahren Glauben, wo Zweifel droht. Gemeinsam mit dem seligen Johannes XXIII. wollen wir unsererseits Gott bitten, er möge die Verantwortlichen der Völker erleuchten, damit sie neben der Sorge für den rechten Wohlstand ihrer Bürger für das wertvolle Geschenk des Friedens bürgen und es verteidigen; er möge den Willen aller entzünden, die trennenden Barrieren zu überwinden, die Bande gegenseitiger Liebe zu festigen, die anderen zu verstehen und denen zu verzeihen, die Kränkung verursacht haben, so daß kraft seines Handelns alle Völker der Erde sich verbrüdern und unter ihnen immer der so sehr ersehnte Friede blühe und herrsche.[Anm. 8 = Vgl. Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963): AAS 55 (1963), 304.] Mit dieser Bitte verbinde ich den Wunsch, daß alle als wahre Friedensstifter an dessen Aufbau mitwirken, so daß das Gemeinwesen der Menschen in brüderlicher Eintracht, in Wohlstand und in Frieden wachse. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2012 BENEDICTUS PP XVI [ENDE DER WELTFRIEDENSBOTSCHAFT DES PAPSTES FÜR 2013.] Gerne können wir hier oder auf Twitter darüber sprechen und diskutieren. So wünsche ich allen Leserinnen und Lesern von Herzen eine gute dritte Adventwoche, einen kurzen 4. Advent und schließlich gnadenreiche Weihnachten! Euer Padre Alex - Dr. Alexander Pytlik Sunday, September 16. 2012
NACH DER NAHOSTSYNODE: APOSTOLISCHES ... Posted by Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
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21:00
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Der Besuch Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. im Libanon ist der krönende Abschluß eines äußerst wichtigen Nachdenkprozesses der ganzen Katholischen Kirche und ihrer führenden Hierarchen über die Präsenz der Christen im Nahen Osten und über die unabdingbare Notwendigkeit echter Religionsfreiheit im friedlichen Zusammenleben der Staaten, Völker und Religionen auf der ganzen Welt. Begonnen hatte dieser durch politische und gesellschaftliche Veränderungen in Nordafrika und im Nahen Osten mittlerweile noch wichtiger gewordene Vorgang gewissermaßen mit dem ersten Besuch eines Papstes in Zypern. Dann folgte die Sonderversammlung der römischen Bischofssynode, und nun kann ihre Abschlußbotschaft ("Nuntius"), die bei mir schon lange in deutscher Sprache abrufbar ist, mit dem vom Heiligen Vater Papst Benedikt XVI. selbst hergestellten Endergebnis seines somit nachsynodalen Apostolischen Schreibens über die Kirche im Nahen Osten ("Ecclesia in Medio Oriente") verglichen werden, was am heutigen Sonntag in der Heiligen Papstmesse den Patriarchen und Bischöfen in Beirut feierlich überreicht wurde. Ich übernahm dazu die deutsche Übersetzung aus dem vom Heiligen Stuhl angebotenen PDF-Dokument (vgl. das HTML-Dokument), wobei von mir sämtliche Anmerkungen direkt in den Text eingebaut und Linkverbindungen hergestellt wurden:
NACHSYNODALES APOSTOLISCHES SCHREIBEN ECCLESIA IN MEDIO ORIENTE SEINER HEILIGKEIT PAPST BENEDIKT XVI. AN DIE PATRIARCHEN, DIE BISCHÖFE, DEN KLERUS, DIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENS UND AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN ÜBER DIE KIRCHE IM NAHEN OSTEN, GEMEINSCHAFT UND ZEUGNIS EINLEITUNG 1. DIE KIRCHE im Nahen Osten, die seit den Anfängen des christlichen Glaubens in diesem gesegneten Land pilgernd unterwegs ist, gibt auch heute weiterhin mutig ihr Zeugnis, das Frucht eines Lebens der Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten ist. Gemeinschaft und Zeugnis! Das war in der Tat die Grundhaltung, welche die Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten einnahm, die sich vom 10. bis zum 24. Oktober 2010 zum Thema "Die katholische Kirche im Nahen Osten, Gemeinschaft und Zeugnis" um den Nachfolger Petri zusammengefunden hatte. "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32). 2. Zu Beginn dieses dritten Jahrtausends möchte ich diese Grundhaltung, die ihre Kraft aus Jesus Christus bezieht, allen Hirten der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche für ihren pastoralen Dienst empfehlen, in besonderer Weise den verehrten Mitbrüdern, die als Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe in Einheit mit dem Bischof von Rom gemeinsam über die katholische Kirche im Nahen Osten wachen. In dieser Region leben einheimische Gläubige, die den ehrwürdigen katholischen Ostkirchen sui iuris angehören: Das sind die Koptische Patriarchialkirche von Alexandrien; die drei Patriarchialkirchen von Antiochien: die der griechischen Melkiten, die der Syrer und die der Maroniten; die Chaldäische Patriarchialkirche von Babylon und das Armenische Patriarchat von Kilikien. Es leben dort ebenfalls Bischöfe, Priester und Gläubige, die zur lateinischen Kirche gehören. Außerdem gibt es Priester und Gläubige, die aus Indien gekommen sind, aus den Großerzbischöflichen Kirchen der Syro-Malabaresen von Ernakulam-Angamaly und der Syro-Malankaresen von Trivandrum, sowie aus den anderen orientalischen und lateinischen Kirchen Asiens und Osteuropas wie auch zahlreiche Gläubige aus Äthiopien und aus Eritrea. Gemeinsam geben sie Zeugnis für die Einheit des Glaubens in der Verschiedenheit ihrer Traditionen. Ich möchte diese Grundhaltung auch allen Priestern, Ordensleuten und gläubigen Laien des Nahen Ostens empfehlen, weil ich überzeugt bin, daß sie den Dienst oder das Apostolat jedes einzelnen in seiner jeweiligen Kirche beleben wird, gemäß dem Charisma, das sie vom Heiligen Geist für den Aufbau des Ganzen erhalten hat. 3. In bezug auf den christlichen Glauben ist die "Gemeinschaft … das Leben Gottes, das sich im Heiligen Geist mitteilt, durch Jesus Christus“ (Anmerkung 1: BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe zur Eröffnung der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [10. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 805). Sie ist eine Gabe Gottes, die unsere Freiheit herausfordert und unsere Antwort erwartet. Sicher liegt es in ihrem göttlichen Ursprung, daß die Gemeinschaft eine universale Bedeutung besitzt. Wenn sie die Christen aufgrund ihres gemeinsamen apostolischen Glaubens zwingend herausfordert, so bleibt sie doch nicht weniger offen für unsere jüdischen und muslimischen Brüder wie auch für alle Menschen, die ebenfalls – unter verschiedenen Formen – dem Volk Gottes zugeordnet sind. Die katholische Kirche im Nahen Osten weiß, daß sie diese Gemeinschaft auf ökumenischer und interreligiöser Ebene nicht vollständig zum Ausdruck bringen kann, wenn sie sie nicht zuallererst in sich selber und im Innern einer jeden ihrer Kirchen unter allen ihren Gliedern – Patriarchen, Bischöfen, Priestern, Ordensleuten, geweihten Personen und Laien – neu belebt. Die Vertiefung des persönlichen Glaubenslebens und die geistliche Erneuerung innerhalb der katholischen Kirche werden die Fülle des Gnadenlebens und die Theosis (Vergöttlichung) ermöglichen.(Anmerkung 2: Vgl. Propositio 4.) So wird dem Zeugnis Glaubwürdigkeit verliehen. 4. Das Beispiel der ersten Gemeinde von Jerusalem kann als Vorbild dienen, um die jetzige christliche Gemeinde zu erneuern, sodaß sie zu einem Ort der Gemeinschaft für das Zeugnis wird. Die Apostelgeschichte bietet ja eine erste einfache und eindrückliche Beschreibung dieser Gemeinde, die am Pfingsttag geboren wurde: eine Gemeinde von Gläubigen, die ein Herz und eine Seele sind (vgl. 4,32). Von Anfang an existiert zwischen dem Glauben an Jesus und der kirchlichen Gemeinschaft eine grundlegende Verbindung, die durch die beiden austauschbaren Begriffe bezeichnet wird: ein Herz und eine Seele. Die Gemeinschaft ist also gar nicht das Ergebnis einer menschlichen Planung. Sie wird vor allem durch die Kraft des Heiligen Geistes gebildet, der in uns den Glauben zeugt, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Gal 5,6). 5. Nach der Apostelgeschichte erkennt man die Einheit der Gläubigen daran, daß sie "an der Lehre der Apostel fest[hielten] und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten" (2,42). Die Einheit der Gläubigen erhält also ihre Nahrung aus der Lehre der Apostel (der Verkündigung des Wortes Gottes), auf die die Gläubigen mit einem einhelligen Glauben antworten, aus der geschwisterlichen Gemeinschaft (dem Dienst der Nächstenliebe), aus dem Brechen des Brotes (der Eucharistie und der Gesamtheit der Sakramente) und aus dem persönlichen wie gemeinschaftlichen Gebet. Diese vier Pfeiler sind es, auf denen die Gemeinschaft und das Zeugnis innerhalb der ersten Gemeinde der Gläubigen beruhen. Möge die Kirche, die seit der apostolischen Zeit bis heute ununterbrochen im Nahen Osten präsent ist, im Beispiel dieser Gemeinde die Quellen finden, die nötig sind, um in sich die Erinnerung an die Ursprünge und deren apostolische Dynamik lebendig zu erhalten! 6. Die Teilnehmer der Synodenversammlung haben bei aller Verschiedenheit der geographischen, religiösen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Hintergründe die Einheit innerhalb der katholischen Kirche erfahren. Der gemeinsame Glaube wird in seinen unterschiedlichen theologischen, spirituellen, liturgischen und kanonischen Ausdruckformen erstaunlich gut gelebt und entfaltet. Wie meine Vorgänger auf dem Stuhl Petri bekräftige ich hier meinen Willen, daß "die Riten der orientalischen Kirchen als Erbe der ganzen Kirche Christi, in dem sowohl das aufstrahlt, was von den Aposteln über die Kirchenväter überliefert ist, als auch das, was die göttliche Einheit des katholischen Glaubens in seiner Verschiedenheit bestätigt, … gewissenhaft bewahrt und gefördert werden"(Anmerkung 3: Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Can. 39; vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, 1; JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 40: AAS 89 [1997], S. 346 - 347, wo das Thema der Einheit zwischen der gemeinsamen apostolischen Überlieferung und den kirchlichen Traditionen, die im Osten daraus hervorgegangen sind, behandelt wird) sollen. Und ich versichere meine lateinischen Mitchristen meiner Zuneigung, mit der ich – gemäß dem Gebot der Nächstenliebe, die in allem den Vorrang hat, und in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften – ihre Bedürfnisse und Nöte aufmerksam im Blick habe. ERSTER TEIL "Wir danken Gott für euch alle, sooft wir in unseren Gebeten an euch denken" (1 Thess 1,2) 7. Mit dieser Danksagung des heiligen Paulus möchte ich die Christen, die im Nahen Osten leben, grüßen und sie meines inständigen und fortwährenden Gebetes versichern. Die katholische Kirche und mit ihr die Gesamtheit der christlichen Gemeinschaft vergißt sie nicht und erkennt ihren altehrwürdigen Beitrag zum Aufbau des Leibes Christi dankbar an. Sie dankt ihnen für ihre Treue und versichert sie ihrer Liebe. Der Kontext 8. Innerlich bewegt erinnere ich mich an meine Reisen in den Nahen Osten. In diesem von Gott in besonderer Weise erwählten Land zogen die Patriarchen und Propheten umher. Es diente als Stätte der Inkarnation des Messias; es sah das Kreuz des Heilands aufragen, und es war Zeuge der Auferstehung des Erlösers sowie der Ausgießung des Heiligen Geistes. Durchwandert von den Aposteln, von Heiligen und vielen Kirchenvätern, war es der Schmelztiegel der ersten dogmatischen Formulierungen. Doch dieses gesegnete Land und die Völker, die dort wohnen, durchleben in dramatischer Weise menschliche Qualen. Wie viele Tote, wie viele durch menschliche Verblendung verwüstete Leben, wie viele Ängste und Demütigungen! Es könnte so scheinen, als gäbe es unter den Kindern Adams und Evas, die doch als Gottes Abbild erschaffen sind (vgl. Gen 1,27), nichts, das dem Verbrechen des Kain (vgl. Gen 4,6 - 10; 1 Joh 3,8 - 15) Einhalt zu gebieten vermag. Die durch die Schuld Kains gefestigte Sünde Adams bringt noch heute unaufhörlich Dornen und Disteln hervor (vgl. Gen 3,18). Wie traurig ist es, dieses gesegnete Land in seinen Kindern leiden zu sehen, die sich voller Grimm gegenseitig zerreißen und sterben! Die Christen wissen, daß nur Jesus, der durch Leiden und Tod zur Auferstehung gelangt ist, allen Bewohnern dieser Weltregion Heil und Frieden bringen kann (vgl. Apg 2,23 - 24.32 - 33). Er allein, Christus, der Sohn Gottes ist es, den wir bekennen! Bereuen wir also und kehren wir um, "damit die Sünden getilgt werden und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen läßt" (vgl. Apg 3,19 - 20). 9. Der Heiligen Schrift zufolge ist der Friede nicht nur ein Pakt oder ein Vertrag, der ein ruhiges Leben begünstigt, und seine Definition kann nicht auf ein bloßes Nichtvorhandensein von Krieg reduziert werden. Gemäß seiner hebräischen Etymologie bedeutet Friede: vollständig sein, heil sein, etwas vollenden, um seine Ganzheit wiederherzustellen. Er ist der Zustand des Menschen, der in Harmonie mit Gott, mit sich selbst, mit seinem Nächsten und mit der Natur lebt. Der Friede ist eher ein innerer als ein äußerer Zustand. Er ist ein Segen. Er ist der Wunsch nach einer Wirklichkeit. Der Friede ist so erstrebenswert, daß er im Nahen Osten zu einem Grußwort geworden ist (vgl. Joh 20,19; 1 Petr 5,14). Der Friede ist Gerechtigkeit (vgl. Jes 32,17), und der heilige Jakobus fügt in seinem Brief hinzu: "Wo Frieden herrscht, wird für die Menschen, die Frieden stiften, die Saat der Gerechtigkeit ausgestreut" (3,18). Der Kampf der Propheten und die Überlegungen der Weisheitsliteratur waren ein Ringen und ein Anspruch im Hinblick auf den eschatologischen Frieden. Zu diesem authentischen Frieden in Gott führt uns Christus. Er ist die einzige Tür dorthin (vgl. Joh 10,9). Und diese einzige Tür möchten die Christen durchschreiten. 10. Um der Einladung Christi, "Sohn Gottes" zu werden (vgl. Mt 5,9), Folge leisten zu können, muß der Mensch guten Willens damit beginnen, sich selbst zu Gott zu bekehren und in seiner unmittelbaren Umgebung wie im Umfeld seiner Gemeinschaft die Vergebung zu üben. Allein der Demütige wird die Freuden eines unermeßlichen Friedens genießen (vgl. Ps 37,11). Dadurch, daß Jesus uns das Mitsein mit Gott eröffnet, schafft er die wahre Brüderlichkeit – nicht die von der Sünde entstellte Brüderlichkeit.(Anmerkung 4: Vgl. BENEDIKT XVI., Homilie in der Mitternachtsmesse [24. Dezember 2010]: AAS 103 [2011], S. 17 - 21.) "Er [Christus] ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riß … die trennende Wand der Feindschaft nieder" (Eph 2,14). Der Christ weiß, daß die irdische Friedenspolitik nur wirksam sein wird, wenn die Gerechtigkeit in Gott und unter den Menschen ihre authentische Grundlage bildet und wenn ebendiese Gerechtigkeit die Sünde bekämpft, welche die Ursache der Uneinigkeit ist. Darum möchte die Kirche alle Klassifizierung nach Rasse, Geschlecht und gesellschaftlichem Stand überwinden (vgl. Gal 3,28; Kol 3,11), denn sie weiß, daß alle nur "einer" sind in Christus, der alles in allen ist. Das ist der Grund, warum auch die Kirche jede Anstrengung im Hinblick auf den Frieden in der Welt und besonders im Nahen Osten unterstützt und fördert. Auf vielerlei Weise scheut sie keine Mühen, um den Menschen zu helfen, in Frieden zu leben, und sie unterstützt auch das internationale Rechtsinstrumentarium, das ihn festigt. Die Positionen des Heiligen Stuhls zu den verschiedenen Konflikten, welche die Region in dramatischer Weise plagen, und jene zum Status von Jerusalem und den heiligen Stätten sind weithin bekannt.(Anmerkung 5: Vgl. Propositio 9.) Allerdings vergißt die Kirche nicht, daß der Friede vor allem eine Frucht des Geistes ist (vgl. Gal 5,22), die man unablässig von Gott erbitten muß (vgl. Mt 7,7 - 8). Das christliche und ökumenische Leben 11. In diesem einengenden, instabilen und augenblicklich zur Gewalt neigenden Kontext hat Gott erlaubt, daß sich seine Kirche entfalte. Sie lebt dort in einer beachtlichen Vielfalt. Neben der katholischen Kirche gibt es im Nahen Osten sehr viele altehrwürdige Kirchen, zu denen kirchliche Gemeinschaften jüngeren Ursprungs hinzugekommen sind. Dieses Mosaik verlangt einen beträchtlichen und beharrlichen Einsatz zugunsten der Einheit, im Respekt vor dem je eigenen Reichtum, um die Glaubwürdigkeit der Verkündigung des Evangeliums und das christliche Zeugnis zu stärken.(Anmerkung 6: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 1.) Die Einheit ist eine Gabe Gottes, die aus dem Heiligen Geist geboren wird und die man in geduldiger Ausdauer wachsen lassen muß (vgl. 1 Petr 3,8 - 9). Wir wissen um die Versuchung, wenn wir mit Uneinigkeit konfrontiert werden, sich nur auf die bloß menschliche Sichtweise zu berufen und die weisen Ratschläge des heiligen Paulus zu vergessen (vgl. 1 Kor 6,7 - 8). Er mahnt: "Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält" (Eph 4,3). Der Glaube ist das Zentrum und die Frucht der wahren Ökumene.(Anmerkung 7: Vgl. BENEDIKT XVI., Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Kongregation für die Glaubenslehre [27. Januar 2012]: AAS 104 [2012], S. 109.) Man muß damit beginnen, ihn zu vertiefen. Die Einheit erwächst aus dem beharrlichen Gebet und aus der Umkehr, die jeden gemäß der Wahrheit und in der Liebe leben läßt (vgl. Eph 4,15 - 16). Das Zweite Vatikanische Konzil hat zu dieser "geistlichen Ökumene" ermutigt, der die Seele der wahren Ökumene ist.(Anmerkung 8: Vgl. Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 8.) Die Situation des Nahen Ostens an sich ist ein dringender Aufruf zur Heiligkeit des Lebens. Die Martyrologien bestätigen, daß Heilige und Märtyrer jeder kirchlichen Zugehörigkeit lebendige Zeugen dieser grenzenlosen Einheit im verherrlichten Christus waren und einige es heute sind – ein Vorgeschmack unseres "Vereintseins" als ein endlich in ihm versöhntes Volk.(Anmerkung 9: Vgl. JOHANNES PAUL II., Enzyklika Ut unum sint [25. Mai 1995], 83 - 84: AAS 87 (1995), S. 971 - 972.) Das ist der Grund, warum selbst innerhalb der katholischen Kirche die Gemeinschaft gefestigt werden muß, die Zeugnis für die Liebe Christi ablegt. 12. Auf der Basis der Angaben des Ökumenischen Direktoriums(Anmerkung 10: Vgl. PÄPSTLICHER RAT ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus [25. März 1993]: AAS 85 [1993], S. 1039 - 1119) können die katholischen Gläubigen die geistliche Ökumene in den Pfarreien, Klöstern und Konventen, in den Schulen und Universitäten und in den Seminaren fördern. Die Hirten werden dafür Sorge tragen, die Gläubigen dazu zu erziehen, in allen ihren Lebensbereichen Zeugen der Gemeinschaft zu sein. Diese Gemeinschaft ist natürlich kein unklares Mit- und Ineinander. Das authentische Zeugnis verlangt die Anerkennung und die Achtung des anderen, eine Bereitschaft zum Dialog in der Wahrheit, die Geduld als Dimension der Liebe, die Einfachheit und die Demut dessen, der sich vor Gott und dem Nächsten als Sünder bekennt, die Fähigkeit zu Vergebung, Versöhnung und Reinigung des Gedächtnisses auf persönlicher und gemeinschaftlicher Ebene. 13. Ich ermutige die Arbeit der Theologen, die unermüdlich für die Einheit tätig sind; ebenso begrüße ich die Aktivitäten der örtlichen ökumenischen Kommissionen, die auf verschiedenen Ebenen bestehen, sowie das Wirken der verschiedenen Gemeinschaften, die für die so ersehnte Einheit beten und handeln, indem sie Freundschaft und Brüderlichkeit fördern. In der Treue zu den Ursprüngen der Kirche und zu ihren lebendigen Überlieferungen ist es auch wichtig, sich mit einer Stimme zu den großen moralischen Fragen in bezug auf die Wahrheit über den Menschen, die Familie, die Sexualität, die Bioethik, die Freiheit, die Gerechtigkeit und den Frieden zu äußern. 14. Im übrigen gibt es auf karitativem Gebiet und im Bildungswesen bereits eine "diakonische Ökumene" unter den Christen der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Und der Rat der Kirchen des Nahen Ostens, der die Kirchen verschiedener christlicher Traditionen in der Region zusammenfaßt, bietet einem Dialog, der sich in Liebe und gegenseitiger Achtung vollziehen kann, weiten Raum. 15. Das Zweite Vatikanische Konzil weist darauf hin, daß das Fortschreiten auf dem Weg der Ökumene, um wirkungsvoll zu sein, zuerst einmal das Gebet der Christen braucht, "das Beispiel ihres Lebens, die ehrfürchtige Treue gegenüber den alten ostkirchlichen Überlieferungen, eine bessere gegenseitige Kenntnis und Zusammenarbeit sowie brüderliche Wertschätzung des äußeren und inneren Lebens der anderen".(Anmerkung 11: Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, 24.) Vor allem sollten sich alle wieder mehr auf Christus selbst ausrichten. Jesus vereint diejenigen, die an ihn glauben und ihn lieben, indem er ihnen den Geist seines Vaters wie auch Maria, seine Mutter, schenkt (vgl. Joh 14,26; 16,7; 19,27). Diese zweifache Gabe auf unterschiedlicher Ebene kann eine mächtige Hilfe sein und verdient eine größere Beachtung aller. 16. Die gemeinsame Liebe zu Christus, der "keine Sünde begangen" hat und in dessen Mund "kein trügerisches Wort" war (1 Petr 2,22), sowie die "enge Verwandtschaft"(Anmerkung 12: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15) unter den Kirchen des Ostens, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche sind, drängen zum Dialog und zur Einheit. In verschiedenen Fällen sind die Katholiken durch gemeinsame religiöse Ursprünge mit den nicht in voller Gemeinschaft stehenden Ostkirchen verbunden. Für eine erneuerte ökumenische Seelsorge ist es im Hinblick auf ein gemeinsames Zeugnis hilfreich, die Offenheit des Konzils gegenüber einer gewissen "communicatio in sacris" für die Sakramente der Buße, der Eucharistie und der Krankensalbung recht zu verstehen(Anmerkung 13: Vgl. ebd., Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, 26 - 27), die nicht nur möglich ist, sondern – gemäß den genauen Vorschriften und mit Billigung der kirchlichen Autoritäten – unter gegebenen geeigneten Umständen ratsam sein kann.(Anmerkung 14: Vgl. ebd., Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15; PÄPSTLICHER RAT ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus [25. März 1993], 122 - 128: AAS 85 [1993], S. 1086 - 1088.) Die Ehen zwischen katholischen und orthodoxen Gläubigen sind zahlreich, und sie verlangen eine besondere ökumenische Aufmerksamkeit.(Anmerkung 15: Vgl. PÄPSTLICHER RAT ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus [25. März 1993], 145: AAS 85 [1993], S. 1092.) Ich ermutige die Bischöfe und die Eparchen, dort, wo pastorale Übereinkünfte bestehen, diese im Maß des Möglichen anzuwenden, um nach und nach eine gemeinsame ökumenische Seelsorge zu fördern. 17. Die ökumenische Einheit bedeutet nicht etwa eine Uniformierung der Traditionen und der liturgischen Feiern. Ich bin überzeugt, daß – um einen Anfang zu setzen – dort, wo es nötig ist, mit Gottes Hilfe ein Einvernehmen erzielt werden kann für eine gemeinsame Übersetzung des Gebetes des Herrn, des Vaterunsers, in die einheimischen Sprachen der Region.(Anmerkung 16: Vgl. Propositio 28, wo einige vorgeschlagene Initiativen in den Zuständigkeitsbereich der örtlichen Seelsorge fallen und andere, die die katholische Kirche im ganzen betreffen, in Abstimmung mit dem Heiligen Stuhl untersucht werden müssen.) Beim gemeinsamen Beten mit denselben Worten werden die Christen ihre gemeinsame Verwurzelung in dem einen apostolischen Glauben erkennen, auf den sich die Suche nach der vollen Gemeinschaft gründet. Dieser Suche kann außerdem die gemeinsame Vertiefung des Studiums der östlichen und der lateinischen Väterliteratur sowie der jeweiligen geistlichen Traditionen sehr dienlich sein, unter korrekter Anwendung der kanonischen Vorschriften, die diese Materie regeln. 18. Ich lade die Katholiken des Nahen Ostens ein, die Beziehungen zu den Gläubigen der verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften in der Region zu pflegen. Verschiedene gemeinsame Initiativen sind möglich. Ein gemeinsames Lesen der Bibel sowie ihre Verbreitung könnten zum Beispiel diesen Weg eröffnen. Besonders fruchtbare Formen der Zusammenarbeit könnten sich außerdem auf dem Gebiet der karitativen Aktivitäten sowie der Unterstützung der Werte des menschlichen Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens entwickeln bzw. vertiefen. All das wird zu einem besseren gegenseitigen Sich-Kennen und zur Schaffung eines Klimas der Wertschätzung beitragen, was die unverzichtbaren Bedingungen sind, um die Brüderlichkeit zu fördern. Der interreligiöse Dialog 19. Das Wesen und die universale Berufung der Kirche erfordern, daß sie im Dialog mit den Anhängern der anderen Religionen steht. Dieser Dialog basiert im Nahen Osten auf den geistlichen und historischen Beziehungen, welche die Christen mit den Juden und mit den Muslimen verbinden. Dieser Dialog, der in erster Linie nicht von pragmatischen Erwägungen politischer oder gesellschaftlicher Art bestimmt ist, beruht vor allem auf theologischen Fundamenten, die den Glauben anfragen. Sie stammen aus der Heiligen Schrift und sind in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, Lumen gentium, und in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Nostra aetate,(Anmerkung 17: Vgl. Propositio 40) klar definiert. Juden, Christen und Muslime glauben an den einen Gott, den Schöpfer aller Menschen. Könnten doch die Juden, die Christen und die Muslime einen der göttlichen Wünsche, den der Einheit und der Harmonie der Menschheitsfamilie, wiederentdecken! Könnten doch die Juden, die Christen und die Muslime im Andersgläubigen einen Bruder entdecken, der zu achten und zu lieben ist, um in erster Linie in ihren Ländern das schöne Zeugnis der Gelassenheit und des freundschaftlichen Umgangs unter den Söhnen Abrahams zu geben! Anstatt sich in den wiederholten und für einen wirklich Glaubenden nicht zu rechtfertigenden Konflikten instrumentalisieren zu lassen, kann die Erkenntnis eines alleinigen Gottes – wenn sie mit reinem Herzen gelebt wird – wirksam zum Frieden der Region und zum respektvollen Zusammenleben ihrer Bewohner beitragen. 20. Zahlreich und tief sind die Bande zwischen den Christen und den Juden. Sie sind in einem kostbaren gemeinsamen spirituellen Erbe verankert. Da ist natürlich der Glaube an einen einzigen Schöpfergott, der sich offenbart und sich für immer an den Menschen bindet und der aus Liebe die Erlösung will. Da ist weiter die Bibel, die den Juden und den Christen großenteils gemeinsam ist. Sie ist für die einen wie für die anderen "Wort Gottes". Der gemeinsame Umgang mit der Heiligen Schrift führt uns näher zusammen. Zudem ist Jesus, ein Sohn des auserwählten Volkes, als Jude geboren, hat als Jude gelebt und ist als Jude gestorben (vgl. Röm 9,4 - 5). Auch Maria, seine Mutter, lädt uns ein, die jüdischen Wurzeln des Christentums wiederzuentdecken. Diese engen Bande sind ein einzigartiges Gut, auf das alle Christen stolz sind und das sie dem auserwählten Volk verdanken. Wenn auch das Judesein des "Nazoräers" den Christen erlaubt, mit Freude die Welt der Verheißung auszukosten, und sie definitiv in den Glauben des auserwählten Volkes einführt, indem es sie mit ihm vereint, so geben doch die Person und die eigentliche Identität ebendieses Jesus Anlaß zu Trennung, denn die Christen erkennen in ihm den Messias, den Sohn Gottes. 21. Es ist gut, wenn die Christen sich der Tiefe des Mysteriums der Inkarnation bewußter werden, um Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben (vgl. Dtn 6,5). Christus, der Sohn Gottes, ist Mensch geworden in einem Volk, in einer Glaubenstradition und in einer Kultur, deren Kenntnis das Verständnis des christlichen Glaubens nur bereichern kann. Die Christen haben ihrerseits diese Kenntnis bereichert durch den besonderen Beitrag, den Christus selbst durch seinen Tod und seine Auferstehung geliefert hat (vgl. Lk 24,26). Doch sie müssen sich stets ihrer Wurzeln bewußt und für sie dankbar sein. Denn, damit der eingepfropfte Zweig auf dem alten Baum anwachsen kann (vgl. Röm 11,17 - 18), braucht er den Pflanzensaft, der aus den Wurzeln kommt. 22. Die Beziehungen zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften sind geprägt durch die Geschichte und durch die menschlichen Leidenschaften. Immer wieder kam es zu unzähligen Formen von Unverständnis und gegenseitigem Mißtrauen. Unentschuldbar und aufs schärfste zu verurteilen sind die unterschwelligen oder gewaltsamen Verfolgungen der Vergangenheit! Und dennoch sind trotz dieser traurigen Situationen die Beiträge beider Seiten im Laufe der Jahrhunderte so fruchtbar gewesen, daß sie zur Entstehung und zur Entfaltung einer Zivilisation und einer Kultur beigetragen haben, die allgemein jüdischchristlich genannt wird – als hätten diese beiden Welten, die aus verschiedenen Gründen unterschiedlich oder gegensätzlich bezeichnet werden, beschlossen, sich zu vereinen, um der Menschheit eine edle Verschmelzung anzubieten. Dieses Band, das Juden und Christen vereint und doch zugleich voneinander trennt, muß sie einer neuen Verantwortung füreinander und miteinander öffnen.(Anmerkung 18: Vgl. BENEDIKT XVI., Ansprache im Hechal Shlomo-Zentrum, Jerusalem [12. Mai 2009]: AAS 101 [2009], S. 522 - 523; vgl. Propositio 41.) Denn die beiden Völker haben den gleichen Segen erhalten und Verheißungen der Ewigkeit, die es erlauben, in Richtung auf das brüderliche Miteinander zuversichtlich voranzugehen. 23. In der Treue zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils betrachtet die katholische Kirche die Muslime mit Hochachtung – sie, die Gott vor allem durch Gebet, Almosen und Fasten dienen, die Jesus als Propheten verehren, ohne allerdings seine Gottheit anzuerkennen, und die Maria, seine jungfräuliche Mutter, ehren. Wir wissen, daß die Begegnung zwischen Islam und Christentum häufig die Form der doktrinellen Kontroverse angenommen hat. Leider haben diese Unterschiede in der Lehre der einen wie der anderen Seite als Vorwand gedient, um im Namen der Religion Praktiken der Intoleranz, der Diskriminierung, der Ausgrenzung und sogar der Verfolgung zu rechtfertigen.(Anmerkung 19: Vgl. Propositio 5.) 24. Trotz dieser Tatsache teilen die Christen mit den Muslimen den gleichen Alltag im Nahen Osten, wo ihre Anwesenheit weder neu noch zufällig, sondern geschichtlich ist. Als ein feststehender Teil des Nahen Ostens haben sie im Laufe der Jahrhunderte eine Art der Beziehung zu ihrer Umgebung entwickelt, die lehrreich sein kann. Sie haben sich durch die Religiosität der Muslime herausfordern lassen, und sie haben entsprechend ihren Mitteln und im Rahmen des Möglichen in der herrschenden Kultur weiter die Werte des Evangeliums gelebt und gefördert. Das Ergebnis ist eine besondere Symbiose. Aus diesem Grund ist es recht, den jüdischen, christlichen und muslimischen Beitrag zur Bildung einer dem Nahen Osten eigenen reichen Kultur anzuerkennen.(Anmerkung 20: Vgl. Propositio 42.) 25. Die Katholiken des Nahen Ostens, deren Mehrheit einheimische Bürger ihres Landes sind, haben die Pflicht und das Recht, am nationalen Leben voll teilzunehmen, indem sie für den Aufbau ihrer Heimat arbeiten. Sie müssen eine volle Staatsbürgerschaft besitzen und dürfen nicht als Bürger oder Gläubige zweiter Klasse behandelt werden. Wie in der Vergangenheit, wo sie als Pioniere der arabischen Renaissance ein wesentlicher Bestandteil des kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens der verschiedenen Zivilisationen der Region waren, möchten sie heute immer noch ihre Erfahrungen mit den Muslimen teilen und so ihren spezifischen Beitrag leisten. Jesus ist der Grund, warum der Christ ein feines Empfinden hat für die Würde der Person und für die Religionsfreiheit, die daraus folgt. Die Liebe zu Gott und zur Menschheit, mit der zugleich die zweifache Natur Christi geehrt wird, und die Ausrichtung auf das ewige Leben sind der Grund, warum die Christen Schulen, Krankenhäuser und Einrichtungen aller Art ins Leben gerufen haben, in denen unterschiedslos alle aufgenommen werden (vgl. Mt 25,31 ff.) Aus diesen Gründen schenken die Christen den fundamentalen Menschenrechten besondere Beachtung. Jedoch zu behaupten, diese Rechte seien nur christliche Rechte des Menschen, ist nicht richtig. Es sind einfach Rechte, welche die Würde jedes Menschen und jedes Bürgers einfordert, unabhängig von seiner Herkunft, seinen religiösen Überzeugungen und seinen politischen Entscheidungen. 26. Die Religionsfreiheit ist der Gipfel aller Freiheiten. Sie ist ein heiliges und unveräußerliches Recht. Sie umfaßt auf persönlicher wie auf gemeinschaftlicher Ebene sowohl die Freiheit, in religiösen Dingen dem eigenen Gewissen zu folgen, als auch die Freiheit der Religionsausübung. Sie schließt die Freiheit ein, die Religion zu wählen, die man für die wahre hält, und den eigenen Glauben öffentlich zu bekunden.(Anmerkung 21: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 2 - 8; BENEDIKT XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2011: AAS 103 [2011], S. 46 - 58; DERS., Ansprache an die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Korps [10. Januar 2011]: AAS 103 [2011], S. 100 - 107.) Es muß möglich sein, den eigenen Glauben und dessen Symbole frei zu bekennen und zum Ausdruck zu bringen, ohne das eigene Leben und die persönliche Freiheit in Gefahr zu bringen. Die Religionsfreiheit ist in der Menschenwürde verwurzelt; sie garantiert die moralische Freiheit und begünstigt die gegenseitige Achtung. Die Juden, die lange Zeit oft tödliche Feindseligkeiten erlitten haben, können die Vorteile der Religionsfreiheit nicht vergessen. Die Muslime ihrerseits teilen mit den Christen die Überzeugung, daß in religiösen Dingen kein Zwang und erst recht keine Gewaltanwendung erlaubt sind. Ein solcher Zwang, der vielerlei und unterschwellige Formen auf persönlicher wie gesellschaftlicher, kultureller, behördlicher und politischer Ebene annehmen kann, ist gegen den Willen Gottes. Er ist eine Quelle von politischreligiöser Instrumentalisierung, von Diskriminierung und Gewalt, die zum Tod führen kann. Gott will das Leben, nicht den Tod. Er verbietet den Mord, sogar den des Mörders (vgl. Gen 4,15 - 16; 9,5 - 6; Ex 20,13). 27. Die religiöse Toleranz existiert in vielen Ländern, doch sie ist wenig verpflichtend, denn sie bleibt auf ihren Aktionsradius beschränkt. Es ist notwendig, von der religiösen Toleranz zur Religionsfreiheit zu gelangen. Dieser Schritt öffnet keineswegs dem Relativismus die Tür, wie einige behaupten. Dieser Schritt, der getan werden muß, ist nicht ein offener Riß im Glauben, sondern eine erneute Berücksichtigung der anthropologischen Beziehung zur Religion und zu Gott. Er ist keine Verletzung der "Grundwahrheiten" des Glaubens, denn ungeachtet der menschlichen und religiösen Divergenzen erleuchtet ein Strahl der Wahrheit alle Menschen.(Anmerkung 22: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 2.) Wir wissen sehr wohl, daß außerhalb Gottes die Wahrheit "in sich selbst" nicht existiert. Dann wäre sie ein Götze. Die Wahrheit kann sich nur in der Beziehung zum anderen entwickeln, die auf Gott hin öffnet, der seine eigene Andersheit durch meine Mitmenschen und in ihnen zu erkennen geben will. So ist es unangebracht, in ausschließender Weise zu behaupten: "Ich besitze die Wahrheit". Die Wahrheit ist niemals Besitz eines Menschen. Sie ist immer Geschenk, das uns auf einen Weg ruft, sie immer tiefer uns anzueignen. Die Wahrheit kann nur in der Freiheit erkannt und gelebt werden; denn wir können dem anderen die Wahrheit nicht aufzwingen. Nur wenn wir einander in Liebe begegnen, enthüllt sich die Wahrheit. 28. Die ganze Welt richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten, der seinen Weg sucht. Möge diese Region zeigen, daß das Zusammenleben keine Utopie ist und daß Mißtrauen und Vorurteil kein unabwendbares Schicksal sind. Die Religionen können sich gemeinsam in den Dienst des Gemeinwohls stellen und zur Entfaltung jedes Menschen sowie zum Aufbau der Gesellschaft beitragen. Die Christen des Nahen Ostens leben seit Jahrhunderten im islamisch-christlichen Dialog. Für sie handelt es sich um den Dialog des Alltags und im Alltag. Sie kennen seine bereichernden Elemente und seine Grenzen. Neuerdings leben sie auch den jüdisch-christlichen Dialog. Seit langer Zeit gibt es zudem einen bilateralen oder trilateralen Dialog jüdischer, christlicher und muslimischer Intellektueller oder Theologen. Das ist ein Laboratorium unterschiedlicher Begegnungen und Forschungen, das man fördern muß. Einen wirksamen Beitrag dazu leisten all die verschiedenen katholischen Institute und Zentren philosophischer, theologischer und anderer Ausrichtung, die vor langer Zeit im Nahen Osten entstanden sind und dort unter manchmal schwierigen Bedingungen arbeiten. Ich grüße sie herzlich und ermutige sie, ihr Friedenswerk fortzusetzen, wohl wissend, daß alles unterstützt werden muß, was die Unwissenheit bekämpft und die Erkenntnis fördert. Die glückliche Verbindung des Dialogs des Alltags mit dem der Intellektuellen oder der Theologen wird mit Gottes Hilfe sicher allmählich dazu beitragen, das jüdisch-christliche, das jüdisch-islamische und das islamisch-christliche Zusammenleben zu verbessern. Das ist mein Wunsch, den ich hier zum Ausdruck bringe, und das Anliegen, für das ich bete. Zwei neue Realitäten 29. Wie die übrige Welt kennt der Nahe Osten zwei entgegengesetzte Realitäten: die Laizität mit ihren manchmal extremen Formen und den gewaltsamen Fundamentalismus, der einen religiösen Ursprung beansprucht. Mit großem Argwohn betrachten einige politischen und religiösen Verantwortungsträger aus allen Gemeinschaften des Nahen Ostens die Laizität als atheistisch oder unmoralisch. Es trifft zu, daß die Laizität manchmal in verengter Weise behaupten kann, die Religion gehöre ausschließlich in die Privatsphäre, als sei sie nur ein individueller und häuslicher Kult, der außerhalb des Lebens, der Ethik und der Beziehung zum anderen angesiedelt ist. In ihrer extremen und ideologischen Form verweigert diese zu Säkularismus gewordene Laizität dem Bürger die öffentliche Ausübung seiner Religion und erhebt den Anspruch, daß der Staat allein Gesetze über seine öffentliche Form erlassen kann. Diese Theorien sind alt. Sie sind nicht mehr nur westlich, und sie sind mit dem Christentum unvereinbar. Die gesunde Laizität bedeutet dagegen, den Glauben von der Last der Politik zu befreien und die Politik durch die Beiträge des Glaubens zu bereichern. Dabei sind der nötige Abstand, die klare Unterscheidung und die unentbehrliche Zusammenarbeit zwischen beiden zu wahren. Keine Gesellschaft kann sich gesund entfalten, ohne die gegenseitige Achtung zwischen Politik und Religion zu bekräftigen und dabei die ständige Versuchung der Vermischung oder der Opposition zu vermeiden. Die rechte Beziehung gründet sich vor allen Dingen auf die Natur des Menschen – auf eine gesunde Anthropologie also – und auf die völlige Achtung seiner unveräußerlichen Rechte. Die Einsicht in diese ideale Beziehung macht verständlich, daß es eine Art von Einheit in der Unterscheidung gibt, welche die Beziehung zwischen Geistlichem (Religion) und Weltlichem (Politik) kennzeichnen muß, denn beide sind – wenn auch in der nötigen Unterscheidung – berufen, einträchtig für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten. Eine solche gesunde Laizität garantiert der Politik zu handeln, ohne die Religion für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, und der Religion, frei zu leben, ohne sich mit der politischen Wirklichkeit zu belasten, die von Interessen geleitet ist und sich manchmal mit dem Glauben nur schwer oder sogar überhaupt nicht vereinbaren läßt. Das ist der Grund, warum die gesunde Laizität (Einheit in der Unterscheidung) für beide Teile nötig und sogar unverzichtbar ist. Der Herausforderung, die in der Beziehung zwischen dem Politischen und dem Religiösen liegt, kann mit Geduld und Mut durch eine angemessene menschliche und religiöse Bildung begegnet werden. Immer wieder muß man an den Platz Gottes im persönlichen, familiären und zivilen Leben erinnern wie auch an den rechten Platz des Menschen im Plan Gottes. Und vor allem muß man dafür noch mehr beten. 30. Die wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten, die Begabung einiger zur Manipulation und ein mangelhaftes Verständnis der Religion bilden unter anderem die Basis für den religiösen Fundamentalismus. Dieser sucht alle religiösen Gemeinschaften heim und lehnt das jahrhundertealte Zusammenleben ab. Aus politischen Gründen sucht er – manchmal mit Gewalt – die Macht über das Gewissen der einzelnen und über die Religion zu gewinnen. Ich appelliere an alle jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsführer der Region, danach zu streben, durch ihr Beispiel und ihre Lehre alles zu tun, um diese Bedrohung auszumerzen, die unterschiedslos und tödlich die Gläubigen aller Religionen ergreift. "Geoffenbarte Worte, heilige Schriften oder den Namen Gottes zu gebrauchen, um unsere Interessen, unsere – so leicht willfährige – Politik oder unsere Gewalttätigkeit zu rechtfertigen, ist ein sehr schwerer Fehler.“(Anmerkung 23: BENEDIKT XVI., Ansprache anläßlich der Begegnung mit den Mitgliedern der Regierung, Vertretern der staatlichen Institutionen, mit dem Diplomatischen Korps und mit Vertretern der wichtigsten Religionen, Cotonou [19. November 2011]: AAS 103 [2011], S. 820.) Die Migranten 31. Die Wirklichkeit des Nahen Ostens ist in ihrer Vielfalt reich, doch allzu häufig ist sie von Zwang und sogar Gewalt geprägt. Das betrifft die Gesamtheit der Bevölkerung der Region und alle Aspekte ihres Lebens. Die Christen, die sich in einer oft heiklen Lage befinden, spüren in besonderer Weise und manchmal mit Überdruß und wenig Hoffnung die negativen Konsequenzen dieser Konflikte und dieser Unsicherheiten. Häufig fühlen sie sich gedemütigt. Aus Erfahrung wissen sie auch, daß sie die ausgesuchten Opfer sind, wenn es Unruhen gibt. Nachdem sie über Jahrhunderte aktiv am Aufbau der jeweiligen Nationen teilgenommen und zur Bildung ihrer Identität und ihres Wohlstands beigetragen haben, halten viele Christen nach günstigeren Horizonten Ausschau und entscheiden sich für Orte des Friedens, wo sie und ihre Familien würdig und in Sicherheit leben können, und für Freiheitsräume, wo sie ihren Glauben ausüben können, ohne daß sie verschiedenen Zwängen unterworfen sind.(Anmerkung 24: Vgl. BENEDIKT XVI., Botschaft zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2006 [18. Oktober 2005]: AAS 97 [2005], S. 981 - 983; Botschaft zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2008 [18. Oktober 2007]: AAS 99 [2007], S. 1065 - 1068; Botschaft zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2012 [21. September 2011]: AAS 103 [2011], S. 763 - 766.) Diese Entscheidung hinterläßt tiefe Risse. Sie hat schwere Auswirkungen für die einzelnen, die Familien und die Kirchen. Sie verstümmelt die Nationen und trägt zur menschlichen, kulturellen und religiösen Verarmung des Nahen Ostens bei. Ein Naher Osten ohne oder mit wenig Christen ist nicht mehr der Nahe Osten, denn die Christen haben mit den anderen Gläubigen Anteil an der so besonderen Identität der Region. Vor Gott sind die einen für die anderen verantwortlich. Es ist also wichtig, daß die politischen Führer und die Verantwortungsträger der Religionsgemeinschaften diese Sachlage begreifen und eine gruppenbezogene Politik oder Strategie vermeiden, die einen uniformen Nahen Osten anstreben würden, der in keiner Weise seine reiche menschliche und geschichtliche Wirklichkeit widerspiegelt. 32. Die Hirten der katholischen Ostkirchen sui iuris stellen mit Sorge und Schmerz fest, daß die Zahl ihrer Gläubigen in den traditionellen Patriarchatsgebieten abnimmt und daß sie sich seit einiger Zeit gezwungen sehen, eine Emigrationspastoral zu entwickeln.(Anmerkung 25: Vgl. Propositio 11.) Ich bin sicher, daß sie alles tun, was ihnen möglich ist, um ihre Gläubigen zur Hoffnung zu ermuntern und sie aufzufordern, in ihrem Land zu bleiben und ihren Besitz nicht zu verkaufen.(Anmerkung 26: Vgl. Propositiones 6 und 10.) Ich ermutige sie, ihre Priester und ihre Gläubigen der Diaspora weiter mit Liebe zu umgeben und sie einzuladen, in engem Kontakt mit ihren Familien und ihren Kirchen zu bleiben und vor allem treu ihren Glauben an Gott zu bewahren dank ihrer auf ehrwürdigen geistlichen Traditionen beruhenden religiösen Identität.(Anmerkung 27. Vgl. Propositio 12.) Indem sie diese Zugehörigkeit zu Gott und zu ihren jeweiligen Kirchen beibehalten und indem sie eine tiefe Liebe zu ihren lateinischen Brüdern und Schwestern pflegen, tragen sie sehr zum Wohl der katholischen Kirche im ganzen bei. Außerdem ermahne ich die Hirten der kirchlichen Gebiete, welche die Gläubigen katholischer Ostkirchen aufnehmen, sie mit Liebe und Wertschätzung wie Brüder zu empfangen, die gemeinschaftlichen Bindungen zwischen den Emigranten und den Kirchen ihrer Herkunft zu fördern, ihnen die Möglichkeit zu geben, Gottesdienste nach den eigenen Traditionen zu feiern, und dort, wo dies machbar ist, Aktivitäten auf pastoralem Gebiet und auf Pfarreiebene zu entfalten.(Anmerkung 28: Vgl. Propositio 15.) 33. Die lateinische Kirche im Nahen Osten erlebt, obwohl auch sie unter der Abwanderung vieler ihrer Gläubigen leidet, eine andere Situation und sieht sich vor zahlreiche auch neue pastorale Herausforderungen gestellt. Ihre Hirten müssen in den wirtschaftlich starken Ländern der Region eine massive Zuwanderung und den Aufenthalt von Arbeitern aller Art aus Afrika, dem Fernen Osten und dem indischen Subkontinent bewältigen. Diese Bevölkerungsgruppen, die sich aus oft einzelnen Männern und Frauen oder aus ganzen Familien zusammensetzen, stehen vor einer zweifachen Unsicherheit. Sie sind Fremde in dem Land, in dem sie arbeiten, und sie erfahren allzu häufig Situationen der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit. Dem Fremden wendet Gott seine Aufmerksamkeit zu; daher verdient der Fremde auch unsere Achtung. Wie er aufgenommen wurde, wird beim Jüngsten Gericht zur Geltung kommen (vgl. Mt 25,35.43).(Anmerkung 29: Vgl. Propositio 14.) 34. Ausgebeutet, ohne sich wehren zu können, und mit mehr oder weniger legalen Arbeitsverträgen gedungen, sind diese Menschen manchmal Opfer von Übertretungen der örtlichen Gesetze und der internationalen Konventionen. Außerdem leiden sie unter starkem Druck und unter gravierenden religiösen Einschränkungen. Die Aufgabe ihrer Hirten ist notwendig und heikel. Ich ermutige alle katholischen Gläubigen und alle Priester, gleich welcher Kirche sie angehören, zu einem echten Miteinander und zur pastoralen Zusammenarbeit mit dem Ortsbischof und diesen wiederum zu väterlichem Verständnis gegenüber den Gläubigen der katholischen Ostkirchen. Die Zusammenarbeit aller und vor allem die Einstimmigkeit im Reden sorgt dafür, daß in dieser besonderen Situation alle ihren Glauben leben und feiern können und sich dabei durch die Verschiedenheit der spirituellen Traditionen bereichern, auch wenn sie mit ihren ursprünglichen christlichen Gemeinschaften im Kontakt bleiben. Auch die Regierenden der Länder, die diese neuen Bevölkerungsgruppen aufnehmen, fordere ich auf, deren Rechte zu achten und zu schützen, ihnen die freie Ausübung ihres Glaubens zu gestatten, indem sie die Religionsfreiheit fördern und die Errichtung von Gotteshäusern begünstigen. Die Religionsfreiheit "könnte Gegenstand des Dialogs zwischen Christen und Muslimen werden, eines Dialogs, dessen Dringlichkeit und Notwendigkeit von den Synodenvätern bekräftigt wurde".(Anmerkung 30: BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe zum Abschluß der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [24. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 815.) 35. Während einheimische Katholiken des Nahen Ostens aus Notwendigkeit, Überdruß oder Verzweiflung die dramatische Entscheidung treffen, das Land ihrer Vorfahren, ihre Familie und ihre Glaubensgemeinschaft zu verlassen, entscheiden sich dagegen andere voller Hoffnung, in ihrem Land und in ihrer Gemeinde zu bleiben. Ich ermutige sie, diese edle Treue zu bewahren und fest im Glauben zu verharren. Wieder andere Katholiken schließlich treffen eine ebenso einschneidende Entscheidung wie die Katholiken im Nahen Osten, die emigrieren: In der Hoffnung, eine bessere Zukunft aufzubauen, fliehen sie aus unsicheren Situationen und wählen die Länder der Region, um dort zu arbeiten und zu leben. 36. Als Hirte der universalen Kirche wende ich mich hier an die Gesamtheit der katholischen Gläubigen der Region, die einheimischen und die neu hinzugekommenen, deren Anteile sich in diesen letzten Jahren einander angenähert haben, denn für Gott gibt es nur ein einziges Volk und für die Gläubigen nur einen einzigen Glauben! Versucht, in gegenseitiger Achtung geeint und in geschwisterlicher Gemeinschaft miteinander zu leben, in gegenseitiger Liebe und Wertschätzung, um euren Glauben an Christi Tod und Auferstehung glaubwürdig zu bezeugen! Gott wird euer Gebet erhören, euer Verhalten segnen und euch seinen Geist schenken, um die Last des Tages zu tragen. Denn "wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit" (2 Kor 3,17). Der heilige Petrus schrieb an Gläubige, die ähnliche Situationen erlebten, Worte, die ich gerne aufgreife, um sie als Aufruf an euch zu richten: "Und wer wird euch Böses zufügen, wenn ihr euch voll Eifer um das Gute bemüht? … Fürchtet euch nicht vor ihnen und laßt euch nicht erschrecken, sondern haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt" (1 Petr 3,13 - 15). ZWEITER TEIL "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32) 37. Die Sichtbarkeit der christlichen Urgemeinde wird mit immateriellen Eigenschaften beschrieben, welche die kirchliche koinonia zum Ausdruck bringen – ein Herz und eine Seele – und so den tiefen Sinn des Zeugnisses übersetzen. Es ist der Widerschein einer persönlichen und gemeinschaftlichen Innerlichkeit. Wenn sie sich von innen her von der göttlichen Gnade formen läßt, kann jede Teilkirche die Schönheit der ersten Gemeinde der Glaubenden wiederfinden, die von einem Glauben gefestigt wird, der von jener Liebe beseelt ist, die die Jünger Christi vor den Augen der Menschen kennzeichnet (vgl. Joh 13,35). Die koinonia verleiht dem Zeugnis Bestand und Kohärenz und erfordert eine ständige Umkehr. Diese macht die Gemeinschaft vollkommen und festigt ihrerseits das Zeugnis. "Ohne Gemeinschaft gibt es kein Zeugnis: das große Zeugnis ist gerade das Gemeinschaftsleben."(Anmerkung 31: Vgl. BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe zur Eröffnung der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [10. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 805.) Die Gemeinschaft ist eine Gabe, die von allen ganz anzunehmen ist, und eine Wirklichkeit, die unermüdlich aufgebaut werden muß. In diesem Sinne lade ich alle Glieder der Kirchen im Nahen Osten ein, entsprechend der je eigenen Berufung die Gemeinschaft in Demut und durch das Gebet neu zu beleben, damit sich die Einheit verwirklicht, um die Jesus gebetet hat (vgl. Joh 17,21). 38. Der Begriff der "katholischen" Kirche sieht die Gemeinschaft zwischen dem Universalen und dem Partikularen vor. Es besteht hier die Beziehung eines "wechselseitigen Ineinanders" der Gesamtkirche mit den Teilkirchen, welche die Katholizität der Kirche kennzeichnet und konkretisiert. Die Gegenwart "des Ganzen im Teil" setzt den Teil in eine Spannung zur Universalität. Diese Spannung zeigt sich – einerseits – im missionarischen Geist jeder der Kirchen und – andererseits – in der aufrichtigen Wertschätzung des Guten der "anderen Teile", die das Handeln in Einklang und Synergie mit ihnen einschließt. Die Gesamtkirche ist eine Wirklichkeit, die den Teilkirchen vorausgeht, und diese gehen in und aus der Gesamtkirche hervor.(Anmerkung 32: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als communio – Communionis notio [28. Mai 1992], 9, §§ 1 - 3: AAS 85 [1993], S. 843 - 844; vor allem Paragraph 1: "Daher 'kann die Gesamtkirche nicht als die Summe der Teilkirchen aufgefaßt werden und ebensowenig als Zusammenschluß von Teilkirchen'. Sie ist nicht das 'Ergebnis' von deren Gemeinschaft; sie ist vielmehr im Eigentlichen ihres Geheimnisses eine jeder einzelnen Teilkirche ontologisch und zeitlich vorausliegende Wirklichkeit.") Diese Wahrheit gibt treu die katholische Lehre wieder, insbesondere jene des Zweiten Vatikanischen Konzils.(Anmerkung 33: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 23.) Sie führt in das Verständnis der hierarchischen Dimension der Gemeinschaft der Kirche ein und ermöglicht der reichen und legitimen Vielfalt der Teilkirchen, sich stets in der Einheit auszudrücken, in der die besonderen Gaben zu einem echten Reichtum für die Universalität der Kirche werden. Sich dieser grundlegenden Aspekte der Ekklesiologie neu bewußt zu werden und sie zu leben macht es möglich, die Besonderheit und den Reichtum der katholischen Identität im Orient wiederzuentdecken. Die Patriarchen 39. Als "Väter und Häupter" der Kirchen sui iuris sind die Patriarchen die sichtbaren Bezugspunkte und die wachsamen Hüter der Gemeinschaft. Aufgrund ihrer besonderen Identität und Sendung sind sie Männer der Gemeinschaft, die über die Herde wachen, wie Gott es will (vgl. 1 Petr 5,1 - 4), und Diener der Einheit der Kirche. Sie üben ein Dienstamt aus, das durch die Liebe wirksam ist, die auf allen Ebenen wirklich gelebt wird: unter den Patriarchen selbst, zwischen dem Patriarchen und den Bischöfen, den Priestern, den gottgeweihten Personen und den gläubigen Laien unter ihrer Jurisdiktion. 40. Die Patriarchen, deren unverbrüchliche Einheit mit dem Bischof von Rom in der ecclesiastica communio gründet, um die sie den Obersten Hirten gebeten und die sie nach ihrer kanonischen Wahl erhalten haben, machen durch dieses besondere Band die Universalität und Einheit der Kirche greifbar.(Anmerkung 34: Vgl. Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Cann. 76 §§ 1 - 2 und 92 §§ 1 - 2.) Ihre Fürsorge gilt jedem Jünger Jesu Christi, der im Gebiet ihres Patriarchats lebt. Im Zeichen der Gemeinschaft werden sie um des Zeugnisses willen die Einheit und Solidarität innerhalb des Rates der katholischen Patriarchen des Ostens und der verschiedenen Patriarchalsynoden stärken. Dabei werden sie im Hinblick auf ein kollegiales und einheitliches Handeln in Fragen von großer Wichtigkeit für die Kirche stets vorrangig das Einvernehmen suchen. Für die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses wird der Patriarch nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Standhaftigkeit und Sanftmut streben (vgl. 1 Tim 6,11), einen schlichten Lebensstil nach dem Vorbild Christi beherzigen, der arm wurde, um uns durch seine Armut reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9). Ebenso wird er darauf achten, innerhalb der kirchlichen Gebiete durch eine vernünftige Personalführung und eine gute Verwaltung der Kirchengüter eine echte Solidarität zu fördern. Dies gehört zu seinen Pflichten.(Anmerkung 35: Vgl. ebd., Can. 97.) In der Nachfolge Jesu, der alle Städte und Dörfer besuchte, um seine Sendung zu erfüllen (vgl. Mt 9,35), wird der Patriarch mit Eifer die Pastoralvisitation in seinen kirchlichen Gebieten durchführen.(Anmerkung 36: Vgl. ebd., Can. 83 § 1.) Er wird dies nicht nur tun, um sein Aufsichtsrecht und seine Aufsichtspflicht auszuüben, sondern auch, um seine brüderliche und väterliche Liebe zu den Bischöfen, den Priestern und den gläubigen Laien, vor allem zu den Armen, Kranken und Ausgegrenzten wie auch zu denen, die seelisch leiden, konkret zu bezeugen. Die Bischöfe 41. Kraft seiner Weihe ist der Bischof zugleich Mitglied des Bischofskollegiums und – durch seinen Dienst des Lehrens, des Heiligens und des Leitens – Hirte einer Ortskirche. Mit den Patriarchen sind die Bischöfe die sichtbaren Zeichen der Einheit in der Vielfalt der Kirche, die als ein Leib verstanden wird, dessen Haupt Christus ist (vgl. Eph 4,12 - 15). Sie sind die ersten, die aus Gnade erwählt und zu allen Völkern gesandt werden, um sie zu Jüngern zu machen und sie zu lehren, alles zu befolgen, was der Auferstandene ihnen geboten hat (vgl. Mt 28,19 - 20).(Anmerkung 37: Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores gregis [16. Oktober 2003], 26: AAS 96 [2004], S. 859 - 860.) Es ist daher von entscheidender Wichtigkeit, daß sie das Wort Gottes hören und in ihrem Herzen bewahren. Sie müssen es mutig verkünden und in den schwierigen Situationen, an denen es im Nahen Osten leider nicht fehlt, den Glauben in seiner Gesamtheit und Einheit mit Entschiedenheit verteidigen. 42. Um das Leben in einem Geist der Gemeinschaft und der diakonia zu fördern, ist es wichtig, daß die Bischöfe immer an ihrer persönlichen Erneuerung arbeiten. Diese Wachsamkeit des Herzens verwirklicht sich "vor allem durch ein Leben des Gebets, der Entsagung, des Opfers und des Zuhörens; dann durch ein vorbildliches Leben als Apostel und Hirten in Einfachheit, Armut und Demut und schließlich durch die beständige Sorge, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die guten Sitten und die Anliegen der Armen zu verteidigen.“(Anmerkung 38: DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 60: AAS 89 [1997], S. 364.) Außerdem erfolgt die so sehr gewünschte Erneuerung der Gemeinden durch die väterliche Sorge, die sie für alle Getauften und insbesondere für ihre unmittelbaren Mitarbeiter, die Priester, hegen sollen.(Anmerkung 39: Vgl. Propositio 22.) 43. Die Gemeinschaft innerhalb einer jeden Ortskirche ist das erste Fundament der Gemeinschaft zwischen den Kirchen, die sich stets vom Wort Gottes und von den Sakramenten wie auch von anderen Formen des Gebets nährt. Daher lade ich die Bischöfe ein, ihre Fürsorge allen Christgläubigen in ihrem Jurisdiktionsbereich, gleich welchen Standes, welcher Nationalität und kirchlicher Herkunft, zu erweisen. Sie sollen für die ihnen anvertraute Herde Gottes sorgen und über sie wachen und dabei "nicht Beherrscher [ihrer] Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde" (1 Petr 5,3) sein. Sie mögen denen besondere Aufmerksamkeit widmen, die in ihrer religiösen Praxis unbeständig sind oder die diese aus verschiedenen Gründen aufgegeben haben.(Anmerkung 40: Vgl. Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Can. 192 § 1.) Es soll ihnen auch am Herzen liegen, die liebende Gegenwart Christi unter jenen Menschen zu sein, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen. So werden sie die Einheit unter den Christen selbst und die Solidarität zwischen allen Menschen fördern können, die nach dem Abbild Gottes geschaffen sind (vgl. Gen 1,27), denn alles stammt vom Vater und wir leben auf ihn hin (vgl. 1 Kor 8,6). 44. Den Bischöfen obliegt es, eine gute, ehrliche und transparente Verwaltung der kirchlichen Güter zu gewährleisten, in Übereinstimmung mit dem Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen oder dem Codex des kanonischen Rechts der lateinischen Kirche. Die Synodenväter hielten es für notwendig, daß eine zuverlässige Auflistung der Finanzen und der Güter gemacht wird in dem Bestreben, eine Verwechslung von persönlichen Gütern und Gütern der Kirche zu vermeiden.(Anmerkung 41: Vgl. Propositio 7.) Der Apostel Paulus sagt, daß der Diener Gottes ein Verwalter von Geheimnissen Gottes ist. "Von Verwaltern aber verlangt man, daß sie sich treu erweisen" (1 Kor 4,2). Ein Verwalter trägt Sorge für Güter, die nicht ihm gehören und die, gemäß dem Apostel, zu einer höheren Verwendung bestimmt sind, nämlich für die Geheimnisse Gottes (vgl. Mt 19,28 - 30; 1 Petr 4,10). Diese treue und uneigennützige Verwaltung, wie sie die Gründermönche – wahre Säulen vieler orientalischer Kirchen – gewollt haben, muß vorrangig der Evangelisierung und der Nächstenliebe dienen. Die Bischöfe werden dafür sorgen, den Priestern, ihren ersten Mitarbeitern, einen gerechten Unterhalt zu gewährleisten, damit sie nicht in der Suche nach weltlichen Dingen aufgehen, sondern sich der Sache Gottes und ihrer seelsorglichen Sendung mit Würde widmen können. Und außerdem: Wer einem Armen hilft, verdient sich den Himmel! Der heilige Jakobus betont die dem Armen geschuldete Achtung, seine Größe und seinen wahren Platz in der Gemeinschaft (vgl. 1,9 - 11; 2,1 - 9). Daher ist es notwendig, daß die Verwaltung der Güter zu einer Grundlage wirksamer Verkündigung der befreienden Botschaft Jesu wird: "Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe" (Lk 4,18 - 19). Der treue Verwalter ist derjenige, der verstanden hat, daß nur der Herr die kostbare Perle (vgl. Mt 13,45 - 46) und nur er der wahre Schatz ist (vgl. Mt 6,19 - 21; 13,44). Mögen die Bischöfe das den Priestern, den Seminaristen und den Gläubigen auf vorbildliche Weise vor Augen führen! Im übrigen muß die Veräußerung von Kirchengütern unbedingt den kanonischen Normen und den geltenden päpstlichen Anordnungen entsprechen. Die Priester, die Diakone und die Seminaristen 45. Durch die Priesterweihe wird der Priester Christus gleichförmig und zu einem engen Mitarbeiter des Patriarchen und des Bischofs gemacht, an deren dreifachem munus er Anteil erhält.(Anmerkung 42: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum ordinis, 4 - 6.) Aufgrund dieser Tatsache ist er Diener der Gemeinschaft; und die Erfüllung dieser Aufgabe erfordert seine beständige Verbundenheit mit Christus sowie seinen Eifer in der Nächstenliebe und den Werken der Barmherzigkeit gegenüber allen. So wird er die Heiligkeit ausstrahlen können, zu der alle Getauften berufen sind. Er soll das Volk Gottes dazu erziehen, eine Kultur der Liebe, wie sie das Evangelium lehrt, und eine Kultur der Einheit aufzubauen. Daher wird er das Leben der Gläubigen durch die kluge Weitergabe des Wortes Gottes, der Überlieferung und der Lehre der Kirche sowie durch die Sakramente erneuern und stärken.(Anmerkung 43: Vgl. Schlußbotschaft [22 Oktober 2010], 4.3: L’Osservatore Romano [dt.], Jg. 40 [2010], Nr. 44 [5. November 2010], S. 14.) Die östlichen Traditionen hatten ein Gespür für die geistliche Begleitung. Mögen die Priester, die Diakone und die Gottgeweihten selber diese Führung geben und durch sie den Gläubigen die Wege zur Ewigkeit eröffnen. 46. Ferner verlangt das Zeugnis der Gemeinschaft eine theologische Bildung und eine gediegene Spiritualität, die eine ständige intellektuelle und geistliche Erneuerung erfordern. Es ist Aufgabe der Bischöfe, die Priester und Diakone mit den nötigen Mitteln auszustatten, um es ihnen zu ermöglichen, ihr Glaubensleben zum Wohl der Gläubigen zu vertiefen, damit sie ihnen "Speise zur rechten Zeit" geben können (Ps 145,15). Überdies erwarten die Gläubigen von ihnen das Beispiel eines tadellosen Lebenswandels (vgl. Phil 2,14 - 16). 47. Ich lade euch ein, liebe Priester, jeden Tag die ontologische Bedeutung der heiligen Weihe neu zu entdecken, die dazu drängt, das Priestertum als eine Quelle der Heiligung für die Getauften und zur Förderung des ganzen Menschen zu leben. "Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes ... nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung" (1 Petr 5,2). Hegt auch für das Leben in Gemeinschaft Wertschätzung – dort, wo es möglich ist – trotz der Schwierigkeiten, die damit verbunden sind (vgl. 1 Petr 4,8 - 10), weil es euch hilft, das priesterliche und seelsorgliche Miteinander auf lokaler und universaler Ebene zu erlernen und besser zu leben. Liebe Diakone, dient in Gemeinschaft mit eurem Bischof und den Priestern dem Volk Gottes gemäß dem eigenen Amt und den spezifischen Aufgaben, die euch anvertraut werden. 48. Der priesterliche Zölibat ist eine unschätzbare Gabe Gottes an seine Kirche, die sowohl im Osten wie im Westen mit Dankbarkeit aufgenommen werden soll, weil sie ein prophetisches Zeichen darstellt, das immer aktuell ist. Bedenken wir zudem den Dienst der verheirateten Priester, die ein alter Bestandteil der östlichen Traditionen sind. Ich möchte auch diesen Priester Mut machen, die mit ihren Familien in der treuen Ausübung ihres Dienstes und in ihren mitunter schwierigen Lebensbedingungen zur Heiligkeit gerufen sind. Euch allen sage ich noch einmal, daß die Schönheit eures priesterlichen Lebens(Anmerkung 44: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum ordinis, 11) zweifellos neue Berufungen erwecken wird, deren Pflege euch obliegt. 49. Die Berufung des jungen Samuel (vgl. 1 Sam 3,1 - 19) lehrt, daß die Menschen kluge Führungspersönlichkeiten brauchen, die ihnen helfen, den Willen des Herrn zu erkennen und seinem Ruf großherzig zu folgen. In diesem Sinn muß das Gedeihen von Berufungen durch eine eigene Pastoral gefördert werden. Diese muß durch das Gebet in der Familie, in der Pfarrei, in den kirchlichen Bewegungen und in den Bildungseinrichtungen unterstützt werden. Jene Menschen, die auf den Ruf des Herrn antworten, müssen in besonderen Ausbildungsstätten reifen und durch geeignete und vorbildliche Ausbilder begleitet werden. Diese sollen sie zum Gebet, zur Gemeinschaft, zum Zeugnis und zum missionarischen Bewußtsein erziehen. Geeignete Programme sollen auf die verschiedenen Aspekte des menschlichen, geistlichen, intellektuellen und pastoralen Lebens eingehen und mit den unterschiedlichen Umfeldern, Herkünften, kulturellen und kirchlichen Zugehörigkeiten klug umgehen.(Anmerkung 45: Vgl. KONGREGATION FÜR DAS KATHOLISCHE BILDUNGSWESEN, Ratio fundamentalis institutionis sacerdotalis [19. März 1985], 5 - 10.) 50. Liebe Seminaristen, wie das Schilfrohr ohne Wasser nicht wachsen kann (vgl. Ijob 8,11), so könnt auch ihr keine wahren Gemeinschaftsstifter und echte Glaubenszeugen werden, ohne tief in Jesus Christus verwurzelt zu sein, ohne beständige Hinwendung zu seinem Wort, ohne Liebe zu seiner Kirche und ohne selbstlose Liebe zum Nächsten. In der heutigen Zeit seid ihr gerufen, die Gemeinschaft im Blick auf ein mutiges ungetrübtes Zeugnis zu leben und zu vervollkommnen. Die Stärkung des Glaubens des Gottesvolkes wird auch von der Qualität eures Zeugnisses abhängen. Ich lade euch ein, euch im Hinblick auf eure zukünftige Sendung noch mehr für die kulturelle Vielfalt eurer Kirchen zu öffnen, zum Beispiel durch das Erlernen anderer Sprachen und das Kennenlernen anderer Kulturen. Seid auch offen für die kirchliche und ökumenische Vielfalt sowie für den interreligiösen Dialog. Ein aufmerksames Studium meines Briefes an die Seminaristen wird euch von großem Nutzen sein.(Anmerkung 46: Vgl. Brief an die Seminaristen (18. Oktober 2010): AAS 102 [2010], S. 793 - 798.) Das gottgeweihte Leben 51. Das Mönchtum in seinen verschiedenen Formen entstand im Nahen Osten und steht am Anfang einiger Kirchen, die sich dort befinden.(Anmerkung 47: Vgl. JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Orientale Lumen [2. Mai 1995]: AAS 87 [1995], S. 745 - 774.) Die Mönche und die Nonnen, die ihr Leben dem Gebet weihen, indem sie die Stunden des Tages und der Nacht heiligen und die Sorgen und Nöte der Kirche und der Menschheit in ihr Gebet hineinnehmen, mögen für alle eine beständige Erinnerung an die Bedeutung des Gebets im Leben der Kirche und eines jeden Gläubigen sein. Mögen die Klöster auch Orte sein, an denen die Gläubigen eine Einführung in das Gebet erhalten können. 52. Das gottgeweihte Leben – sei es kontemplativ oder apostolisch – ist eine Vertiefung der Taufweihe. Die Ordensleute streben nämlich danach, durch die Profeß der evangelischen Räte des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut Christus radikaler nachzufolgen.(Anmerkung 48: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 44; Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis, 5; JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Vita consecrata [25. März 1996], 14.30: AAS 88 [1996], S. 387 - 388.403 - 404.) Die vorbehaltlose Gabe ihrer selbst an den Herrn und ihre selbstlose Liebe zu allen Menschen geben Zeugnis von Gott und sind wirkliche Zeichen seiner Liebe zur Welt. Gelebt als eine kostbare Gabe des Heiligen Geistes, ist das gottgeweihte Leben eine unersetzliche Stütze für das Leben und die Seelsorge der Kirche.(Anmerkung 49: Vgl. Propositio 26.) In diesem Sinne werden die Ordensgemeinschaften prophetische Zeichen von Gemeinschaft in ihren Kirchen und in der ganzen Welt sein, wenn sie wirklich auf das Wort Gottes, die brüderliche Gemeinschaft und das Zeugnis des Dienstes gründen (vgl. Apg 2,42). Im zönobitischen Leben ist die Gemeinschaft oder das Kloster berufen, der bevorzugte Ort der Vereinigung mit Gott und der Gemeinschaft mit dem Nächsten zu sein. Es ist der Ort, an dem die gottgeweihte Person lernt, immer neu von Christus her zu beginnen(Anmerkung 50: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE INSTITUTE DES GEWEIHTEN LEBENS UND DIE GESELLSCHAFTEN DES APOSTOLISCHEN LEBENS, Neubeginn in Christus. Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im dritten Jahrtausend [19. Mai 2002]: Enchiridion Vaticanum 21, Nrn. 372 - 510), um ihrer Sendung im Gebet und in der Sammlung treu zu sein und um für alle Gläubigen ein Zeichen des ewigen Lebens zu sein, das schon hier auf Erden begonnen hat (vgl. 1 Petr 4,7). 53. Euch alle, die ihr im Nahen Osten zur Nachfolge Christi im Ordensleben gerufen seid, lade ich ein, euch stets wie der Prophet Jeremia vom Wort Gottes betören zu lassen und es in eurem Herzen wie ein verzehrendes Feuer zu hüten (vgl. Jer 20,7 - 9). Es ist der Seinsgrund, das Fundament und der letzte und objektive Bezugspunkt eurer Weihe. Das Wort Gottes ist Wahrheit. Indem ihr ihm gehorcht, heiligt ihr eure Seelen, um einander aufrichtig als Brüder und Schwestern zu lieben (vgl. 1 Petr 1,22). Welchen kanonischen Status auch immer euer Institut hat, seid bereit, im Geist der Gemeinschaft mit dem Bischof am seelsorglichen und missionarischen Wirken mitzuarbeiten. Das Ordensleben ist ein persönliches Verbundensein mit Christus, dem Haupt des Leibes (vgl. Kol 1,18; Eph 4,15), und spiegelt das unauflösliche Band zwischen Christus und seiner Kirche wider. Unterstützt daher in diesem Sinn die Familien in ihrer christlichen Berufung und ermutigt die Pfarreien, für die verschiedenen Priester- und Ordensberufungen offen zu sein. Dies trägt dazu bei, innerhalb der Ortskirche das Gemeinschaftsleben für das Zeugnis zu stärken.(Anmerkung 51: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE ORDENSLEUTE UND SÄKULARINSTITUTE / KONGREGATION FÜR DIE BISCHÖFE, Leitlinien für die gegenseitigen Beziehungen zwischen Bischöfen und Ordensleuten in der Kirche Mutuae relationes [19. Mai 1978], 52 - 65: AAS 70 [1978], S. 500 - 505. Zur Stellung der Mönche in den katholischen Ostkirchen siehe Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Cann. 410 - 572.) Werdet nicht müde, auf die Anfragen der Männer und Frauen unserer Zeit zu antworten, indem ihr ihnen den Weg und den tiefen Sinn des Menschseins zeigt. 54. Ich möchte eine zusätzliche Erwägung hinzufügen, die sich nicht nur an die Gottgeweihten richtet, sondern an alle Glieder der katholischen Ostkirchen. Sie betrifft die evangelischen Räte, die besonders das monastische Leben kennzeichnen. Bekanntlich war gerade das Ordensleben am Anfang zahlreicher Kirchen sui iuris maßgeblich und ist es in ihrem gegenwärtigen Leben weiterhin. Mir scheint, es wäre angebracht, ausführlich und sorgfältig über die evangelischen Räte – den Gehorsam, die Keuschheit und die Armut – nachzudenken, um ihre Schönheit, die Kraft ihres Zeugnisses und ihre seelsorgliche Dimension heute wiederzuentdecken. Eine innere Erneuerung des Gläubigen, der Gemeinde der Glaubenden und der ganzen Kirche kann es nur geben, wenn es – gemäß der jeweiligen Berufung – eine entschlossene und unmißverständliche Rückkehr zum quaerere Deum, zur Suche nach Gott, gibt, die hilft, die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst zu bestimmen und in Wahrheit zu leben. Dies betrifft gewiß die Kirchen sui iuris, aber auch die lateinische Kirche. Die Laien 55. Durch die Taufe sind die gläubigen Laien volle Glieder des Leibes Christi und haben teil an der Sendung der universalen Kirche.(Anmerkung 52: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 30 - 38; Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem, 3; JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici [30. Dezember 1988]: AAS 81 [1989], S. 393 - 521.) Ihre Teilnahme am Leben und am inneren Wirken der Kirche ist die beständige geistliche Quelle, die es ihnen ermöglicht, über die Grenzen der kirchlichen Strukturen hinauszugehen. Als Apostel in der Welt übersetzen sie das Evangelium, die Glaubens- und die Soziallehre der Kirche in konkrete Taten.(Anmerkung 53: Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 45.103: AAS 89 [1997], S. 350 - 352.400; Propositio 24.) Die Christen können und müssen nämlich "als vollberechtigte Bürger im Geist der Seligpreisungen ihren Beitrag leisten und so Erbauer des Friedens und Apostel der Versöhnung zum Wohl der ganzen Gesellschaft werden."(Anmerkung 54: BENEDIKT XVI., Predigt in der Eucharistiefeier zum Abschluß der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [24. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 814.) 56. Da der euch eigene Bereich der weltliche ist(Anmerkung 55: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 31), ermutige ich euch, liebe gläubige Laien, die Bande der Brüderlichkeit und der Zusammenarbeit mit den Menschen guten Willens zu stärken für das Streben nach dem Gemeinwohl, für die gute Verwaltung der öffentlichen Güter, die Religionsfreiheit und die Achtung der Würde jedes Menschen. Auch wenn die Sendung der Kirche in einer Umgebung, in der die ausdrückliche Verkündigung des Evangeliums auf Hindernisse stößt oder nicht möglich ist, schwierig geworden ist, so führt unter den Völkern "ein rechtschaffenes Leben, damit sie durch eure guten Taten zur Einsicht kommen und Gott preisen am Tag der Heimsuchung" (1 Petr 2,12). Laßt es euch ein Herzensanliegen sein, durch die Kohärenz eures Lebens und eures täglichen Handelns für euren Glauben Rede und Antwort zu stehen (vgl. 1 Petr 3,15).(Anmerkung 56: Vgl. Propositio 30.) Damit euer Zeugnis wirklich Frucht bringt (vgl. Mt 7,16.20), rufe ich euch auf, die Spaltungen und alle subjektivistischen Interpretationen des christlichen Lebens zu überwinden. Seid darauf bedacht, das christliche Leben – mit seinen Werten und Anforderungen – nicht vom Leben in der Familie oder in der Gesellschaft, bei der Arbeit, in der Politik und in der Kultur zu trennen, weil alle verschiedenen Bereiche im Leben des Laien in den Plan Gottes hineingenommen sind.(Anmerkung 57: Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici [30. Dezember 1988], 57 - 63: AAS 81 [1989], S. 506 - 518.) Ich lade euch ein, um Christi willen wagemutig zu sein in der Gewißheit, daß weder Bedrängnis, noch Not, noch Verfolgung euch von ihm scheiden können (vgl. Röm 8,35). 57. Im Nahen Osten sind die Laien gewohnt, regelmäßige brüderliche Beziehungen mit den katholischen Gläubigen der verschiedenen Patriarchatskirchen oder mit der lateinischen Kirche zu pflegen und ihre Gotteshäuser zu besuchen, besonders wenn keine andere Möglichkeit besteht. Zu dieser bewundernswerten Wirklichkeit, die eine authentisch gelebte Gemeinschaft zeigt, kommt die Tatsache hinzu, daß sich die verschiedenen kirchlichen Jurisdiktionen auf fruchtbare Weise innerhalb desselben Territoriums überschneiden. In dieser Hinsicht ist die Kirche im Nahen Osten beispielhaft für die anderen Ortskirchen der restlichen Welt. Der Nahe Osten ist so gewissermaßen ein Labor, das schon die Zukunft der kirchlichen Situation vorwegnimmt. Diese Beispielhaftigkeit, die danach verlangt, vervollkommnet und unentwegt gereinigt zu werden, betrifft ebenso die vor Ort erworbene Erfahrung auf dem Gebiet der Ökumene. Die Familie 58. Die Familie ist als auf die Ehe gründete göttliche Institution, wie sie vom Schöpfer selbst gewollt wurde (vgl. Gen 2,18-24; Mt 19,5), heute einigen Gefahren ausgesetzt. Besonders die christliche Familie ist mehr denn je mit der Frage nach ihrer eigentlichen Identität konfrontiert. Denn die Wesenseigenschaften der sakramentalen Ehe – Einheit und Unauflöslichkeit (vgl. Mt 19,6) – und das christliche Modell von Familie, Sexualität und Liebe werden in unseren Tagen von manchen Gläubigen, wenn nicht bestritten, so doch zumindest nicht verstanden. Es gibt die Versuchung, sich Modelle anzueignen, die dem Evangelium widersprechen, doch durch eine gewisse, auf der ganzen Welt verbreitete, zeitgenössische Kultur vermittelt werden. Die eheliche Liebe ist in den endgültigen Bund zwischen Gott und seinem Volk eingefügt, der im Kreuzesopfer vollständig besiegelt wurde. Ihr Merkmal der gegenseitigen Selbsthingabe bis zum Martyrium wird in manchen Ostkirchen deutlich, wo während der Hochzeitsfeier, die mit Fug und Recht "Feier der Krönung" genannt wird, jeder der Verlobten den anderen als "Krone" empfängt. Die eheliche Liebe ist nicht das Werk eines Augenblicks, sondern das geduldige Projekt eines ganzen Lebens. Die christliche Familie, die aufgerufen ist, täglich die Liebe in Christus zu leben, ist ein bevorzugtes Instrument der Gegenwart und der Sendung der Kirche in der Welt. In dieser Hinsicht braucht sie seelsorgliche Begleitung(Anmerkung 58: Vgl. DERS., Apostolisches Schreiben über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute Familiaris consortio [22. November 1981]: AAS 74 [1982], S. 81 - 191; HEILIGER STUHL, Charta der Familienrechte [22. Oktober 1983], Vatikanstadt 1983; JOHANNES PAUL II., Brief an die Familien [2. Februar 1994]: AAS 86 [1994], S. 868 - 925; PÄPSTLICHER RAT FÜR GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nrn. 209 - 254) und Unterstützung in ihren Problemen und Schwierigkeiten, besonders dort, wo die gesellschaftlichen, familiären und religiösen Bezugspunkte im Begriff sind, schwächer zu werden oder verloren zu gehen.(Anmerkung 59: Vgl. Propositio 35.) 59. Ihr christlichen Familien im Nahen Osten, ich lade euch ein, euch immer durch die Kraft des Wortes Gottes und der Sakramente zu erneuern, um noch mehr Hauskirche zu sein, die zum Gebet und zum Glauben erzieht, wie auch Pflanzstätte von Berufungen, natürliche Schule der Tugenden und der sittlichen Werte, lebendige Grundzelle der Gesellschaft. Betrachtet stets die Familie von Nazareth(Anmerkung 60: Vgl. BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe auf dem "Mount Precipice", Nazareth [14. Mai 2009]: AAS 101 [2009], S. 478 - 482), welche die Freude hatte, das Leben zu empfangen und ihre Frömmigkeit durch die Einhaltung des Gesetzes und der religiösen Bräuche ihrer Zeit auszudrücken (vgl. Lk 2,22 - 24.41). Schaut auf diese Familie, die auch die Prüfung des Verlusts des jungen Jesus, den Schmerz der Verfolgung und der Auswanderung sowie die harte Alltagsarbeit erlebt hat (vgl. Mt 2,13 ff.; Lk 2,41 ff.) Helft euren Kindern, im Heranwachsen an Weisheit und Gnade zuzunehmen vor Gott und den Menschen (vgl. Lk 2,52); lehrt sie, Gottvater zu vertrauen, Christus nachzuahmen und sich vom Heiligen Geist führen zu lassen. 60. Nach diesen Überlegungen über die gemeinsame Würde und Berufung von Mann und Frau in der Ehe gehen meine Gedanken mit besonderer Aufmerksamkeit zu den Frauen im Nahen Osten. Der erste Schöpfungsbericht zeigt die ontologische Gleichheit von Mann und Frau (vgl. Gen 1,27 - 29). Diese Gleichheit ist durch die Folgen der Sünde verletzt (vgl. Gen 3,16; Mt 19,4). Dieses Erbe, das Frucht der Sünde ist, zu überwinden, ist für jeden Menschen, Mann oder Frau, eine Pflicht.(Anmerkung 61: Vgl. JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem [15. August 1988], 10: AAS 80 [1988], S. 1676 - 1677.) Ich möchte allen Frauen versichern, daß die katholische Kirche in Treue zum göttlichen Plan die persönliche Würde der Frau und ihre Gleichheit mit dem Mann fördert angesichts der verschiedensten Formen von Diskriminierung, denen sie aufgrund der Tatsache ihres Frauseins unterworfen sind.(Anmerkung 62: Vgl. DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici [30. Dezember 1988], 49: AAS 81 [1989], S. 487.) Ein derartiges Handeln verwundet das Leben der Gemeinschaft und des Zeugnisses. Es verletzt nicht nur die Frau schwer, sondern auch und vor allem Gott, den Schöpfer. In Anerkennung ihrer natürlichen Feinfühligkeit für die Liebe und den Schutz des menschlichen Lebens und in Wertschätzung ihres spezifischen Beitrags in der Erziehung, der Gesundheit, der humanitären Arbeit und des apostolischen Lebens bin ich der Ansicht, daß die Frauen sich für das öffentliche und kirchliche Leben stärker einsetzen und darin noch mehr einbezogen werden sollen.(Anmerkung 63: Vgl. DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 50: AAS 89 [1997], S. 355; Schlußbotschaft [22. Oktober 2010], 4.4: L’Osservatore Romano [dt.], Jg. 40 [2010], Nr. 44 [5. November 2010], S. 14; vgl. Propositio 27.) So werden sie ihren eigenen Beitrag zum Aufbau einer brüderlicheren Gesellschaft und einer durch die wirkliche Gemeinschaft der Getauften noch schöneren Kirche leisten. 61. Ferner muß bei Rechtsstreitigkeiten, in denen sich Mann und Frau, vor allem in Ehefragen, leider gegenüberstehen, die Stimme der Frau gleich der des Mannes voll Respekt gehört und berücksichtigt werden, damit gewisse Ungerechtigkeiten ein Ende finden. In diesem Sinn muß eine bessere und gerechtere Anwendung des Kirchenrechts angeregt werden. Die Gerechtigkeit der Kirche muß auf allen Ebenen und in allen Bereichen, die sie berührt, vorbildlich sein. Man muß unbedingt darauf achten, daß Rechtsstreitigkeiten in Ehefragen nicht zum Glaubensabfall führen. Außerdem müssen die Christen in den Ländern der Region die Möglichkeit haben, im Bereich der Ehe und in anderen Bereichen ihr Recht ohne Einschränkung anwenden zu können. Die Jugendlichen und die Kinder 62. Mit väterlicher Sorge grüße ich alle Kinder und Jugendlichen der Kirche im Nahen Osten. Ich denke an die Jugendlichen auf der Suche nach einem bleibenden menschlichen und christlichen Sinn ihres Lebens. Ich vergesse auch jene nicht, für die die Jugendzeit mit einer zunehmenden Entfernung von der Kirche einhergeht, was durch ein Aufgeben der religiösen Praxis zum Ausdruck kommt. 63. Ich lade euch, liebe Jugendliche, ein, durch die Kraft des Gebets ständig die wahre Freundschaft mit Jesus zu pflegen (vgl. Joh 15,13 - 15). Je fester sie ist, desto mehr wird sie euch als Leuchtturm dienen und euch vor Verwirrungen des Jugendalters schützen (vgl. Ps 25,7). Das persönliche Gebet wird durch den regelmäßigen Empfang der Sakramente stärker, die eine echte Begegnung mit Gott und mit den Brüdern in der Kirche ermöglichen. Fürchtet oder schämt euch nicht, die Freundschaft mit Jesus im Kreis der Familie und in der Öffentlichkeit zu bezeugen. Macht es immer im Respekt vor Andersgläubigen, Juden und Muslimen, mit denen ihr den Glauben an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und auch die großen menschlichen und spirituellen Ideale teilt. Fürchtet oder schämt euch nicht, Christen zu sein. Die Beziehung zu Jesus wird euch die innere Bereitschaft zu einer vorbehaltlosen Zusammenarbeit mit euren Mitbürgern schenken, welcher Religion sie auch angehören, um die Zukunft eurer Länder auf die Menschenwürde zu bauen, die Quelle und das Fundament der Freiheit, der Gleichheit und des Friedens in Gerechtigkeit. In der Liebe zu Christus und zu seiner Kirche könnt ihr in der heutigen Zeit die Werte, die für eure volle Verwirklichung nützlich sind, von den Übeln, die langsam euer Leben vergiften, klug unterscheiden. Gebt acht, euch nicht durch den Materialismus und durch gewisse soziale Netzwerke verführen zu lassen, deren wahlloser Gebrauch die wahre Natur der menschlichen Beziehungen beeinträchtigen könnte. Die Kirche im Nahen Osten rechnet sehr mit eurem Gebet, eurem Enthusiasmus, eurer Kreativität, eurem Können und eurem ganzen Einsatz im Dienst für Christus, für die Kirche, für die Gesellschaft und vor allem für eure Altersgenossen.(Anmerkung 64: Vgl. Propositio 36.) Zögert nicht, euch allen Initiativen anzuschließen, die euch helfen, euren Glauben zu stärken und dem besonderen Ruf, den der Herr an euch richtet, zu antworten. Zögert auch nicht, dem Ruf Christi zu folgen und das priesterliche, gottgeweihte oder missionarische Leben zu wählen. 64. Ist es nötig, liebe Kinder – ich richte mich jetzt an euch –, euch daran zu erinnern, daß ihr auf eurem Weg mit dem Herrn euren Eltern besondere Ehre schuldet (vgl. Ex 20,12; Dtn 5,16)? Sie sind eure Erzieher im Glauben. Gott hat euch ihnen anvertraut als eine unermeßliche Gabe für die Welt, damit sie für eure Gesundheit, eure menschliche und christliche Erziehung und für eure intellektuelle Bildung Sorge tragen. Die Eltern, die Erzieher und Ausbilder und die öffentlichen Einrichtungen haben ihrerseits die Pflicht, die Rechte der Kinder vom Augenblick der Empfängnis an zu respektieren.(Anmerkung 65: Vgl. Propositio 27.) Was euch betrifft, liebe Kinder, lernt schon jetzt den Gehorsam gegenüber Gott, indem ihr euren Eltern gehorcht, wie Jesus es als Kind getan hat (vgl. Lk 2,51). Lernt auch, in der Familie, in der Schule und überall als Christen zu leben. Der Herr vergißt euch nicht (vgl. Jes 49,15). Er geht immer an eurer Seite und möchte, daß ihr aufgeweckt, mutig und freundlich mit ihm geht (vgl. Tob 6,2). In allen Umständen lobt Gott, den Herrn, bittet ihn, eure Wege zu leiten und eure Pfade und eure Unternehmungen zum Ziel zu führen. Erinnert euch immer an seine Gebote und laßt sie euch nicht aus eurem Herzen reißen (vgl. Tob 4,19). 65. Ich möchte auch erneut auf die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen dringen, die von besonderer Bedeutung ist. Die christliche Familie ist der natürliche Ort der Entfaltung des Glaubens der Kinder und Jugendlichen, ihre erste Schule der Katechese. In diesen schwierigen Zeiten ist es nicht leicht, ein Kind oder einen Jugendlichen zu erziehen. Diese unersetzbare Aufgabe ist aufgrund der besonderen sozio-politischen und religiösen Situation, in der sich die Region befindet, noch komplexer geworden. Daher möchte ich den Eltern meine Unterstützung und mein Gebet versichern. Es ist wichtig, daß ein Kind in einer Familie aufwächst, die eins ist und ihren Glauben einfach und überzeugt lebt. Es ist für Kinder und Jugendliche wichtig, ihre Eltern beten zu sehen. Es ist wichtig, daß sie ihre Eltern zur Kirche begleiten und sehen und verstehen, daß sie Gott lieben und danach verlangen, ihn noch besser zu kennen. Es ist ebenfalls wichtig, daß Kinder und Jugendliche die Liebe ihrer Eltern gegenüber dem Nächsten, der wirklich in Not ist, sehen. So verstehen sie, daß es gut und schön ist, Gott zu lieben, und sie werden gerne in der Kirche sein und stolz darauf sein, weil sie von innen her verstanden und erfahren haben, wer der wahre Fels ist, auf den sie ihr Leben bauen (vgl. Mt 7,24 - 27; Lk 6,48). Den Kindern und Jugendlichen, die diese Chance nicht haben, wünsche ich, auf ihrem Weg echte Zeugen zu finden, die ihnen helfen, Christus zu begegnen und die Freude zu entdecken, sich in seine Nachfolge zu begeben. DRITTER TEIL "Wir … verkündigen Christus als den Gekreuzigten … Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Kor 1,23 - 24) 66. Das christliche Zeugnis, die erste Missionsform, gehört zur ursprünglichen Berufung der Kirche und wird in der Treue zu dem von Jesus, dem Herrn, empfangenen Auftrag erfüllt: "Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde" (Apg 1,8). Wenn sie Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündigt (vgl. Apg 2,23 - 24), wird die Kirche immer mehr das, was sie von ihrem Wesen und ihrer Berufung her schon ist: Sakrament der Gemeinschaft und der Versöhnung mit Gott und unter den Menschen.(Anmerkung 66: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 1.) Gemeinschaft und Zeugnis für Christus sind also die beiden Aspekte ein und derselben Wirklichkeit, denn das eine wie das andere schöpfen aus der gleichen Quelle, der Heiligen Dreifaltigkeit, und ruhen auf denselben Fundamenten: auf dem Wort Gottes und den Sakramenten. 67. Diese geben den anderen Gottesdiensthandlungen Nahrung und machen sie authentisch ebenso wie die Andachtsübungen der Volksfrömmigkeit. Die Stärkung des geistlichen Lebens läßt die Liebe wachsen und führt naturgemäß zum Zeugnis. Der Christ ist vor allem ein Zeuge. Und um den Ansprüchen unserer Zeitgenossen genügen zu können, verlangt das Zeugnis nicht nur eine christliche Bildung, die der Verständlichkeit der Glaubenswahrheiten angemessen ist, sondern auch die Kohärenz eines Lebens, das mit ebendiesem Glauben übereinstimmt. Das Wort Gottes, Seele und Quelle der Gemeinschaft und des Zeugnisses 68. "Sie hielten an der Lehre der Apostel fest" (Apg 2,42). Durch diese Aussage macht der heilige Lukas die erste Gemeinde zum Prototyp der apostolischen Kirche, d. h. der Kirche, die auf die von Christus erwählten Apostel und ihre Lehre gegründet ist. Die Hauptaufgabe der Kirche, die sie von Christus selber erhält, ist, das apostolische Glaubensgut, das Fundament ihrer Einheit, unversehrt zu bewahren (vgl. 1 Tim 6,20) und diesen Glauben der ganzen Welt zu verkünden. Die Lehre der Apostel hat die Beziehung der Kirche zu den Schriften des Ersten Bundes, die in der Person Jesu Christi ihre Erfüllung finden, deutlich dargestellt (vgl. Lk 24,44 - 53). 69. Wenn man das Geheimnis der Kirche als Gemeinschaft und Zeugnis im Licht dieser Schriften, des großen Buches des Bundes zwischen Gott und seinem Volk (vgl. Ex 24,7), meditiert, wird man zu der Erkenntnis Gottes als "Licht für den Pfad" (vgl. Ps 119,105) geführt, das den "Fuß nicht wanken" läßt (Ps 121,3).(Anmerkung 67: Vgl. BENEDIKT XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini [30. September 2010], 24: AAS 102 [2010], S. 704.) Mögen die Gläubigen, die Erben dieses Bundes, die Wahrheit immer in der gesamten Schrift suchen, die von Gott eingegeben ist (vgl. 2 Tim 3,16 - 17). Sie ist nicht Objekt historischen Interesses, sondern "Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte erfahren können“(Anmerkung 68: Ebd., Nr. 19: AAS 102 [2010], S. 701), in unserer menschlichen Geschichte. 70. Die exegetischen Schulen von Alexandrien, von Antiochien, von Edessa oder von Nisibis haben im 4. und 5. Jahrhundert stark zum Verständnis und zur dogmatischen Formulierung des christlichen Mysteriums beigetragen.(Anmerkung 69: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.) Die ganze Kirche ist ihnen dafür dankbar. Die Anhänger der verschiedenen Strömungen der Textinterpretation einigten sich über traditionelle exegetische Grundsätze, die von den Kirchen des Ostens und des Westens gemeinhin anerkannt werden. Der wichtigste ist der Glaube, daß Jesus Christus die innere Einheit der beiden Testamente und folglich die Einheit von Gottes Heilsplan in der Geschichte verkörpert (vgl. Mt 5,17). Die Jünger haben erst nach der Auferstehung, als Jesus verherrlicht worden war (vgl. Joh 12,16), begonnen, diese Einheit zu begreifen. Danach kommt die Treue zu einer typologischen Lesart der Bibel, der zufolge gewisse Tatsachen des Alten Testaments eine Präfiguration (Typus und Bild) der Wirklichkeiten des Neuen Bundes in Jesus Christus sind; er ist der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Bibel (vgl. 1 Kor 15,22.45 - 47; Hebr 8,6 - 7). Die liturgischen und geistlichen Texte der Kirche bezeugen die Fortdauer dieser beiden Interpretationsprinzipien, die die kirchliche Feier des Wortes Gottes strukturieren und das christliche Zeugnis inspirieren. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dazu weiter klargestellt, daß man, um den richtigen Sinn der heiligen Texte zu entdecken, auf den Inhalt und auf die Einheit der ganzen Schrift achten muß, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens.(Anmerkung 70: Vgl. Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 12.) Aus der Sicht eines kirchlichen Zugangs zur Bibel wird eine individuelle wie auch eine in der Gruppe durchgeführte Lektüre des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens Verbum Domini sehr nützlich sein. 71. Die christliche Präsenz in den biblischen Ländern des Nahen Ostens ist weit mehr als eine soziologische Zugehörigkeit oder ein bloßer wirtschaftlicher und kultureller Erfolg. Wenn sie in der Nachfolge der ersten Jünger, die Jesus wählte, um sie als seine Gefährten bei sich zu haben und um sie zur Verkündigung auszusenden (vgl. Mk 3,14), den Elan des Ursprungs wiederfindet, wird die christliche Präsenz einen neuen Anlauf nehmen. Damit das Wort Gottes die Seele und das Fundament des christlichen Lebens sei, soll die Verbreitung der Bibel in den Familien die tägliche Lektüre und Meditation des Wortes Gottes (lectio divina) begünstigen. Es geht darum, in geeigneter Weise eine wirkliche biblische Pastoral einzurichten. 72. Die modernen Kommunikationsmittel können ein passendes Instrument zur Verkündigung des Wortes Gottes sein und seine Lektüre und Meditation fördern. Eine einfache und verständliche Erklärung der Bibel wird dazu beitragen, Vorurteile oder falsche Vorstellungen über sie, die nutzlose und beschämende Kontroversen schüren, gründlich zu zerstreuen.(Anmerkung 71: Vgl. Propositio 2.) In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, die notwendige Unterscheidung zwischen Inspiration und Offenbarung mit einzubeziehen, denn die nicht eindeutige Auffassung dieser beiden Begriffe in der Vorstellung vieler verfälscht ihr Verständnis der heiligen Texte, was für die Zukunft des interreligiösen Dialogs nicht ohne Auswirkung bleibt. Diese Mittel können auch für die Verbreitung der Lehre der Kirche hilfreich sein. 73. Damit diese Ziele erreicht werden, sollte man die bereits bestehenden Kommunikationsmittel unterstützen oder die Entwicklung neuer geeigneter Strukturen fördern. Die Ausbildung von Personal, das auf diesem nicht nur unter technischem, sondern auch unter dogmatischem und ethischem Aspekt neuralgischen Gebiet spezialisiert ist, wird immer dringlicher, besonders im Hinblick auf die Evangelisierung. 74. Doch gleich welcher Platz den eingesetzten sozialen Kommunikationsmitteln eingeräumt wird, dürfen sie nicht die Meditation des Wortes Gottes, seine Verinnerlichung und seine Anwendung im Hinblick auf die Beantwortung der Fragen der Gläubigen ersetzen. So wird in ihnen eine Vertrautheit mit der Schrift wachsen, sie werden nach Spiritualität suchen und sie vertiefen, und sie werden sich für das Apostolat und die Mission einsetzen.(Anmerkung 72: Vgl. ebd.) Entsprechend den pastoralen Bedingungen eines jeden Landes der Region könnte eventuell ein Jahr der Bibel ausgerufen und, wenn es angebracht erscheint, im Anschluß daran eine jährliche Bibelwoche durchgeführt werden.(Anmerkung 73: Vgl. Propositio 3.) Die Liturgie und das sakramentale Leben 75. Die ganze Geschichte hindurch ist die Liturgie für die Gläubigen des Nahen Ostens ein wesentliches Element geistlicher Einheit und der Gemeinschaft gewesen. Tatsächlich bezeugt die Liturgie in vorzüglicher Weise die Überlieferung der Apostel, die in den besonderen Traditionen der Kirchen des Ostens und des Westens fortgesetzt und entfaltet worden ist. Eine Erneuerung der liturgischen Texte und Feiern dort vorzunehmen, wo es nötig ist, könnte den Gläubigen erlauben, sich die Tradition sowie den biblischen und patristischen, theologischen und spirituellen Reichtum(Anmerkung 74: Vgl. Propositio 39) der Liturgien in der Erfahrung des Mysteriums, in das diese einführen, besser zu eigen zu machen. Eine solche Unternehmung muß natürlich so weit wie möglich in Zusammenarbeit mit den Kirchen durchgeführt werden, die nicht in voller Gemeinschaft stehen, aber gemeinsam Hüter derselben liturgischen Traditionen sind. Die erwünschte liturgische Erneuerung muß auf das Wort Gottes, auf die jeder Kirche eigene Tradition und auf die neuen christlichen Errungenschaften auf den Gebieten der Theologie und der Anthropologie gegründet sein. Sie wird Frucht bringen, wenn die Christen zu der Überzeugung kommen, daß das sakramentale Leben sie tief in das neue Leben in Christus einführt (vgl. Röm 6,1 - 6; 2 Kor 5,17), das die Quelle von Gemeinschaft und Zeugnis ist. 76. Ein wesentliches Band besteht zwischen der Liturgie, die Quelle und Höhepunkt des Lebens der Kirche ist und die Einheit des Episkopats wie der Weltkirche begründet, und dem Petrusdienst, der diese Einheit erhält. Die Liturgie drückt diese Wirklichkeit vor allem während der Eucharistie aus, die in Einheit nicht nur mit dem Bischof, sondern als erstes mit dem Papst, dem Episkopat, dem gesamten Klerus und mit dem ganzen Volk Gottes gefeiert wird. 77. Durch das Sakrament der Taufe, die im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit gespendet wird, treten wir in die Gemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ein und werden Christus gleichgestaltet, um ein neues Leben zu führen (vgl. Röm 6,11 - 14; Kol 2,12), ein Leben des Glaubens und der Umkehr (vgl. Mk 16,15 - 16; Apg 2,38). Die Taufe fügt uns auch in den Leib Christi, die Kirche, ein, die ein Keim und eine Vorwegnahme der in Christus versöhnten Menschheit ist (vgl. 2 Kor 5,19). Da sich die Getauften in Gemeinschaft mit Gott befinden, sind sie aufgerufen, hier und jetzt untereinander in geschwisterlicher Gemeinschaft zu leben und eine echte Solidarität mit den anderen Gliedern der Menschheitsfamilie zu entwickeln, ohne Diskriminierung z. B. aufgrund der Ethnie und der Religion. In diesem Zusammenhang sollte man dafür sorgen, daß die Vorbereitung der Jugendlichen und der Erwachsenen auf die Sakramente mit äußerster Gründlichkeit und über einen nicht zu kurzen Zeitraum hin geschieht. 78. Die katholische Kirche sieht in der gültig gespendeten Taufe "ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind".(Anmerkung 75:: ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 22.) Möge eine ökumenische Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Taufe zwischen der katholischen Kirche und den Kirchen, mit denen sie einen theologischen Dialog führt, unverzüglich zustande kommen, um in der Folge die volle Gemeinschaft im apostolischen Glauben wiederherstellen zu können! Die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft und des christlichen Zeugnisses im Nahen Osten hängt zum Teil davon ab. 79. Die Eucharistie, in der die Kirche das große Mysterium des Todes und der Auferstehung Jesu Christi für das Heil der vielen feiert, begründet die kirchliche Gemeinschaft und führt sie zur Vollendung. Der heilige Paulus hat das in wunderbarer Weise zu einem ekklesiologischen Grundsatz erhoben, indem er sagt: "Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot" (1 Kor 10,17). Da die Kirche Christi in ihrer Mission unter dem Drama der Spaltungen und der Trennungen leidet und nicht wünscht, daß die Zusammenkunft ihrer Glieder ihnen zum Gericht wird (vgl. 1 Kor 11,17 - 34), hofft sie inständig, daß der Tag nahe ist, an dem alle Christen endlich gemeinsam in der Einheit eines einzigen Leibes an dem einen Brot teilhaben können. 80. In der Feier der Eucharistie macht die Kirche auch die tägliche Erfahrung der Gemeinschaft ihrer Glieder im Hinblick auf das tägliche Zeugnis in der Gesellschaft; diese Erfahrung stellt eine wesentliche Dimension der christlichen Hoffnung dar. So wird sich die Kirche der inneren Einheit von eschatologischer Hoffnung und Engagement in der Welt bewußt, wenn sie das Gedächtnis der gesamten Heilsökonomie feiert – von der Inkarnation bis zur Parusie. Diese Einsicht könnte noch mehr vertieft werden in einer Zeit, in der die eschatologische Dimension des Glaubens verblaßt ist und der christliche Sinn der Geschichte als Weg zur Vollendung in Gott von Projekten überdeckt wird, die auf den rein menschlichen Horizont beschränkt bleiben. Als Pilger auf dem Weg zu Gott und in der Nachfolge unzähliger Einsiedler und Mönche, die als Suchende nach dem Absoluten Ausschau hielten, werden die Christen im Nahen Osten in der Eucharistie die Kraft und das Licht zu finden wissen, die nötig sind, um – oft gegen den Strom und trotz zahlloser Beschränkungen – das Evangelium zu bezeugen. Sie werden sich auf die Fürsprache der Gerechten, der Heiligen, der Märtyrer und der Bekenner sowie all jener stützen, die dem Herrn wohlgefällig sind, wie unsere Liturgien des Ostens und des Westen sie besingen. 81. Das Sakrament der Vergebung und der Versöhnung, für das ich gemeinsam mit allen Synodenvätern eine Erneuerung im Verständnis und in der Praxis der Gläubigen wünsche, ist eine Einladung zur Umkehr des Herzens.(Anmerkung 76: Vgl. Propositio 37.) In der Tat fordert Christus klar und deutlich: "Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst … geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder" (Mt 5,23 - 24). Die sakramentale Umkehr ist ein Geschenk, das verlangt, besser angenommen und praktiziert zu werden. Das Sakrament der Vergebung und der Versöhnung schenkt gewiß den Nachlaß der Sünden, aber es heilt auch. Eine häufigere Praxis fördert unweigerlich die Gewissensbildung und die Versöhnung und hilft zugleich, die verschiedenen Ängste zu überwinden und die Gewalt zu bekämpfen. Denn Gott allein schenkt den wahren Frieden (vgl. Joh 14,27). In diesem Sinne ermahne ich die Hirten und die ihnen anvertrauten Gläubigen, unablässig das individuelle und das kollektive Gedächtnis zu reinigen und durch die gegenseitige Akzeptanz und die Zusammenarbeit mit Menschen guten Willens das Denken von Vorurteilen zu befreien. Ich rufe sie ebenfalls auf, alle Initiativen für Frieden und Versöhnung zu fördern, selbst inmitten von Verfolgungen, um wahre Jünger Christi gemäß dem Geist der Seligpreisungen zu werden (vgl. Mt 5,3 - 12). Die "rechtschaffene Lebensführung" (vgl. 1 Petr 3,16) muß durch ihre Vorbildlichkeit der "Sauerteig" werden, der die gesamte Menschheit verwandelt (vgl. Lk 13,20 - 21), denn diese Rechtschaffenheit gründet sich auf Christus, der zur Vollkommenheit einlädt (vgl. Mt 5,48; Jak 1,4; 1 Petr 1,16). Das Gebet und die Wallfahrten 82. Die Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten hat mit Nachdruck die Notwendigkeit des Gebetes im Leben der Kirche unterstrichen, damit sie sich von ihrem Herrn verwandeln läßt und jeder Gläubige dazu bereit ist, daß Christus in ihm lebt (vgl. Gal 2,20). Wie nämlich Jesus selbst es gezeigt hat, als er sich in den entscheidenden Momenten seines Lebens zum Gebet zurückzog, findet die Wirksamkeit der missionarischen Verkündigung und folglich des Zeugnisses ihre Quelle im Gebet. Wenn der Gläubige sich dem Wirken des Geistes Gottes öffnet, läßt er mit seinem persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet den Reichtum der Liebe und das Licht der Hoffnung, die er in sich trägt (vgl. Röm 5,5), in die Welt dringen. Möge das Verlangen nach dem Gebet bei den Hirten des Gottesvolkes und bei den Gläubigen wachsen, damit die Betrachtung des Angesichtes Christi immer mehr ihr Zeugnis und ihre Taten inspiriere! Jesus hat seinen Jüngern empfohlen, ohne Unterlaß zu beten und nicht den Mut zu verlieren (vgl. Lk 18,1). Die durch Egoismus, Ungerechtigkeit oder Machtstreben verursachten schmerzlichen menschlichen Situationen können Überdruß und Mutlosigkeit erzeugen. Darum empfiehlt Jesus, beharrlich zu beten. Es ist das wahre "Offenbarungszelt" (vgl. Ex 40,34), der bevorzugte Ort der Gemeinschaft mit Gott und mit den Menschen. Vergessen wir nicht die Bedeutung des Namens des Kindes, dessen Geburt durch Jesaja angekündigt wurde und das das Heil bringt: Immanuel, "Gott mit uns" (vgl. Jes 7,14; Mt 1,23). Jesus ist unser Immanuel, der wahre Gott mit uns. Rufen wir ihn inständig an! 83. Als Land der biblischen Offenbarung ist der Nahe Osten sehr bald ein bevorzugtes Wallfahrtsziel für viele Christen geworden, die aus aller Welt kamen, um ihren Glauben zu festigen und eine zutiefst geistliche Erfahrung zu machen. Es handelte sich damals um einen Weg der Buße, der einem authentischen Durst nach Gott entsprach. Die heutigen biblischen Pilgerreisen müssen zu dieser anfänglichen inneren Einstellung zurückkehren. Wenn die Wallfahrt zu den heiligen und apostolischen Stätten in einer Haltung der Buße und Umkehr und in der Suche nach Gott den Schritten Christi und der Apostel in der Geschichte nachgeht, kann sie, wenn sie im Glauben und mit innerer Tiefe erlebt wird, eine authentische Nachfolge Christi sein. In zweiter Linie erlaubt sie den Gläubigen auch, noch mehr den sichtbaren Reichtum der biblischen Geschichte in sich aufzunehmen, der ihnen die großen Momente der Heilsökonomie vor Augen führt. Mit der biblischen Pilgerreise sollte man auch die Wallfahrt zu den Heiligtümern der Märtyrer und der Heiligen verbinden, in denen die Kirche Christus, die Quelle ihres Martyriums und ihrer Heiligkeit, verehrt. 84. Sicher, die Kirche lebt in der wachsamen und zuversichtlichen Erwartung der endgültigen Ankunft des Bräutigams (vgl. Mt 25,1 - 13). Ihrem Meister folgend erinnert sie daran, daß die wahre Anbetung im Geist und in der Wahrheit geschieht und nicht auf einen heiligen Ort begrenzt ist, gleich welche symbolische und religiöse Bedeutung er im Bewußtsein der Gläubigen haben mag (vgl. Joh 4,21.23). Dennoch empfindet die Kirche und in ihr jeder Getaufte das legitime Bedürfnis einer Rückkehr zu den Quellen. An den Orten, wo die Heilsereignisse stattgefunden haben, kann jeder Pilger einen Weg der Umkehr zu seinem Herrn beschreiten und neue Kraft finden. Ich hoffe, daß die Gläubigen des Nahen Ostens selber zu diesen durch den Herrn selbst geheiligten Orten pilgern können und uneingeschränkt freien Zugang zu den heiligen Stätten haben. Außerdem werden die Wallfahrten an diese Orte die Christen nicht-östlicher Tradition den liturgischen und spirituellen Reichtum der orientalischen Kirchen entdecken lassen. Sie werden auch dazu beitragen, die christlichen Gemeinden zu unterstützen und zu ermutigen, treu und tapfer auf diesem gesegneten Boden zu bleiben. Evangelisierung und Nächstenliebe: Auftrag der Kirche 85. Die Weitergabe des christlichen Glaubens ist für die Kirche ein wesentlicher Auftrag. Um besser auf die Herausforderungen der Welt von heute zu reagieren, habe ich die Gesamtheit der Gläubigen der Kirche zu einer neuen Evangelisierung aufgerufen. Damit sie Frucht bringt, muß sie treu im Glauben an Jesus Christus verharren. "Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!" (1 Kor 9,16), rief der heilige Paulus aus. In der derzeitigen im Wandel begriffenen Lage möchte diese Neuevangelisierung dem Gläubigen bewußt machen, daß sein Lebenszeugnis(Anmerkung 77: Vgl. BENEDIKT XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini [30. September 2010], 97: AAS 102 [2010], S. 767 - 768) seinem Wort Kraft verleiht, wenn er es wagt, offen und mutig von Gott zu sprechen, um die Frohe Botschaft vom Heil zu verkünden. Mit der Weltkirche ist auch die Gesamtheit der katholischen Kirche im Nahen Osten eingeladen, sich in dieser Evangelisierung zu engagieren, wobei sie umsichtig den kulturellen und sozialen Kontext berücksichtigen und in der Lage sein muß, seine Erwartungen und seine Grenzen zu erkennen. Es ist vor allem ein Aufruf, durch die Begegnung mit Christus sich selber neu evangelisieren zu lassen, ein Aufruf, der sich an die ganze kirchliche Gemeinschaft wie an jedes ihrer Glieder richtet. Denn "schließlich" – wie Papst Paul VI. in Erinnerung rief – "wird derjenige, der evangelisiert worden ist, auch seinerseits wieder evangelisieren. Dies ist der Wahrheitstest, die Probe der Echtheit der Evangelisierung: Es ist undenkbar, daß ein Mensch das Wort Gottes annimmt und in das Himmelreich eintritt, ohne auch von sich aus Zeugnis zu geben und dieses Wort zu verkünden."(Anmerkung 78: Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi [8. Dezember 1975], 24: AAS 68 [1976], S. 21.) 86. Die Vertiefung des theologischen und pastoralen Sinns dieser Evangelisierung ist eine wichtige Aufgabe, um "das unschätzbare Geschenk zu teilen, das Gott uns machen wollte, indem er uns an seinem eigenen Leben teilhaben ließ."(Anmerkung 79: BENEDIKT XVI., Apostolisches Schreiben in Form eines "Motu proprio" Ubicumque semper [21. September 2010]: AAS 102 [2010], S. 791.) Eine solche Reflexion muß auf die beiden Dimensionen hin offen sein, die innerer Bestandteil der ganz eigenen Berufung und Sendung der katholischen Kirche im Nahen Osten sind: die ökumenische und die interreligiöse Dimension. 87. Seit mehreren Jahren sind im Nahen Osten die kirchlichen Bewegungen und die neuen Gemeinschaften präsent. Sie sind ein Geschenk des Geistes an unsere Zeit. Wenn man den Geist nicht auslöschen darf (vgl. 1 Thess 5,19), ist es jedoch Pflicht eines jeden und jeder Gemeinschaft, das eigene Charisma in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen (vgl. 1 Kor 12,7). Die katholische Kirche im Nahen Osten freut sich über das Zeugnis des Glaubens und des brüderlichen Miteinanders jener Gemeinschaften, in denen sich Christen mehrerer Kirchen ohne Vermengung oder Proselytismus zusammenfinden. Ich ermutige die Mitglieder dieser Bewegungen und Gemeinschaften, in Einheit mit dem Ortsbischof und in Übereinstimmung mit den pastoralen Vorschriften sowie unter Berücksichtigung der Geschichte, der Liturgie, der Spiritualität und der Kultur der Ortskirche Verbindendes aufzubauen und Zeugen des Friedens zu sein, der von Gott kommt.(Anmerkung 80: Vgl. Propositio 17.) So werden sie ihre großherzige Hingabe sowie ihren Wunsch, der Ortskirche und der Weltkirche zu dienen, zeigen. Schließlich wird ihre gute Einbindung die Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit ausdrücken und der Neuevangelisierung hilfreich sein. 88. Als Erbin eines apostolischen Elans, der die Frohe Botschaft in ferne Länder getragen hat, ist jede der im Nahen Osten ansässigen katholischen Kirchen auch eingeladen, ihren missionarischen Geist zu erneuern; und zwar durch die Ausbildung und die Aussendung von Männern und Frauen, die auf ihren Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Christus stolz sind und in der Lage, mutig das Evangelium sowohl in der Region wie in Gebieten der Diaspora oder auch in anderen Ländern der Welt zu verkünden.(Anmerkung 81: Vgl. Propositio 34.) Das Jahr des Glaubens, das im Zusammenhang mit der Neuevangelisierung steht, wird, wenn es mit starker Überzeugung gelebt wird, ein hervorragender Anreiz sein, eine innere Evangelisierung der Kirchen der Region zu fördern und das christliche Zeugnis zu festigen. Den gestorbenen und auferstandenen Sohn Gottes, den alleinigen und einzigen Retter aller, bekannt zu machen, ist eine grundlegende Pflicht der Kirche und eine gebotene Verantwortung für jeden Getauften. "Gott will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4). Angesichts dieser dringenden und anspruchsvollen Aufgabe und in einer multikulturellen wie multireligiösen Umgebung kann die Kirche auf den Beistand des Heiligen Geistes – ein Geschenk des auferstandenen Herrn, der die Seinen weiter unterstützt – zurückgreifen und auf den Schatz der großen spirituellen Traditionen, die helfen, Gott zu suchen. Ich ermutige die kirchlichen Gebiete, die Ordensinstitute und die Bewegungen, einen authentischen missionarischen Schwung zu entwickeln, der für sie ein Unterpfand spiritueller Erneuerung sein wird. Für diese Aufgabe kann sich die katholische Kirche im Nahen Osten auf die Unterstützung der Weltkirche verlassen. 89. Seit langer Zeit wirkt die katholische Kirche im Nahen Osten durch ein Netz von Bildungseinrichtungen und sozialen wie karitativen Institutionen. Sie macht sich den Aufruf Jesu zu eigen: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40). Sie begleitet die Verkündigung des Evangeliums mit Werken der Nächstenliebe, gemäß dem Wesen der christlichen Liebe selbst, als Antwort auf die unmittelbaren Bedürfnisse aller, gleich welcher Religion und unabhängig von Parteien und Ideologien, in der einzigen Absicht, auf Erden die Liebe Gottes zu den Menschen zu leben.(Anmerkung 82: Vgl. BENEDIKT XVI., Enzyklika Deus caritas est [25. Dezember 2005], 31: AAS 98 [2006], S. 243 - 245.) Durch das Zeugnis der Liebe leistet die Kirche ihren Beitrag zum Leben der Gesellschaft und wünscht sich, zum Frieden beizusteuern, den die Region so nötig hat. 90. Jesus Christus hat sich zum Nächsten der Schwächsten gemacht. Nach seinem Beispiel, widmet sich die Kirche der Aufnahme von Kindern in Entbindungsstationen und Waisenhäusern und arbeitet im Dienst der Aufnahme von Armen, Behinderten, Kranken und allen Bedürftigen, damit sie immer besser in die menschliche Gemeinschaft eingebunden werden. Die Kirche glaubt an die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen, und sie betet Gott, den Schöpfer und Vater, an, wenn sie seinem Geschöpf in materieller wie in spiritueller Not dient. Um Jesu willen, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist, erfüllt die Kirche ihren Dienst der Tröstung, der nichts anderes will, als die Liebe Gottes zur Menschheit widerzuspiegeln. Ich möchte an dieser Stelle meine Bewunderung und meinen Dank all denen zum Ausdruck bringen, die ihr Leben diesem edlen Ideal widmen, und ihnen versichern, daß Gott ihnen seinen Segen schenkt. 91. Die katholischen Bildungszentren, Schulen, Hochschulen und Universitäten des Nahen Ostens sind zahlreich. Die Ordensleute und die Laien, die dort arbeiten, leisten eine eindrucksvolle Arbeit, die ich sehr begrüße und unterstütze. Weit entfernt von jeglichem Proselytismus nehmen diese katholischen Bildungseinrichtungen Schüler oder Studenten anderer Kirchen und anderer Religionen auf.(Anmerkung 83: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE, Lehrmäßige Note zu einigen Aspekten der Evangelisierung [3. Dezember 2007], 12, Anmerkung 49 zum Proselytismus: AAS 100 [2008], S. 502.) Da sie unschätzbare kulturelle Mittel zur Bewußtseinsbildung der Jugendlichen sind, beweisen sie in aller Deutlichkeit, daß es im Nahen Osten möglich ist, durch eine Erziehung zur Toleranz und ein ständiges Bemühen um Menschlichkeit in gegenseitiger Achtung zu leben und zusammenzuarbeiten. Aufmerksam begegnen sie auch den örtlichen Kulturen, die sie fördern möchten, indem sie die in ihnen enthaltenen positiven Elemente unterstreichen. Eine große Solidarität unter den Eltern, den Studenten, den Universitäten wie auch unter den Eparchien und Diözesen, einschließlich der Hilfe von Sozialkassen, wird es ermöglichen, allen den Zugang zur Bildung zu gewährleisten, vor allem denen, die nicht die nötigen finanziellen Mittel besitzen. Die Kirche bittet auch die verschiedenen politisch Verantwortlichen, diese Einrichtungen zu unterstützen, die durch ihre Aktivität konkret und wirkungsvoll zum Gemeinwohl beitragen und am Aufbau und der Zukunft verschiedener Nationen mitwirken.(Anmerkung 84: Vgl. Propositio 32.) Die Katechese und die christliche Erziehung 92. Der heilige Petrus erinnert in seinem ersten Brief: "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig" (3,15 - 16). Die Getauften haben das Geschenk des Glaubens erhalten. Er inspiriert ihr ganzes Leben und bringt sie dazu, feinfühlig und respektvoll gegenüber den anderen, aber auch freimütig und furchtlos darüber Rechenschaft abzulegen (vgl. Apg 4,29 ff.) Sie sollen auch in angemessener Weise auf die Feier der heiligen Mysterien vorbereitet, in die Kenntnis der offenbarten Lehre eingeführt und zu einem kohärenten täglichen Leben und Handeln aufgerufen werden. Diese Erziehung der Gläubigen wird vor allem durch die Katechese sichergestellt, so weit wie möglich in brüderlicher Zusammenarbeit unter den verschiedenen Kirchen. 93. Die Liturgie und an erster Stelle die Feier der Eucharistie ist eine Glaubensschule, die zum Zeugnis führt. Das in geeigneter Weise verkündete Wort Gottes muß die Gläubigen dazu führen, seine Gegenwart und seine Wirksamkeit in ihrem Leben und in dem der Menschen von heute zu entdecken. Der Katechismus der Katholischen Kirche ist eine notwendige Grundlage. Wie ich bereits sagte, muß seine Lektüre und die Unterweisung in seiner Lehre ebenso wie eine konkrete Einführung in die Soziallehre der Kirche gefördert werden, die bekanntlich im Kompendium der Soziallehre der Kirche und in den großen Dokumenten des Päpstlichen Lehramtes formuliert worden ist.(Anmerkung 85: Vgl. Propositio 30.) Die Realität des kirchlichen Lebens im Nahen Osten und die gegenseitige Unterstützung in der Diakonie der Liebe werden dieser Erziehung die Möglichkeit einer ökumenischen Dimension verschaffen, gemäß der Besonderheit der Orte und in Übereinstimmung mit den jeweiligen kirchlichen Autoritäten. 94. Außerdem wird das Engagement der Christen in der Kirche und in den zivilen Einrichtungen durch eine solide geistliche Bildung gestärkt werden. Es erscheint notwendig, den Gläubigen – vor allem denen, die in den östlichen Traditionen leben, und vornehmlich aufgrund der Geschichte ihrer Kirchen – den Zugang zu den Schätzen der Kirchenväter und der geistlichen Lehrer zu erleichtern. Ich lade die Synoden und die anderen bischöflichen Einrichtungen ein, ernsthaft über die schrittweise Verwirklichung dieses Wunsches und die nötige Aktualisierung der Lehre der Kirchenväter nachzudenken, welche die biblische Schulung ergänzen wird. Das schließt ein, daß an erster Stelle die Priester, die gottgeweihten Personen und die Seminaristen oder Novizen aus diesen Schätzen schöpfen, um ihr persönliches Glaubensleben zu vertiefen, damit sie dann diese Schätze sicher mit anderen teilen können. Die Unterweisungen der geistlichen Lehrer des Ostens und des Westens sowie die der Heiligen werden denen, die wirklich nach Gott suchen, hilfreich sein. SCHLUSS 95. "Fürchte dich nicht, du kleine Herde!" (Lk 12,32). Mit diesen Worten Christi möchte ich alle Hirten und die gläubigen Christen im Nahen Osten ermutigen, furchtlos die Flamme der göttlichen Liebe in der Kirche und in ihrem Lebens und Arbeitsumfeld lebendig zu erhalten. Auf diese Weise werden sie das Wesen und die Sendung der Kirche so, wie Christus sie gewollt hat, unversehrt bewahren. Auf diese Weise werden auch die legitimen und historischen Unterschiede die Gemeinschaft unter den Getauften sowie mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus, dessen Blut von aller Sünde reinigt (vgl. 1 Joh 1,3.6 - 7), bereichern. Zu Beginn der Christenheit schrieb der heilige Petrus als Apostel Jesu Christi seinen ersten Brief an einige gläubige Gemeinden Kleinasiens, die sich in Schwierigkeiten befanden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war es gut, daß sich um den Nachfolger Petri Hirten und Gläubige des Nahen Ostens und aus anderen Orten zur Synode versammelten, um gemeinsam zu beten und nachzudenken. Der apostolische Anspruch und die Vielschichtigkeit des Augenblicks laden zum Gebet und zur pastoralen Rührigkeit ein. Die Dringlichkeit der Stunde und die Ungerechtigkeit so vieler dramatischer Situationen erfordern in einer relecture des Ersten Petrusbriefes, daß man sich zusammenfindet, um gemeinsam den gestorbenen und auferstandenen Christus zu bezeugen. Dieses Zusammensein, diese von unserem Herrn und Gott gewollte Gemeinschaft, ist nötiger denn je. Schieben wir alles beiseite, was Ursache – auch berechtigter – Unzufriedenheit zu sein scheint, um uns einmütig auf das einzig Notwendige zu konzentrieren: im einzigen Sohn alle Menschen und das ganze Universum zu vereinen (vgl. Röm 8,29; Eph 1,5.10). 96. Christus hat Petrus die besondere Aufgabe anvertraut, seine Schafe zu weiden (vgl. Joh 21,15 - 17), und auf ihn hat er seine Kirche gebaut (vgl. Mt 16,18). Als Nachfolger Petri vergesse ich die Nöte und Leiden der Gläubigen Christi – und vor allem derer, die im Nahen Osten leben – nicht. Der Papst ist ihnen im Geist besonders verbunden. Das ist der Grund, warum ich die politisch und religiös Verantwortlichen der Gesellschaften im Namen Gottes bitte, nicht nur die Leiden zu lindern, sondern die Ursachen, die sie hervorrufen, zu beseitigen. Ich bitte sie, alles zu tun, damit endlich der Friede herrsche. 97. Der Papst vergißt auch nicht, daß die Kirche – die Heilige Stadt, das himmlische Jerusalem –, deren Eckstein Christus ist (vgl. 1 Petr 2,4.7) und die auf Erden zu hüten er selbst den Auftrag erhalten hat, auf Fundamenten aus verschiedenen farbigen und kostbaren Edelsteinen aufgebaut ist (vgl. Offb 21,14.19 - 20). Die altehrwürdigen orientalischen Kirchen und die Kirche lateinischen Ritus sind diese glänzenden Juwelen, die verblassen in der Anbetung vor dem "Strom, dem Wasser des Lebens, klar wie Kristall, der vom Thron Gottes und des Lammes ausgeht" (vgl. Offb 22,1). 98. Um den Menschen zu ermöglichen, daß sie das Angesicht Gottes und seinen auf ihre Stirn geschriebenen Namen (vgl. Offb 22,4) schauen, lade ich die Gesamtheit der katholischen Gläubigen ein, sich vom Geist Gottes leiten zu lassen, um untereinander die Gemeinschaft noch mehr zu festigen und sie in einer einfachen und frohen Brüderlichkeit zu leben. Ich weiß, daß gewisse Umstände manchmal dazu führen können, zu Anpassungen zu neigen, welche die menschliche und christliche Gemeinschaft zu zerbrechen drohen. Solche Anpassungen geschehen leider zu häufig, und diese Lauheit mißfällt Gott (vgl. Offb 3,15 - 19). Das Licht Christi (vgl. Joh 12,46) will alle Winkel der Erde und des Menschen erreichen, auch die dunkelsten (vgl. 1 Petr 2,9). Um ein Leuchter zu sein, der das eine Licht trägt (vgl. Lk 11,33 - 36), und um überall Zeugnis geben zu können (vgl. Mk 16,15 - 18), ist es wichtig, den Weg zu wählen, der zum Leben führt (vgl. Mt 7,14), und die unfruchtbaren Werke der Finsternis hinter sich zu lassen (vgl. Eph 5,9 - 14) und sie mit Entschiedenheit zu verwerfen (vgl. Röm 13,12 f.) 99. Möge die Brüderlichkeit der Christen durch ihr Zeugnis ein "Sauerteig" werden, der die gesamte Menschheit verwandelt (vgl. Mt 13,33)! Mögen die Christen des Nahen Ostens – Katholiken und andere – in Einheit mutig dieses nicht leichte, aber dank Christus mitreißende Zeugnis geben, um den Kranz des Lebens zu erhalten (vgl. Offb 2,10b)! Die Gesamtheit der christlichen Gemeinschaft ermutigt und unterstützt sie. Möge die Prüfung, die einige unserer Brüder und Schwestern erleben (vgl. Ps 66,10; Jes 48,10; 1 Petr 1,7), die Treue und den Glauben aller stärken! "Gnade sei mit euch und Friede in Fülle. … Friede sei mit euch allen, die ihr in Christus seid" (1 Petr 1,2b; 5,14b)! 100. Das Herz Marias, der Theotokos und Mutter der Kirche, wurde durchbohrt (vgl. Lk 2,34 - 35) aufgrund des "Widerspruchs", den ihr göttlicher Sohn herausgefordert hat, das heißt aufgrund der Widerstände und der Feindseligkeit gegen die Mission des Lichtes, auf die Christus gestoßen ist und die die Kirche, sein mystischer Leib, weiterhin erlebt. Maria, die von der ganzen Kirche – im Osten wie im Westen – innig verehrt wird, wird uns mütterlich zur Seite stehen. Maria, die ganz heilige, die unter uns gewandelt ist, wird abermals unsere Nöte vor ihren göttlichen Sohn tragen. Sie schenkt uns ihren Sohn. Hören wir auf sie, die uns der Hoffnung öffnet: "Was er euch sagt, das tut!" (Joh 2,5). Gegeben zu Beirut im Libanon, am 14. September 2012, dem Fest der Kreuzerhöhung, im achten Jahr meines Pontifikats. Benedikt XVI. [ENDE DER VOM HEILIGEN STUHL DARGEBOTENEN DEUTSCHEN FASSUNG DES APOSTOLISCHEN SCHREIBENS ECCLESIA IN MEDIO ORIENTE.] Mich beeindruckt das neue Apostolische Schreiben des regierenden Papstes sehr, es ist wohl mehr als ein gelungener Wurf, nicht zuletzt dank der Vorarbeit und offenen Vorschläge so vieler Hirten und Theologen. Da wir letztlich alle geistlich aus dem Nahen Osten herrühren, sollten wir viele darin enthaltene Vorschläge und Prinzipien auch für heimische Problemstellungen intensiv berücksichtigen. Papst Benedikt XVI. bewegt sich somit auch ganz klar und überzeugend auf den Spuren seines seligen Vorgängers Johannes Paul II., und das obige Schreiben ist also für die ganze Welt von höchster Bedeutung. Euer Dr. Alexander Pytlik - Padre Alex |
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