Tuesday, October 21. 2014
Posted by Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
in News Kommentare, Türkei und Zypern
Comments (0) Trackbacks (0) CHRISTLICHE POLITIKER IN DER TÜRKEI: INTERVIEW MIT SYRISCH-ORTHODOXER BÜRGERMEISTERIN VON MARDIN
Am 6. Oktober 2014 erschien in dem von der italienischen Tageszeitung "La Stampa" verantworteten Projekt "Vatican Insider" ein von Roberta Leone geführtes Interview mit der syrisch-orthodoxen Christin und Bürgermeisterin von Mardin, Februniye Akyol Akay. Dieses wurde unter Zuhilfenahme eines Übersetzers in der Muttersprache der jungen christlichen Politikerin geführt, also im Grunde in der Sprache unseres Herrn Jesus Christus, nämlich in syrischem Aramäisch, und dann jeweils ins Italienische übertragen. Wenn ich es richtig notiert habe, heißt Bürgermeisterin Akyol-Akay in ihrer Muttersprache Fabronia Benno. Sie hatte bereits vor etwa einem halben Jahr in manchen deutschen Medien anlässlich der türkischen Kommunalwahlen für einzelne Schlagzeilen gesorgt. Eingeladen nach Neapel (Italien) hatte sie nun Ernesto Olivera, um Zeugnis zu geben im Rahmen von SERMIG (= Servizio Missionario Giovani), einer von demselben 1964 gegründeten und missionarisch ausgerichteten Vereinigung von christlichen Familien und Ordensleuten, vor allem im Sinne der Solidarität mit den Ärmsten und der Friedenserziehung heutiger Jugendlicher.
Während des Interviews vernahm die 26jährige Februniye Akyol Akay Nachrichten von den Angriffen der Terrorgruppe ISIS auf das von ihrer Heimat nicht weit entfernte Kobani (Ain al-Arab oder Kobanê) in Syrien. Vor dem Gespräch in Rom hatte die junge Bürgermeisterin noch am Grab des heiligen Apostelfürsten Petrus im Petersdom gebetet, und angesichts dieser Meldungen betonte sie, dass sie bei ihrem Volk bleiben werde, egal was passiere. Gemäß Gesamtartikel von "Vatican Insider" ist sie die erste gewählte Christin als Bürgermeisterin einer türkischen Stadt. Im Türkischen werden die Assyrer bzw. Aramäer oder syrischen Christen "süryani(ler)" genannt, wie die Journalistin Leone korrekt informiert. Vom ganzen (kirchlichen) Ritus her gehören sie so wie die katholischen Maroniten zur antiochenischen Tradition, wobei es seit 1783 auch einen uniert-katholischen Teil als syrische Patriarchalkirche gibt: eine der 23 eigenrechtlichen Rituskirchen innerhalb der Katholischen Kirche. Sowohl der katholische (durch ihren Patriarchen Ignatius Joseph III. Younan) als auch der nicht-katholische Teil derselben Syrer (durch den Metropoliten und Patriarchalvikar Mor Filiksinos Yusuf Çetin) werden am Papstbesuch in der Türkei teilnehmen. (As)syrer und Maroniten haben von ihrem Rituserbe her durch das Aramäisch somit eine hohe Verwandtschaft, was die Nähe zur verwendeten Alltagssprache unseres Herrn Jesus Christus betrifft. Als Assyrer im engeren Sinne können auch die Christen der chaldäisch-katholischen Patriarchatskirche bzw. der (noch nicht mit Rom unierten, autokephalen) Assyrischen Kirche des Ostens bezeichnet werden, deren Katholikos Patriarch Mar Dinkha IV. erst vor wenigen Tagen, am 2. Oktober 2014, von Papst Franziskus in Audienz empfangen worden ist. Der größere Teil der syrisch-orthodoxen Christen lebt in der Türkei historisch gesehen in der Region von Tur Abdin rund um das berühmte Kloster Mor Gabriel. In den letzten 100 Jahren haben die bis heute noch nicht völkerrechtlich aufgearbeiteten Verfolgungen ihre Anzahl von 500.000 auf wenige Tausend schrumpfen lassen. Unter den etwa 80.000 Einwohnern von Mardin sind heute nur noch einige hundert aramäische (syrisch-orthodoxe) Christen übriggeblieben, und in der gesamten Region von Tur Abdin etwa 3.000, wiewohl einige der ausgewanderten Christen aufgrund der verbesserten politischen Lage der Türkei an eine Rückkehr in ihre Heimat denken. Vom großen Gedenkjahr 2015 (1915!) sind die Assyrer bzw. Aramäer also direkt betroffen. Rein konfessionell gesehen hat somit eine muslimische Bevölkerungsmehrheit der Stadt Mardin dem gleichberechtigten Bürgermeister-Tandem des routinierten kurdischen Politikers Ahmet Turk und der jungen syrisch-orthodoxen Christin Februniye Akyol in den letzten Kommunalwahlen am 30. März 2014 ihr überwältigendes Vertrauen ausgesprochen. Auch in anderen Regionen der Türkei kandidierten Christen, zum Beispiel im Großraum von Antalya, sowohl bei der Regierungspartei als auch bei der größten Oppositionspartei. Die konkrete Geschichte der gewählten christlichen Bürgermeisterin von Mardin beginnt nun etwa 60 Kilometer von Mardin entfernt, in Midyat, einer ursprünglich syrisch-aramäischen Kleinstadt, ebenso im Südosten der Türkei: Februniye war die erste Aramäerin in der Region, welche die Chance erkannte, in Istanbul auf die Universität zu gehen. Hier also meine Übersetzung des Interviews von Roberta Leone mit Februniye Akyol Akay, welches auch zum Verstehen der aktuellen Gesamtlage in der Region äußerst hilfreich ist: Roberta: Februniye, Sie sind die erste Aramäerin Ihrer Region mit der Möglichkeit eines Studienabschlusses gewesen. Februniye: Viele Jahre, wenigstens bis zum Jahr 2000, ist es den aramäischen Mädchen nicht möglich gewesen, weit weg von ihren Wohnhäusern zu studieren. Man fürchtete - und es gab dafür Beweise -, dass sie von den Islamisten entführt würden. Um sie zu schützen, verboten die christlichen Familien ihren Töchtern zu studieren, bis dahin, dass sie daheim isoliert wurden. Unser Volk hat aufgrund des Glaubens viel gelitten. Wo wir leben, gibt es die Kurden, die Jesiden und die Christen. Von 1915 bis 2000 haben alle Minderheiten das Projekt der Assimilation durchmachen müssen, zuerst von Seiten des Osmanischen Reiches und dann von Seiten der türkischen Regierung, nämlich ihre Unterschiedlichkeiten aufgehen zu lassen in einer einzigen Sprache, in einer einzigen Flagge und in einem einzigen Staat. In diesen Jahren war es Absicht des Staates, die Kräfte des kurdischen Islam gegen die Christen zu benützen, um hernach auch der Identität der Kurden ein Ende zu bereiten. Es war "im Namen des Islam", dass die Kurden die Christen getötet haben. Aber nach der praktisch totalen Ausrottung der Armenier, der Christen im allgemeinen und unserer aramäischen Minderheit waren die Kurden selbst etwa 40 Jahre lang an der Reihe, um für ihre eigenen Rechte zu kämpfen. Auch in diesem Kampf waren die ganz wenigen Christen, welche überlebt hatten, eingekesselt, und es gibt ein paar von uns, die flohen. Die türkische Regierung beschuldigte (damals) die Christen, auf Seiten der Kurden zu stehen, während die Kurden in die Dörfer eindrangen und den Christen vorwarfen, beim Plan der Regierung mitzuspielen. Doch in Wirklichkeit hatte die Christen überhaupt keine Macht, sie haben gegen niemanden gekämpft. Sie haben nie zu den Waffen gegriffen, weil es das ist, was das Evangelium lehrt. Die christlichen Dörfer sind im buchstäblichen Sinne entleert worden. Im Jahre 1990 sind Dutzende aus ihren Häusern abgeholt worden, und immer noch weiß niemand, was ihnen zugestoßen sei. Unter ihnen waren Ärzte, Priester, Intellektuelle. Niemand weiß, wo sie sein könnten. Roberta: Was ist in Ihrem Fall anders gelaufen? Februniye: Nach dem Jahr 2000 hat sich die Beziehung zwischen der Regierung von Ankara und den Kurden verbessert. Die Besorgnis bliebt, aber seit den Gymnasialjahren habe ich diesen Prozess verfolgt und mir Mut gemacht. Ich wollte das Eis brechen, die Schwierigkeiten überwinden und meiner Gemeinschaft zeigen, dass ich studieren und nachher dorthin, von wo ich weggereist war, zurückkehren und mich für mein Volk einsetzen konnte. Ich wollte ein Modell für die anderen Mädchen sein, denn meiner Meinung nach konnte man es schaffen: eine Frau konnte ihr eigenes Dorf verlassen und studieren. Ich sprach mit meiner Familie und bin dann nach İstanbul umgezogen. Roberta: Sie haben ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen, um dann heimzukehren. Von was träumten Sie? Februniye: Ich dachte nicht an die Politik, aber es gab in mir einen starken Wunsch, der Gemeinschaft zu helfen. Als ich nach Midyat zurückgekehrt war, folgten verschiedene Mädchen meinem Beispiel. Daraus ist dann eine Vereinigung junger Akademiker entstanden, in der wir diskutierten, wie wir allen anderen die Botschaft übermitteln könnten, zu studieren, um erfolgreich eine Veränderung für unsere Gemeinschaft zu erreichen. Ich habe zwei Jahre im Wirtschaftsbereich gearbeitet, und dann habe ich begonnen, auf der Universität die Ursprünge der aramäischen Kultur und Sprache zu studieren. Das war mein Traum: die aramäische Sprache an der Universität zu unterrichten. Ein Jahr später folgten in der Türkei die Kommunalwahlen. Eine Delegation der BDP fragte mich nach meiner Bereitschaft zur gemeinsamen Bürgermeister-Kandidatur in Mardin mit Ahmet Turk [71 Jahre], einem kurdischen Langzeitparlamentarier. Es war nicht mein Wunsch, Bürgermeister der Stadt zu werden, aber ich habe angenommen. Überzeugt hat mich die interne Frauenkommission der Partei. Während des Treffens mit ihnen wurden die Gründe für zwei Bürgermeister - einen Mann und eine Frau - diskutiert, zur Verteidigung der Frauenrechte und der Rechte aller Minderheiten, die auf unserem Territorium leben. Das allerdings war auch mein Wunsch, und so habe ich angenommen. Roberta: Wie schwer wiegt die Erinnerung an die erlittene Gewalt im Dialog mit den Kurden? Februniye: Natürlich ist es nicht leicht, zu vergessen, was meiner Gemeinschaft passiert ist. Aber es gibt keine Alternativen: wenn wir in der Türkei bleiben wollen, in unseren Städten, würde ich sagen, dass wir praktisch gezwungen sind, in die Politik zu gehen und an den Institutionen teilzuhaben. Wenn wir bleiben sollen, müssen wir zusammenarbeiten und es schaffen, unsere Denkweise gegenüber der Zukunft zu öffnen. Im Augenblick gibt die kurdische Partei den Christen diese Möglichkeit, was bei der aktuellen Regierung nicht der Fall ist. Roberta: Sie sind auch von vielen Muslimen gewählt worden: was ist geschehen? Februniye: Ja, ich bin von der Mehrheit der kurdischen Bevölkerung gewählt worden. Die Kurden sind sich bewusst geworden, was sie den Christen angetan hatten, und sie wissen, dass sie gefehlt haben. Um meine Kandidatur zu bitten, ist eine Form, auch eine symbolische, für das Geschehene um Entschuldigung zu bitten und uns ihre Nähe zuzusprechen. Offizielle und persönliche Entschuldigungen sind vor Jahren von Seiten des Herrn Bürgermeisters erfolgt, der heute mein Kollege ist. Im übrigen haben sie dann auch all das erlitten, was sie uns angetan hatten. Sie haben einer Christin die Möglichkeit gegeben, mit ihnen am politischen Leben teilzuhaben, und so können auch wir Christen versuchen, unserer Identität, unserer Kultur und unserer Sprache von neuem Bedeutung zu geben, auch wenn von uns mittlerweile fast niemand übrig ist. Roberta: Mit allen Vor- und Nachteilen: spielt das religiöse Element in der Kooperation eine Rolle? Februniye: Ich habe keine Schwierigkeiten bei der Kollaboration mit den Kurden, und es gibt keine "islamische Frage". Im Regelwerk der Partei, die ich repräsentiere, wird erklärt, dass wir uns alle für die Rechte aller Minderheiten einsetzen. Es gibt weder Christ noch Muslim, wir lassen nicht zu, dass uns die religiösen Zugehörigkeiten in der Arbeit spalten. Meine Benennung ist im übrigen von allen kurdischen Anführern abgesegnet worden. Ich persönlich habe mir noch ein weiteres Gewicht aufgeladen, nämlich mit den Rechten der Christen auch jene der Jesiden zu erreichen. Das ist nicht leicht: es handelt sich um eine lange und komplexe Diskussion, die in der Zukunft noch komplizierter werden könnte. Ich werde mich bemühen, auch ihre Rechte durchzusetzen: ich spüre, dass ich diese Aufgabe habe, und ich hoffe, dass ich mit der Hilfe Gottes wenigstens einen Teil dessen, was mir vorschwebt, erfolgreich verwirklichen kann. Ich wiederhole, es ist nicht einfach, aber es muss mir gelingen, damit die Jesiden nicht noch mehr diskriminiert werden als was jetzt schon der Fall ist. Roberta: Sie waren kürzlich in Erbil und haben viele evakuierte Christen getroffen. Was denken Sie über die Rolle des Westens in dieser Krise? Februniye: Wem es gelungen ist, in Erbil anzukommen, besitzt gar nichts mehr. Kleidung, Essen, und es fehlt auch das Wasser. Heute passiert im Irak das, was in der Türkei schon passiert war. Im Irak gibt es zahlreiche Minderheiten und einen großen Reichtum, und es gibt auch viele mächtige Staaten, die ihre Augen auf diesen Reichtum gerichtet haben. Vor dem Jahr 2003 kamen die irakischen Christen auf 1.500.000 Einwohner. Heute sind im Irak etwas mehr als 300.000 Christen. Was wir sehen, ist allgemein gesagt, dass der Westen überhaupt keinen Plan für die Christen im Nahen Osten hat und für ihre Lebensbedingungen praktisch kein Interesse zeigt. Am Ende sind wir es - wir Christen -, die jedes Mal verschluckt, vertrieben oder erdrückt werden. [ENDE MEINER ÜBERSETZUNG DES INTERVIEWS VON BÜRGERMEISTERIN FEBRUNIYE AKYOL AKAY.] Die somit auch von Februniye Akyol Akay vorgebrachten schweren Vorwürfe gegen den all zu lange uninteressierten "Westen" führen erst langsam zu einem Umdenken in unserem eigenen "politischen Raum". Das Interview trägt auch zum besseren Verständnis des wesentlich komplizierten innertürkischen Ringens zwischen der sogenannten "alten Türkei" und der sogenannten "neuen Türkei" bei. Faktum ist nämlich - wie das Interview zeigt -, dass die "neue Türkei" eine Öffnung hin zu den Minderheiten betrieben hat, wenn auch mit Rückschlägen, die sicherlich den jeweiligen Wahlen geschuldet sind, um auf nationalistische oder auch islamistische Wählergruppen Rücksicht zu nehmen, die jedoch keinesfalls mit der Mehrheit der Bevölkerung gleichgesetzt werden dürfen. Falsch wäre der Weg einer "neuen Türkei" allerdings dann, wenn dabei im weiteren die gesunde Säkularität des Staates aufgegeben und nicht die Partnerschaft mit allen gemeinwohlorientierten Religionsgruppen gesucht würde, oder anders gesagt: die Aufhebung religiöser Diskriminierungen darf zum Schluss nicht mit einer einzigen zulässigen (Staats)religion enden. Nicht nur von Regierungsseite hat sich die Lage für Angehörige von Minderheiten und Christen etwas verbessert, sondern vor allem auch in einigen Regionen und Städten der Türkei haben die kommunalen Behörden eine hohe Toleranz entwickelt, die auch auf das Konto der größeren Oppositionspartei geht. Christen werden von Kemalisten nicht mehr einfach mit Staatsfeinden gleichgesetzt. So werden in manchen Regionen den Kirchengebäuden dieselben Vergünstigungen oder Privilegien eingeräumt wie Moscheen. Im türkisch kontrollierten Nordzypern kann diese Toleranz noch deutlicher abgelesen werden, was die maronitisch-katholischen Ortschaften und die Bewegungsfreiheit betrifft. Seit den sogenannten Gezi-Vorfällen in der Türkei haben sich überhaupt einige Vorurteile und Bewertungen verschoben, und eine Hauptfrage ist die grundlegende Versöhnungspolitik der Regierung gegenüber den Kurden im allgemeinen. Manche werden der Jungpolitikerin Februniye Akyol durch ihr Mitwirken in der prokurdischen Partei womöglich sogar Kollaboration mit terroristischen Elementen vorwerfen, doch ich halte eine solche Sichtweise für ungerecht, und das oben abgedruckte Interview zeigt klar, wie sehr sie den authentischen christlichen Geist atmet, der keine Rache und Vergeltung kennt, sondern auf allen Gebieten des Lebens die Versöhnung sucht. Angesichts dieser manchmal nicht leicht durchschaubaren innenpolitischen Lage der Türkei und ihrer unterschiedlichen Regionen werden vielleicht auch manche Pauschalvorwürfe gegen die Regierung oder von der Regierung besser verstehbar. Natürlich bleiben aktuell Bedenken bestehen, dass die türkische Regierung beispielsweise die Peschmerga-Kämpfer aus der befreundeten autonomen kurdischen Region des Irak früher nach Kobane lassen hätte können als dann tatsächlich geschehen. Und angesichts einer derart schwierig zu meisternden Lage an der Grenze der Türkei blühen die wildesten Verschwörungs- und Sündenbockthesen, auch gerne aus dem arabischen Raum, nicht zuletzt wegen des weitläufigen Misslingens eines sogenannten arabischen Frühlings. Schuldlos sind nur wenige, und daher kann es immer nur darum gehen, den Blick nach vorne zu richten und dem Frieden jeweils eine neue Chance zu geben. So bleibt die türkische Politik in jeder Hinsicht eine der spannendsten "Minenfelder" in Europa und Asien, wiewohl meiner Überzeugung nach der EU-Vollbeitritt sowohl für das Land selbst, für alle seine Bevölkerungsgruppen, als auch vor allem für Europa große Vorteile bringen würde. Natürlich ist dabei die Zypernfrage von besonderer Bedeutung. Die Türkei nimmt nun schon länger für sich in Anspruch, gerade im Hinblick auf ihre offene humanitäre Flüchtlingspolitik jegliches konfessionelle bzw. sektoide Denken vermieden zu haben. Tatsächlich kann der Schutz der jeweiligen Zivilbevölkerung sich den Luxus einer inhumanen konfessionell-religiösen Unterscheidung nicht mehr leisten. Vergangenheitsorientierte Vorwürfe können daher auch keine Ausrede mehr bilden, einer Stadt wie Kobane nicht so professionell wie möglich zu helfen. (Wirkliche Sympathien für die IS-Terroristen gibt es innerhalb der türkischen Bevölkerung nur bei einer absoluten Minderheit, und selbst diese ist sich weitgehend im klaren, dass dieses Terrorregime mit Religion oder Islam nach der türkischen Tradition absolut nichts mehr zu tun hat.) Die aktuelle Regierung der Türkei wirft im übrigen demselben im Interview genannten "Westen" schon lange vor, bei der Situation in Syrien trotz unvorstellbarer Opferzahlen über Jahre zugeschaut zu haben. Zur Aufrüttelung des Westens und der ganzen Internationalen Gemeinschaft möchte auch der Heilige Stuhl durch seine wirklich zahlreichen internationalen Interventionen besonders beitragen, und zwar ganz im Sinne dessen, was die junge christliche Politikerin in ihrem obigen Interview nachvollziehbar zusammgefasst hat. Erst gestern hat Seine Heiligkeit Papst Franziskus die ihn beratenden Kardinäle zusammengerufen und damit ihre Anwesenheit bei der zu Ende gegangenen außerordentlichen Versammlung der Bischofssynode genützt, um ihnen in einem öffentlichen Konsistorium folgende Worte zu sagen, die ich ebenso aus dem Italienischen übersetze: [EIGENE ÜBERSETZUNG DER PAPSTWORTE AN DIE KARDINÄLE IM ORDENTLICHEN ÖFFENTLICHEN KONSISTORIUM:] Eminenzen, liebe Herren Patriarchen und Brüder im Bischofsamt, einen Tag nach dem Abschluss der dritten außerordentlichen Versammlung der Bischofssynode über die Familie wollte ich dieses Konsistorium neben einigen Heiligsprechungsfällen einer anderen Frage widmen, die mir sehr am Herzen liegt, nämlich dem Nahen Osten und insbesondere der Situation der Christen in der Region. Ich bin Euch für Eure Anwesenheit dankbar. Uns verbindet der Wunsch nach Frieden und Stabilität im Mittleren Osten und der Wille, die Konfliktlösung durch den Dialog, die Versöhnung und das politische Engagement zu fördern. Gleichzeitig wollen wir den christlichen Gemeinschaften die größtmögliche Hilfe geben, um ihre Präsenz in der Region zu unterstützen. Wie ich bei vielen Anlässen unterstreichen konnte, können wir uns nicht damit abfinden, an einen Nahen Osten ohne die Christen zu denken, die dort seit 2.000 Jahren den Namen Jesu bekennen. Die letzten Entwicklungen, vor allem im Irak und in Syrien, sind sehr besorgniserregend. Wir erleben ein Terrorismusphänomen früher unvorstellbaren Ausmaßes. Viele unserer Brüder werden verfolgt und mussten ihre Häuser auch auf brutale Art verlassen. Es scheint, dass das Bewusstsein des Wertes menschlichen Lebens verloren gegangen ist, es scheint, dass die Person nichts mehr zählt und man sie anderen Interessen opfern kann. Und das alles leider im Rahmen einer Gleichgültigkeit vieler. Diese ungerechte Situation verlangt abgesehen von unserem beständigen Gebet auch eine angemessene Antwort von Seiten der Internationalen Gemeinschaft. Ich bin sicher, dass aus dem heutigen Treffen mit der Hilfe des Herrn wertvolle Überlegungen und Vorschläge hervorgehen werden, um unseren leidenden Brüdern helfen zu können und um auch dem Drama der abnehmenden christlichen Präsenz auf dem Gebiet zu entgegnen, wo das Christentum seinen Ursprung nahm und wo es sich ausbreitete. [ENDE MEINER ÜBERSETZUNG DER PAPSTWORTE AN DIE KARDINÄLE VOM 20. OKTOBER 2014.] Damit hat der Heilige Vater Papst Franziskus in kurzen Worten das zusammengefasst, was er schon Anfang Oktober mit seinen offiziellen Repräsentanten im Nahen Osten besprechen ließ. Von 2. bis 4. Oktober 2014 fanden sich nämlich die Apostolischen Nuntien des Mittleren Ostens zu einem Treffen mit den Oberen der Römischen Kurie im Vatikan ein, wobei es um die "Präsenz der Christen im Nahen Osten" ging. Auf der Internetseite des Heiligen Stuhles hieß es dazu am 3. Oktober 2014: "Beim Verfolgen der politischen Situation im Nahen Osten und im allgemeinen bei der Beziehung zu den Ländern mit muslimischer Mehrheit hat der Heilige Stuhl als fundamentale Fragestellungen immer den Schutz und den Respekt der Christen und der anderen Minderheitsgruppen als Staatsbürger im vollen rechtlichen Sinn sowie der Menschenrechte vor Augen, insbesondere der Religionsfreiheit." Bei der Heiligen Messe mit den Nuntien predigte der Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin am Fest des heiligen Franziskus unter anderem: "Die verfolgten Christen und all jene, die ungerechtermaßen leiden, müssen in der Kirche die Institution erkennen können, die sie verteidigt, die für sie betet und agiert, die sich nicht fürchtet, die Wahrheit auszusprechen, um so Sprache zu werden für den, der keine Stimme hat, sowie Verteidigung und Unterstützung für den, der verlassen, vertrieben und diskriminiert ist." Am selben 4. Oktober 2014 wurde dann auch eine Abschlusserklärung herausgegeben, und zwar unter dem Titel "Es reicht mit dem Krieg und mit der Verletzung der Menschenrechte". Dabei wird vor einem Gewöhnungseffekt gewarnt und besonders der ungehinderte Waffen- und Menschenhandel angeprangert. Vor allem wird auf die Verletzung der fundamentalsten Rechte von Kindern und Frauen aufmerksam gemacht. Man dürfe sich nicht mit dem Gedanken an einen Nahen Osten ohne Christen anfreunden. Schon einige Tage zuvor, am 29. September 2014, konnte derselbe Staatssekretär Seiner Heiligkeit, Pietro Kardinal Parolin, eine ausführliche Grundsatzansprache bei der 69. Generalversammlung in New York gegen jeglichen Kampf der Kulturen halten, auch sehr gut abrufbar als Video bei den Vereinten Nationen. Dabei erinnerte der Kardinalstaatssekretär auch besonders an den Aufschrei des Papstes vom 9. August 2014. Nach Parolin gebe es eine Terrororganisation, die alle Staaten bedrohe und auflösen wolle, um sie durch eine "pseudoreligiöse Weltregierung" zu ersetzen. Dabei verwies der Kardinalstaatssekretär auch auf eine Meditation des Papstes vom 2. Mai 2014 über das "Töten im Namen Gottes" auf Kosten ganzer ethnischer Gruppen und antiker Kulturen. Es müsse in Erinnerung gerufen werden, dass solche Gewalt Ausdrucksform der Gottvergessenheit sei, wie Benedikt XVI. am 7. Januar 2013 gegenüber dem Diplomatischen Korps betont hatte: "Wie ich schon einmal gesagt habe, handelt es sich um eine Verzerrung der Religion selbst, da diese doch im Gegenteil danach strebt, den Menschen mit Gott zu versöhnen, die Gewissen zu erleuchten und zu reinigen und deutlich zu machen, daß jeder Mensch ein Abbild des Schöpfers ist." In diesem Zusammenhang fordert (auch) der Heilige Stuhl eine erneuerte Organisation der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates, die gemäß Internationalem Recht überhaupt besser auf nicht-staatliche Aggressoren reagieren müssen, welche eben gleichzeitig mehrere Völkerrechtssubjekte bedrohten. Hier bringt Kardinal Parolin die Enttäuschung des Heiligen Stuhles wörtlich so zum Ausdruck: "Es ist enttäuschend, dass die Internationale Gemeinschaft im Blick auf die Konflikte in Syrien, im Nahen Osten und in der Ukraine bis jetzt von widersprüchlichen Stimmen oder sogar vom Schweigen getragen ist." Weitere fünf Tage zuvor hatte Pietro Kardinal Parolin für den Heiligen Stuhl beim Sicherheitsrat Stellung genommen zum Thema der Bedrohungen von Friede und Sicherheit durch terroristische Handlungen auf internationaler Ebene. Dabei hatte er auch an wegweisende Worte von Papst Franziskus gegen den Missbrauch des Namens Gottes bei seiner Apostolischen Reise nach Albanien erinnert. Und schon am 9. September 2014 hatte in Genf ein weiterer Teilnehmer des oben geschilderten Nuntientreffens, Erzbischof Silvano M. Tomasi als ständiger Beobachter des Heiligen Stuhles, während der 27. Ordentlichen Sitzung des Menschenrechtsrates zur Bekämpfung heutiger Formen der Versklavung auf die exemplarischen Jugendversklavungen durch Boko Haram in Nigeria und durch die ISIS-Terroristen im Nordirak hingewiesen, aber ebenso auf 250.000 Kinder, die in bewaffneten Konflikten als Schutzschilder missbraucht würden. Hierher gehörten auch 5,7 Millionen Kinder, die Zwangsarbeit leisten müssen, als Haussklaven dienten oder in Zwangsehen gepfercht würden. Dabei verwies er auf die Ansprache Seiner Heiligkeit Papst Franziskus an die Internationale Konferenz zur Bekämpfung des Menschenhandels am 10. April 2014 und an das vom Heiligen Stuhl gewählte Thema der Sklaverei für den kommenden Weltfriedenstag. Und bei der 22. Sondersitzung desselben Menschenrechtsrates der UN zur Menschenrechtssituation im Irak hatte Erzbischof Tomasi am 1. September 2014 daran erinnert, dass ein ungerechter Angreifer gestoppt werden müsse. Mit diesen Hinweisen und Auszügen, welche das oben übersetzte Interview abrunden sollen, ist zweifellos die Gesamtlinie des Heiligen Stuhles zum Internationalen Recht und zur weltpolitischen Einschätzung klar geworden. Und in diesem Geist wird der Papst auch seine Apostolische Reise in die Türkei antreten, zu einem wichtigen Beitrittskandidaten für die Europäische Union. Mit Papst Franziskus reist nicht nur ein "Staatsoberhaupt", nein, es reist die einzige natürliche Person der Welt, die gleichzeitig Völkerrechtssubjekt ist. Denn der Papst ist der Heilige Stuhl, und von diesem hängt der Vatikanstaat ab, der präzise gesprochen kein Völkerrechtssubjekt ist. Und so möge uns dieser Eintrag im Gebet und im Einsatz für alle verfolgten Minderheiten vereinen! Euer Padre Alex - Dr. Alexander Pytlik Trackbacks
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