Sonntag, 21. Oktober 2012
FUNDAMENTALISMUS ENTSTEHT NUR DORT, ... Geschrieben von Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
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18:02
Kommentare (0) Trackbacks (4) FUNDAMENTALISMUS ENTSTEHT NUR DORT, WO WIR ALS MODERATE WEGGEHEN
Noch immer beeindruckt mich das päpstliche Schreiben aus Anlaß der vor zwei Jahren abgehaltenen Sonderversammlung der römischen Bischofssynode über den Nahen Osten (also genau zwei Jahre vor der jetzt laufenden Generalversammlung derselben Bischofssynode). Eine Schlüsselstelle des Apostolischen Schreibens "Ecclesia in Medio Oriente" vom 14. September 2012 ist die Nummer 30, mit der Papst Benedikt XVI. sämtliche Religionsverantwortliche dazu aufruft, den Fundamentalismus in ihren Reihen auszumerzen, und er nimmt dabei das Christentum bzw. die Kirche nicht aus:
"Die wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten, die Begabung einiger zur Manipulation und ein mangelhaftes Verständnis der Religion bilden unter anderem die Basis für den religiösen Fundamentalismus. Dieser sucht alle religiösen Gemeinschaften heim und lehnt das jahrhundertealte Zusammenleben ab. Aus politischen Gründen sucht er – manchmal mit Gewalt – die Macht über das Gewissen der einzelnen und über die Religion zu gewinnen. Ich appelliere an alle jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsführer der Region, danach zu streben, durch ihr Beispiel und ihre Lehre alles zu tun, um diese Bedrohung auszumerzen, die unterschiedslos und tödlich die Gläubigen aller Religionen ergreift. 'Geoffenbarte Worte, heilige Schriften oder den Namen Gottes zu gebrauchen, um unsere Interessen, unsere – so leicht willfährige – Politik oder unsere Gewalttätigkeit zu rechtfertigen, ist ein sehr schwerer Fehler.'" (Manche haben sich an der Übersetzung "Religionsführer" gestoßen, aber im Französischen, Italienischen und Portugiesischen heißt es besser: "Religionsverantwortliche" ["les responsables religieux"]) Es war daher ein schwerer Fehler von Peter Kodwo Appiah Kardinal Turkson, zunächst auf einen anti-islamischen Angstfilm (zur Bevölkerungsentwicklung in Europa) hereingefallen zu sein und ihn dann auch noch im Rahmen der jetzt tagenden Bischofssynode präsentiert zu haben, wofür er sich ja sehr rasch entschuldigt hat. Meiner Meinung nach gilt auch von daher dieser Aufruf des Papstes nicht nur den Religionsverantwortlichen im Nahen Osten, sondern ist wie vieles andere im Apostolischen Schreiben über die Kirche im Nahen Osten auf praktisch alle Kontinente übertragbar, ja das ist sogar absolut notwendig. Und bei den Fundamentalisten im eigentlichen Sinn handelt es sich zumeist um kleinere Gruppen, die sich jedoch oft gut organisieren, und das gilt auch für die relativistische Scheinwelt des ganzen Internetbereichs. Es scheint leider zuzutreffen, daß immer dort ein gefährlicher Fundamentalismus entstehen und sich vor allem gut ausbreiten kann, wo sich die sogenannten "Moderaten" zurückziehen oder sich ganz zurückgezogen haben. Hauptaufgabe sämtlicher Religionsverantwortlicher ist es daher, viele existentiell vernunftorientierte Persönlichkeiten von einem Engagement zu überzeugen und vor allem im Sinne der Kardinaltugend der Tapferkeit zum Ausharren und Durchhalten zu bringen, auch im Falle größter Bedrohung. Ein glänzendes bzw. trauriges Beispiel für diese These lieferte Alia Ibrahim in Beirut, die am 15. September 2012 während des historischen dritten Besuches eines Papstes im Libanon folgenden Gastkommentar als Chefkorrespondentin des Nachrichtenportals "Al Arabiya" unter dem Titel "The Pope's visit and Tripoli's big loss" ("Der Papstbesuch im Libanon und der schwere Verlust in Tripoli") verfaßte, den ich ins Deutsche übertragen habe: [BEGINN DER ÜBERSETZUNG DES KOMMENTARS VON ALIA IBRAHIM:] DER PAPSTBESUCH IM LIBANON UND DER SCHWERE VERLUST IN TRIPOLI Papst Benedikt XVI. hatte kaum seinen Fuß auf libanesischen Boden gesetzt, als Demonstranten in meiner Heimatstadt Tripoli begannen, ein KFC-Restaurant in Brand zu setzen, zum Protest gegen den anti-islamischen Hetzfilm "Innocence of Muslims" ("Unschuld der Muslime"). Es waren nicht mehr als ein paar hundert, die skandierten: "Wir wollen den Papst nicht ... keine weiteren Beleidigungen für den Islam." Einige dieser Burschen könnten bei den Vandalen dabei gewesen sein, welche nur Stunden zuvor die in einigen Vierteln der Stadt als Willkommensgruß für den Papst angebrachten Poster heruntergerissen hatten. Ich schluckte meine Empörung hinunter - nicht ohne eine Prise Verbitterung - und zwang mich selbst dazu, zu bedenken, daß dies ein weiterer Grund dafür war, warum dieser Papstbesuch so wichtig und warum sein Zeitpunkt so entscheidend wäre. Es gab eine lange Liste sozialer, politischer und sogar sicherheitsrelevanter Punkte, die ich im Kopf hatte, um mein Argument der Vitalität dieses Besuches zu verteidigen, und dies in derartigen Hinsichten, welche die Grenzen dieses Landes bei weitem überschreiten. Im Licht der Ereignisse der letzten Woche entschied ich mich, über Tripoli zu schreiben. Um die Dinge ganz offen auszusprechen: die meisten jener, welche die syrische Revolution ablehnen - darunter ein großer Brocken der Minderheiten Syriens, Christen eingeschlossen -, sagen, daß sie den Aufstieg von Islamisten befürchten. Ein sehr tragfähiges Argument: letzten Endes will niemand seine Stadt in Geiselhaft genommen sehen von einer Gruppe wütender gewalttätiger Bartträger, die Botschaften attackieren und Restaurants anzünden. Ich weiß, daß so etwas Ähnliches passieren kann, weil ich es in meiner eigenen Stadt geschehen sah. Aber es gibt eine lange Liste an Gründen, warum eine Stadt wie Tripoli dorthin geriet, wo sie heute steht, und warum manche ihrer Islamisten fühlen, daß sie tun können, was sie taten, und daß sie damit ungestraft davon kommen. Ich möchte jetzt nicht fortsetzen mit den Details, wie al-Tawhid die Stadt übernahm und sie in die "Hochburg der Muslime" verwandelte, wie es das auf ihrem Haupteingang angebrachte Statut so deutlich benennt, das sich niemand abzunehmen getraut, trotz der Tatsache, daß der Mufti der Stadt, Scheich Malek al Shaar, dessen Mutter übrigens Christin ist, sagt, daß es entfernt gehöre. Ich möchte nicht darüber sprechen, wie sehr Sicherheitsdienste - meistens syrische und libanesische, aber nicht ausschließlich - über drei Jahrzehnte hinweg zur Schaffung und Förderung kleiner Gruppen von Fanatikern beitrugen, die für alle möglichen Agenden eingesetzt werden konnten. Ich möchte nicht über die Almosen aus der Golfregion sprechen, welche dazu investiert wurden, um Tripoli zu einer konservativeren Stadt zu machen, auf Kosten seiner Aufgeschlossenheit, seiner Kreativität und sogar seines Wohlstandes. Ich möchte nicht einmal über die miserablen Politiker sprechen, die nichts getan haben und manchmal die Armut und Ignoranz der sozial benachteiligten Teile der Stadt dazu benützten, um ihren Status abzusichern, oder über die zurückgebliebene Gesellschaft, die sich zur Verteidigung ihrer Identität nicht zur Wehr setzte. Ich möchte vielmehr über einen der größten Verluste sprechen, den Tripoli in den letzten drei Jahrzehnten erfahren hat: die Christen, die einst - sogar in den dunkelsten Tagen des religiösen Bürgerkrieges - in ihr daheim waren. Ich wuchs auf in einem Tripoli, das Weihnachten und Ostern feierte und wo die Leute einen Drink genießen, aber mit ihren religiös stärker engagierten Nachbarn trotzdem befreundet bleiben konnten. Weniger Leute bedeckten ihre Haare, aber jene, die es nicht taten, hörten seinerzeit nie die Obszönitäten, welche sich heute jedes unverschleierte - manchmal sogar verschleierte - Mädchen beim Spazieren anhören muß, sogar in der gehobenen und liberalen - was dies immer bedeuten mag - Gegend der Stadt. Meine beste Freundin, die meiner Mutter, mein Lieblingslehrer, der Geschäftspartner meines Vaters, unser Familienarzt und sogar der Besitzer des Geschäfts, das wir zu besonderen Anlässen beibehielten: sie alle waren Christen. Nun sind sie alle weggegangen. Die meisten Jungen sind ausgewandert, und die Älteren sind in ihrer großen Mehrheit entweder ihren Kindern gefolgt oder haben sich in benachbarten "sichereren" Städten niedergelassen. Ein Freund, der jetzt in den USA lebt, erzählte mir, daß er und seine Frau die einzigen jungen Leute gewesen seien, welche die Weihnachtsmesse in der Kirche des heiligen Maron besuchten. Seine eigenen Eltern waren auch noch dort mit einigen wenigen einheimischen Ehepaaren, aber den größten Anteil der Mitfeiernden stellten die Gastarbeiter dar. Ich erinnerte mich zurück an die Tage, als ich in dieser Kirche bei Pfadfindertreffen dabei war, und an die vielen Male, als ich auf ihren Treppen auf jemanden wartete, der seine Gebete zu beenden hatte. Es bricht mir das Herz, daß meine Töchter niemals das Tripoli kennen werden, das ich kannte, und niemals die Freunde haben werden, die ich dort traf. Ja, Städte können Fanatikern zufallen, aber nur weil die Moderaten sie es tun lassen. Es gibt zu viele Geschehnisse, denen wir die Schuld zuschieben könnten: Krieg, Armut, Unwissenheit, Korruption, Extremismus, die israelische Okkupation, die islamische Revolution im Iran, den 11. September, aber wir sind auch verantwortlich. Jeder einzelne von uns. Was den Christen in Tripoli angetan wurde, war ekelerregend. Ich erinnere mich immer noch an die Geschichten der jungen Männer, deren Füße in Fässer voll von Frischbeton gesteckt und die dann lebendig ins Meer geworfen wurden, und an die Zeit, als es Sitte war, daß auf Mädchen in kurzen Röcken Säure geworfen wurde, aber die Gewalt verschonte niemanden. Auch Muslime erlitten ihren Anteil an Tötungen und Folterungen, ja in größerem Ausmaß aufgrund der Tatsache, daß sie dann auch eine Mehrheit waren. Aber dann ging der Krieg zu Ende: die Christen gingen weg, die Muslime ließen sie gehen, und wir alle haben verloren. Fanatiker sind nicht die Mehrheit in Tripoli, sie sind nicht einmal die größte Minderheit, und unter ihnen würden viele zwei Mal nachdenken, bevor sie die Gesetze brächen, wenn sie nur Zweifel hegten, ob sie für einen Gesetzesbruch ins Gefängnis kommen könnten oder daß der Staat mächtig genug wäre, sie zu stoppen. Bei der Demonstration in Tripoli starb heute ein Mann, und über 20 wurden verletzt, und die Lage sah in anderen Städten der arabischen und islamischen Welt noch trostloser aus. All das im Namen der Religion und wegen eines strunzdummen Filmes zweifelhaften Ursprungs, der [als ganzer] nicht einmal zu existieren scheint. Die ganze Geschichte überdeckte sogar vollständig die Geschehnisse in Syrien, und es fühlte sich fast schon so an, als ob dort das Töten aufgehört hätte und in der vergangenen Woche eben nicht hunderte Menschen ihr Leben ließen. Das ist es, was jetzt den Besuch des Papstes mit seinen Aufrufen zur Vielfalt, zur Koexistenz und zum Verbleib der Christen in ihrem Land so wichtig macht. Moderate Christen und Muslime haben jedes Recht, eine islamistische Herrschaft in Syrien zu befürchten, aber gemeinsam können sie diese Möglichkeit verhindern. Das wirkliche Problem in Tripoli besteht darin, daß es aufhören müßte, die "Hochburg der Muslime" zu sein, um zu dem Status zurückzukehren, den es einmal hatte. [ENDE DER ÜBERSETZUNG DES KOMMENTARS VON ALIA IBRAHIM, BEIRUT.] Für ganz Uninformierte: es geht im Artikel um den Libanon und nicht um Libyen, also es geht um Tripoli und nicht um Tripolis, und daß ich auch den im Beitrag von Alia Ibrahim benannten anti-islamischen Kurzfilm aus den USA von Anbeginn seines Bekanntwerdens radikal abgelehnt habe, war in meinen Twitternachrichten deutlich nachzulesen. Für friedliche Demonstrationen dagegen hatte ich immer mehr als Verständnis, denn wir haben die Sensibilität religiöser Menschen betreffend ihrer absolut unantastbaren Gründerpersönlichkeiten zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht zu achten. Im obigen Artikel wird von Alia Ibrahim auch nicht auf manchmal durchaus notwendige innermuslimische Differenzierungen eingegangen, aber ich setze das Wissen um den multikonfessionellen Staat Libanon mit seiner vorbildhaften rechtlichen Verfassung voraus. Die große Mehrheit der Muslime im Libanon wartete mit ihren friedlichen Protesten gegen den auf die ägyptische Gesellschaft gemünzten Hetzfilm zudem bis zum Montag nach der Abreise des von Christen und Muslimen herzlich willkommen geheißenen Nachfolgers des heiligen Apostels Petrus. Übrigens sind dann auch noch die vier Kommentare unterhalb des englischen Artikels von Alia Ibrahim lesenswert. Und einmal mehr erinnere ich an die historisch so wichtige Ansprache des seligen Papstes Johannes Paul II. an junge marokkanische Muslime in Casablanca. Der Besuch des jetzigen Papstes Benedikt XVI. im Libanon hat jedenfalls bestätigt, daß es eine gemeinsame, friedliche und produktive Zukunft der Religionen geben kann, und so schließe ich mit einem Zitat aus seiner dort im Präsidentenpalais von Baabda am selben 15. September 2012 gehaltenen Ansprache bei der Begegnung mit den Mitgliedern der Regierung und den Verantwortungsträgern der Religionen, die nach dem jüngsten Bombenanschlag in Beirut um so aktueller und dringlicher erscheint: "Um den Generationen von morgen eine Zukunft in Frieden zu eröffnen, ist daher die erste Aufgabe die Erziehung zum Frieden, um eine Friedenskultur aufzubauen. Die Erziehung in der Familie oder in der Schule muß vor allem Erziehung zu den geistigen Werten sein, die der Weitergabe des Wissens und der Traditionen einer Kultur ihren Sinn und ihre Kraft geben. Der menschliche Geist hat einen angeborenen Sinn für das Schöne, Gute und Wahre. Das ist das Siegel des Göttlichen, die Spur Gottes in ihm! Von diesem universalen Streben rührt eine feste und rechte Moralauffassung her, die immer den Menschen ins Zentrum rückt (...) Es ist Aufgabe der Erziehung, das Reifen der Fähigkeit zu begleiten, freie und rechte Entscheidungen zu treffen, die gegenläufig zu verbreiteten Meinungen, Moden, politischen und religiösen Ideologien sein können! Der Aufbau einer Friedenskultur hat diesen Preis! Die verbale oder physische Gewalt muß sichtlich ausgemerzt werden (...) Im Libanon wohnen Christen und Muslime seit Jahrhunderten auf gleichem Raum zusammen. Nicht selten sind beide Religionen in ein und derselben Familie anzutreffen. Wenn das in einer Familie möglich ist, warum dann nicht auch auf der Ebene der gesamten Gesellschaft? Die Besonderheit des Nahen Ostens besteht in der Vermischung verschiedener Komponenten über Jahrhunderte. Gewiß, sie haben sich leider auch bekämpft! Eine pluralistische Gesellschaft kann nur auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts, des Wunsches, den anderen kennenzulernen, und des andauernden Dialogs bestehen. Dieser Dialog unter den Menschen ist nur in dem Bewußtsein möglich, daß es Werte gibt, die allen großen Kulturen gemeinsam sind, weil sie in der Natur des Menschen verwurzelt sind. Diese Werte, die so etwas wie ein Nährboden sind, bringen die authentischen und charakteristischen Züge des Menschlichen zum Ausdruck. Sie gehören zu den Rechten jedes Menschen. In der Bestätigung der Existenz dieser Werte leisten die verschiedenen Religionen einen entscheidenden Beitrag. Vergessen wir nicht, daß die Religionsfreiheit das Grundrecht ist, von dem viele andere abhängen. Sich zu seiner Religion zu bekennen und sie frei zu leben, ohne sein Leben und seine Freiheit in Gefahr zu bringen, muß jedem möglich sein. Der Verlust oder die Schwächung dieser Freiheit beraubt den Menschen des heiligen Rechts auf ein ganzheitliches Leben auf geistlicher Ebene." (Die Hervorhebungen in allen Zitaten dieses Blogeintrages stammen immer von mir.) Und in diesem Sinne verbleibe ich mit herzlichen Grüßen Euer Padre Alex - Dr. Alexander Pytlik Sonntag, 16. September 2012
NACH DER NAHOSTSYNODE: APOSTOLISCHES ... Geschrieben von Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
in Aktuelle Predigt, Katholische Lehre, Kirchenrecht um
21:00
Kommentare (0) Trackbacks (5) NACH DER NAHOSTSYNODE: APOSTOLISCHES SCHREIBEN ECCLESIA IN MEDIO ORIENTE ÜBER KIRCHE IM NAHEN OSTEN
Der Besuch Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. im Libanon ist der krönende Abschluß eines äußerst wichtigen Nachdenkprozesses der ganzen Katholischen Kirche und ihrer führenden Hierarchen über die Präsenz der Christen im Nahen Osten und über die unabdingbare Notwendigkeit echter Religionsfreiheit im friedlichen Zusammenleben der Staaten, Völker und Religionen auf der ganzen Welt. Begonnen hatte dieser durch politische und gesellschaftliche Veränderungen in Nordafrika und im Nahen Osten mittlerweile noch wichtiger gewordene Vorgang gewissermaßen mit dem ersten Besuch eines Papstes in Zypern. Dann folgte die Sonderversammlung der römischen Bischofssynode, und nun kann ihre Abschlußbotschaft ("Nuntius"), die bei mir schon lange in deutscher Sprache abrufbar ist, mit dem vom Heiligen Vater Papst Benedikt XVI. selbst hergestellten Endergebnis seines somit nachsynodalen Apostolischen Schreibens über die Kirche im Nahen Osten ("Ecclesia in Medio Oriente") verglichen werden, was am heutigen Sonntag in der Heiligen Papstmesse den Patriarchen und Bischöfen in Beirut feierlich überreicht wurde. Ich übernahm dazu die deutsche Übersetzung aus dem vom Heiligen Stuhl angebotenen PDF-Dokument (vgl. das HTML-Dokument), wobei von mir sämtliche Anmerkungen direkt in den Text eingebaut und Linkverbindungen hergestellt wurden:
NACHSYNODALES APOSTOLISCHES SCHREIBEN ECCLESIA IN MEDIO ORIENTE SEINER HEILIGKEIT PAPST BENEDIKT XVI. AN DIE PATRIARCHEN, DIE BISCHÖFE, DEN KLERUS, DIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENS UND AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN ÜBER DIE KIRCHE IM NAHEN OSTEN, GEMEINSCHAFT UND ZEUGNIS EINLEITUNG 1. DIE KIRCHE im Nahen Osten, die seit den Anfängen des christlichen Glaubens in diesem gesegneten Land pilgernd unterwegs ist, gibt auch heute weiterhin mutig ihr Zeugnis, das Frucht eines Lebens der Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten ist. Gemeinschaft und Zeugnis! Das war in der Tat die Grundhaltung, welche die Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten einnahm, die sich vom 10. bis zum 24. Oktober 2010 zum Thema "Die katholische Kirche im Nahen Osten, Gemeinschaft und Zeugnis" um den Nachfolger Petri zusammengefunden hatte. "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32). 2. Zu Beginn dieses dritten Jahrtausends möchte ich diese Grundhaltung, die ihre Kraft aus Jesus Christus bezieht, allen Hirten der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche für ihren pastoralen Dienst empfehlen, in besonderer Weise den verehrten Mitbrüdern, die als Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe in Einheit mit dem Bischof von Rom gemeinsam über die katholische Kirche im Nahen Osten wachen. In dieser Region leben einheimische Gläubige, die den ehrwürdigen katholischen Ostkirchen sui iuris angehören: Das sind die Koptische Patriarchialkirche von Alexandrien; die drei Patriarchialkirchen von Antiochien: die der griechischen Melkiten, die der Syrer und die der Maroniten; die Chaldäische Patriarchialkirche von Babylon und das Armenische Patriarchat von Kilikien. Es leben dort ebenfalls Bischöfe, Priester und Gläubige, die zur lateinischen Kirche gehören. Außerdem gibt es Priester und Gläubige, die aus Indien gekommen sind, aus den Großerzbischöflichen Kirchen der Syro-Malabaresen von Ernakulam-Angamaly und der Syro-Malankaresen von Trivandrum, sowie aus den anderen orientalischen und lateinischen Kirchen Asiens und Osteuropas wie auch zahlreiche Gläubige aus Äthiopien und aus Eritrea. Gemeinsam geben sie Zeugnis für die Einheit des Glaubens in der Verschiedenheit ihrer Traditionen. Ich möchte diese Grundhaltung auch allen Priestern, Ordensleuten und gläubigen Laien des Nahen Ostens empfehlen, weil ich überzeugt bin, daß sie den Dienst oder das Apostolat jedes einzelnen in seiner jeweiligen Kirche beleben wird, gemäß dem Charisma, das sie vom Heiligen Geist für den Aufbau des Ganzen erhalten hat. 3. In bezug auf den christlichen Glauben ist die "Gemeinschaft … das Leben Gottes, das sich im Heiligen Geist mitteilt, durch Jesus Christus“ (Anmerkung 1: BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe zur Eröffnung der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [10. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 805). Sie ist eine Gabe Gottes, die unsere Freiheit herausfordert und unsere Antwort erwartet. Sicher liegt es in ihrem göttlichen Ursprung, daß die Gemeinschaft eine universale Bedeutung besitzt. Wenn sie die Christen aufgrund ihres gemeinsamen apostolischen Glaubens zwingend herausfordert, so bleibt sie doch nicht weniger offen für unsere jüdischen und muslimischen Brüder wie auch für alle Menschen, die ebenfalls – unter verschiedenen Formen – dem Volk Gottes zugeordnet sind. Die katholische Kirche im Nahen Osten weiß, daß sie diese Gemeinschaft auf ökumenischer und interreligiöser Ebene nicht vollständig zum Ausdruck bringen kann, wenn sie sie nicht zuallererst in sich selber und im Innern einer jeden ihrer Kirchen unter allen ihren Gliedern – Patriarchen, Bischöfen, Priestern, Ordensleuten, geweihten Personen und Laien – neu belebt. Die Vertiefung des persönlichen Glaubenslebens und die geistliche Erneuerung innerhalb der katholischen Kirche werden die Fülle des Gnadenlebens und die Theosis (Vergöttlichung) ermöglichen.(Anmerkung 2: Vgl. Propositio 4.) So wird dem Zeugnis Glaubwürdigkeit verliehen. 4. Das Beispiel der ersten Gemeinde von Jerusalem kann als Vorbild dienen, um die jetzige christliche Gemeinde zu erneuern, sodaß sie zu einem Ort der Gemeinschaft für das Zeugnis wird. Die Apostelgeschichte bietet ja eine erste einfache und eindrückliche Beschreibung dieser Gemeinde, die am Pfingsttag geboren wurde: eine Gemeinde von Gläubigen, die ein Herz und eine Seele sind (vgl. 4,32). Von Anfang an existiert zwischen dem Glauben an Jesus und der kirchlichen Gemeinschaft eine grundlegende Verbindung, die durch die beiden austauschbaren Begriffe bezeichnet wird: ein Herz und eine Seele. Die Gemeinschaft ist also gar nicht das Ergebnis einer menschlichen Planung. Sie wird vor allem durch die Kraft des Heiligen Geistes gebildet, der in uns den Glauben zeugt, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Gal 5,6). 5. Nach der Apostelgeschichte erkennt man die Einheit der Gläubigen daran, daß sie "an der Lehre der Apostel fest[hielten] und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten" (2,42). Die Einheit der Gläubigen erhält also ihre Nahrung aus der Lehre der Apostel (der Verkündigung des Wortes Gottes), auf die die Gläubigen mit einem einhelligen Glauben antworten, aus der geschwisterlichen Gemeinschaft (dem Dienst der Nächstenliebe), aus dem Brechen des Brotes (der Eucharistie und der Gesamtheit der Sakramente) und aus dem persönlichen wie gemeinschaftlichen Gebet. Diese vier Pfeiler sind es, auf denen die Gemeinschaft und das Zeugnis innerhalb der ersten Gemeinde der Gläubigen beruhen. Möge die Kirche, die seit der apostolischen Zeit bis heute ununterbrochen im Nahen Osten präsent ist, im Beispiel dieser Gemeinde die Quellen finden, die nötig sind, um in sich die Erinnerung an die Ursprünge und deren apostolische Dynamik lebendig zu erhalten! 6. Die Teilnehmer der Synodenversammlung haben bei aller Verschiedenheit der geographischen, religiösen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Hintergründe die Einheit innerhalb der katholischen Kirche erfahren. Der gemeinsame Glaube wird in seinen unterschiedlichen theologischen, spirituellen, liturgischen und kanonischen Ausdruckformen erstaunlich gut gelebt und entfaltet. Wie meine Vorgänger auf dem Stuhl Petri bekräftige ich hier meinen Willen, daß "die Riten der orientalischen Kirchen als Erbe der ganzen Kirche Christi, in dem sowohl das aufstrahlt, was von den Aposteln über die Kirchenväter überliefert ist, als auch das, was die göttliche Einheit des katholischen Glaubens in seiner Verschiedenheit bestätigt, … gewissenhaft bewahrt und gefördert werden"(Anmerkung 3: Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Can. 39; vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, 1; JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 40: AAS 89 [1997], S. 346 - 347, wo das Thema der Einheit zwischen der gemeinsamen apostolischen Überlieferung und den kirchlichen Traditionen, die im Osten daraus hervorgegangen sind, behandelt wird) sollen. Und ich versichere meine lateinischen Mitchristen meiner Zuneigung, mit der ich – gemäß dem Gebot der Nächstenliebe, die in allem den Vorrang hat, und in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften – ihre Bedürfnisse und Nöte aufmerksam im Blick habe. ERSTER TEIL "Wir danken Gott für euch alle, sooft wir in unseren Gebeten an euch denken" (1 Thess 1,2) 7. Mit dieser Danksagung des heiligen Paulus möchte ich die Christen, die im Nahen Osten leben, grüßen und sie meines inständigen und fortwährenden Gebetes versichern. Die katholische Kirche und mit ihr die Gesamtheit der christlichen Gemeinschaft vergißt sie nicht und erkennt ihren altehrwürdigen Beitrag zum Aufbau des Leibes Christi dankbar an. Sie dankt ihnen für ihre Treue und versichert sie ihrer Liebe. Der Kontext 8. Innerlich bewegt erinnere ich mich an meine Reisen in den Nahen Osten. In diesem von Gott in besonderer Weise erwählten Land zogen die Patriarchen und Propheten umher. Es diente als Stätte der Inkarnation des Messias; es sah das Kreuz des Heilands aufragen, und es war Zeuge der Auferstehung des Erlösers sowie der Ausgießung des Heiligen Geistes. Durchwandert von den Aposteln, von Heiligen und vielen Kirchenvätern, war es der Schmelztiegel der ersten dogmatischen Formulierungen. Doch dieses gesegnete Land und die Völker, die dort wohnen, durchleben in dramatischer Weise menschliche Qualen. Wie viele Tote, wie viele durch menschliche Verblendung verwüstete Leben, wie viele Ängste und Demütigungen! Es könnte so scheinen, als gäbe es unter den Kindern Adams und Evas, die doch als Gottes Abbild erschaffen sind (vgl. Gen 1,27), nichts, das dem Verbrechen des Kain (vgl. Gen 4,6 - 10; 1 Joh 3,8 - 15) Einhalt zu gebieten vermag. Die durch die Schuld Kains gefestigte Sünde Adams bringt noch heute unaufhörlich Dornen und Disteln hervor (vgl. Gen 3,18). Wie traurig ist es, dieses gesegnete Land in seinen Kindern leiden zu sehen, die sich voller Grimm gegenseitig zerreißen und sterben! Die Christen wissen, daß nur Jesus, der durch Leiden und Tod zur Auferstehung gelangt ist, allen Bewohnern dieser Weltregion Heil und Frieden bringen kann (vgl. Apg 2,23 - 24.32 - 33). Er allein, Christus, der Sohn Gottes ist es, den wir bekennen! Bereuen wir also und kehren wir um, "damit die Sünden getilgt werden und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen läßt" (vgl. Apg 3,19 - 20). 9. Der Heiligen Schrift zufolge ist der Friede nicht nur ein Pakt oder ein Vertrag, der ein ruhiges Leben begünstigt, und seine Definition kann nicht auf ein bloßes Nichtvorhandensein von Krieg reduziert werden. Gemäß seiner hebräischen Etymologie bedeutet Friede: vollständig sein, heil sein, etwas vollenden, um seine Ganzheit wiederherzustellen. Er ist der Zustand des Menschen, der in Harmonie mit Gott, mit sich selbst, mit seinem Nächsten und mit der Natur lebt. Der Friede ist eher ein innerer als ein äußerer Zustand. Er ist ein Segen. Er ist der Wunsch nach einer Wirklichkeit. Der Friede ist so erstrebenswert, daß er im Nahen Osten zu einem Grußwort geworden ist (vgl. Joh 20,19; 1 Petr 5,14). Der Friede ist Gerechtigkeit (vgl. Jes 32,17), und der heilige Jakobus fügt in seinem Brief hinzu: "Wo Frieden herrscht, wird für die Menschen, die Frieden stiften, die Saat der Gerechtigkeit ausgestreut" (3,18). Der Kampf der Propheten und die Überlegungen der Weisheitsliteratur waren ein Ringen und ein Anspruch im Hinblick auf den eschatologischen Frieden. Zu diesem authentischen Frieden in Gott führt uns Christus. Er ist die einzige Tür dorthin (vgl. Joh 10,9). Und diese einzige Tür möchten die Christen durchschreiten. 10. Um der Einladung Christi, "Sohn Gottes" zu werden (vgl. Mt 5,9), Folge leisten zu können, muß der Mensch guten Willens damit beginnen, sich selbst zu Gott zu bekehren und in seiner unmittelbaren Umgebung wie im Umfeld seiner Gemeinschaft die Vergebung zu üben. Allein der Demütige wird die Freuden eines unermeßlichen Friedens genießen (vgl. Ps 37,11). Dadurch, daß Jesus uns das Mitsein mit Gott eröffnet, schafft er die wahre Brüderlichkeit – nicht die von der Sünde entstellte Brüderlichkeit.(Anmerkung 4: Vgl. BENEDIKT XVI., Homilie in der Mitternachtsmesse [24. Dezember 2010]: AAS 103 [2011], S. 17 - 21.) "Er [Christus] ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riß … die trennende Wand der Feindschaft nieder" (Eph 2,14). Der Christ weiß, daß die irdische Friedenspolitik nur wirksam sein wird, wenn die Gerechtigkeit in Gott und unter den Menschen ihre authentische Grundlage bildet und wenn ebendiese Gerechtigkeit die Sünde bekämpft, welche die Ursache der Uneinigkeit ist. Darum möchte die Kirche alle Klassifizierung nach Rasse, Geschlecht und gesellschaftlichem Stand überwinden (vgl. Gal 3,28; Kol 3,11), denn sie weiß, daß alle nur "einer" sind in Christus, der alles in allen ist. Das ist der Grund, warum auch die Kirche jede Anstrengung im Hinblick auf den Frieden in der Welt und besonders im Nahen Osten unterstützt und fördert. Auf vielerlei Weise scheut sie keine Mühen, um den Menschen zu helfen, in Frieden zu leben, und sie unterstützt auch das internationale Rechtsinstrumentarium, das ihn festigt. Die Positionen des Heiligen Stuhls zu den verschiedenen Konflikten, welche die Region in dramatischer Weise plagen, und jene zum Status von Jerusalem und den heiligen Stätten sind weithin bekannt.(Anmerkung 5: Vgl. Propositio 9.) Allerdings vergißt die Kirche nicht, daß der Friede vor allem eine Frucht des Geistes ist (vgl. Gal 5,22), die man unablässig von Gott erbitten muß (vgl. Mt 7,7 - 8). Das christliche und ökumenische Leben 11. In diesem einengenden, instabilen und augenblicklich zur Gewalt neigenden Kontext hat Gott erlaubt, daß sich seine Kirche entfalte. Sie lebt dort in einer beachtlichen Vielfalt. Neben der katholischen Kirche gibt es im Nahen Osten sehr viele altehrwürdige Kirchen, zu denen kirchliche Gemeinschaften jüngeren Ursprungs hinzugekommen sind. Dieses Mosaik verlangt einen beträchtlichen und beharrlichen Einsatz zugunsten der Einheit, im Respekt vor dem je eigenen Reichtum, um die Glaubwürdigkeit der Verkündigung des Evangeliums und das christliche Zeugnis zu stärken.(Anmerkung 6: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 1.) Die Einheit ist eine Gabe Gottes, die aus dem Heiligen Geist geboren wird und die man in geduldiger Ausdauer wachsen lassen muß (vgl. 1 Petr 3,8 - 9). Wir wissen um die Versuchung, wenn wir mit Uneinigkeit konfrontiert werden, sich nur auf die bloß menschliche Sichtweise zu berufen und die weisen Ratschläge des heiligen Paulus zu vergessen (vgl. 1 Kor 6,7 - 8). Er mahnt: "Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält" (Eph 4,3). Der Glaube ist das Zentrum und die Frucht der wahren Ökumene.(Anmerkung 7: Vgl. BENEDIKT XVI., Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Kongregation für die Glaubenslehre [27. Januar 2012]: AAS 104 [2012], S. 109.) Man muß damit beginnen, ihn zu vertiefen. Die Einheit erwächst aus dem beharrlichen Gebet und aus der Umkehr, die jeden gemäß der Wahrheit und in der Liebe leben läßt (vgl. Eph 4,15 - 16). Das Zweite Vatikanische Konzil hat zu dieser "geistlichen Ökumene" ermutigt, der die Seele der wahren Ökumene ist.(Anmerkung 8: Vgl. Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 8.) Die Situation des Nahen Ostens an sich ist ein dringender Aufruf zur Heiligkeit des Lebens. Die Martyrologien bestätigen, daß Heilige und Märtyrer jeder kirchlichen Zugehörigkeit lebendige Zeugen dieser grenzenlosen Einheit im verherrlichten Christus waren und einige es heute sind – ein Vorgeschmack unseres "Vereintseins" als ein endlich in ihm versöhntes Volk.(Anmerkung 9: Vgl. JOHANNES PAUL II., Enzyklika Ut unum sint [25. Mai 1995], 83 - 84: AAS 87 (1995), S. 971 - 972.) Das ist der Grund, warum selbst innerhalb der katholischen Kirche die Gemeinschaft gefestigt werden muß, die Zeugnis für die Liebe Christi ablegt. 12. Auf der Basis der Angaben des Ökumenischen Direktoriums(Anmerkung 10: Vgl. PÄPSTLICHER RAT ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus [25. März 1993]: AAS 85 [1993], S. 1039 - 1119) können die katholischen Gläubigen die geistliche Ökumene in den Pfarreien, Klöstern und Konventen, in den Schulen und Universitäten und in den Seminaren fördern. Die Hirten werden dafür Sorge tragen, die Gläubigen dazu zu erziehen, in allen ihren Lebensbereichen Zeugen der Gemeinschaft zu sein. Diese Gemeinschaft ist natürlich kein unklares Mit- und Ineinander. Das authentische Zeugnis verlangt die Anerkennung und die Achtung des anderen, eine Bereitschaft zum Dialog in der Wahrheit, die Geduld als Dimension der Liebe, die Einfachheit und die Demut dessen, der sich vor Gott und dem Nächsten als Sünder bekennt, die Fähigkeit zu Vergebung, Versöhnung und Reinigung des Gedächtnisses auf persönlicher und gemeinschaftlicher Ebene. 13. Ich ermutige die Arbeit der Theologen, die unermüdlich für die Einheit tätig sind; ebenso begrüße ich die Aktivitäten der örtlichen ökumenischen Kommissionen, die auf verschiedenen Ebenen bestehen, sowie das Wirken der verschiedenen Gemeinschaften, die für die so ersehnte Einheit beten und handeln, indem sie Freundschaft und Brüderlichkeit fördern. In der Treue zu den Ursprüngen der Kirche und zu ihren lebendigen Überlieferungen ist es auch wichtig, sich mit einer Stimme zu den großen moralischen Fragen in bezug auf die Wahrheit über den Menschen, die Familie, die Sexualität, die Bioethik, die Freiheit, die Gerechtigkeit und den Frieden zu äußern. 14. Im übrigen gibt es auf karitativem Gebiet und im Bildungswesen bereits eine "diakonische Ökumene" unter den Christen der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Und der Rat der Kirchen des Nahen Ostens, der die Kirchen verschiedener christlicher Traditionen in der Region zusammenfaßt, bietet einem Dialog, der sich in Liebe und gegenseitiger Achtung vollziehen kann, weiten Raum. 15. Das Zweite Vatikanische Konzil weist darauf hin, daß das Fortschreiten auf dem Weg der Ökumene, um wirkungsvoll zu sein, zuerst einmal das Gebet der Christen braucht, "das Beispiel ihres Lebens, die ehrfürchtige Treue gegenüber den alten ostkirchlichen Überlieferungen, eine bessere gegenseitige Kenntnis und Zusammenarbeit sowie brüderliche Wertschätzung des äußeren und inneren Lebens der anderen".(Anmerkung 11: Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, 24.) Vor allem sollten sich alle wieder mehr auf Christus selbst ausrichten. Jesus vereint diejenigen, die an ihn glauben und ihn lieben, indem er ihnen den Geist seines Vaters wie auch Maria, seine Mutter, schenkt (vgl. Joh 14,26; 16,7; 19,27). Diese zweifache Gabe auf unterschiedlicher Ebene kann eine mächtige Hilfe sein und verdient eine größere Beachtung aller. 16. Die gemeinsame Liebe zu Christus, der "keine Sünde begangen" hat und in dessen Mund "kein trügerisches Wort" war (1 Petr 2,22), sowie die "enge Verwandtschaft"(Anmerkung 12: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15) unter den Kirchen des Ostens, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche sind, drängen zum Dialog und zur Einheit. In verschiedenen Fällen sind die Katholiken durch gemeinsame religiöse Ursprünge mit den nicht in voller Gemeinschaft stehenden Ostkirchen verbunden. Für eine erneuerte ökumenische Seelsorge ist es im Hinblick auf ein gemeinsames Zeugnis hilfreich, die Offenheit des Konzils gegenüber einer gewissen "communicatio in sacris" für die Sakramente der Buße, der Eucharistie und der Krankensalbung recht zu verstehen(Anmerkung 13: Vgl. ebd., Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, 26 - 27), die nicht nur möglich ist, sondern – gemäß den genauen Vorschriften und mit Billigung der kirchlichen Autoritäten – unter gegebenen geeigneten Umständen ratsam sein kann.(Anmerkung 14: Vgl. ebd., Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15; PÄPSTLICHER RAT ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus [25. März 1993], 122 - 128: AAS 85 [1993], S. 1086 - 1088.) Die Ehen zwischen katholischen und orthodoxen Gläubigen sind zahlreich, und sie verlangen eine besondere ökumenische Aufmerksamkeit.(Anmerkung 15: Vgl. PÄPSTLICHER RAT ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus [25. März 1993], 145: AAS 85 [1993], S. 1092.) Ich ermutige die Bischöfe und die Eparchen, dort, wo pastorale Übereinkünfte bestehen, diese im Maß des Möglichen anzuwenden, um nach und nach eine gemeinsame ökumenische Seelsorge zu fördern. 17. Die ökumenische Einheit bedeutet nicht etwa eine Uniformierung der Traditionen und der liturgischen Feiern. Ich bin überzeugt, daß – um einen Anfang zu setzen – dort, wo es nötig ist, mit Gottes Hilfe ein Einvernehmen erzielt werden kann für eine gemeinsame Übersetzung des Gebetes des Herrn, des Vaterunsers, in die einheimischen Sprachen der Region.(Anmerkung 16: Vgl. Propositio 28, wo einige vorgeschlagene Initiativen in den Zuständigkeitsbereich der örtlichen Seelsorge fallen und andere, die die katholische Kirche im ganzen betreffen, in Abstimmung mit dem Heiligen Stuhl untersucht werden müssen.) Beim gemeinsamen Beten mit denselben Worten werden die Christen ihre gemeinsame Verwurzelung in dem einen apostolischen Glauben erkennen, auf den sich die Suche nach der vollen Gemeinschaft gründet. Dieser Suche kann außerdem die gemeinsame Vertiefung des Studiums der östlichen und der lateinischen Väterliteratur sowie der jeweiligen geistlichen Traditionen sehr dienlich sein, unter korrekter Anwendung der kanonischen Vorschriften, die diese Materie regeln. 18. Ich lade die Katholiken des Nahen Ostens ein, die Beziehungen zu den Gläubigen der verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften in der Region zu pflegen. Verschiedene gemeinsame Initiativen sind möglich. Ein gemeinsames Lesen der Bibel sowie ihre Verbreitung könnten zum Beispiel diesen Weg eröffnen. Besonders fruchtbare Formen der Zusammenarbeit könnten sich außerdem auf dem Gebiet der karitativen Aktivitäten sowie der Unterstützung der Werte des menschlichen Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens entwickeln bzw. vertiefen. All das wird zu einem besseren gegenseitigen Sich-Kennen und zur Schaffung eines Klimas der Wertschätzung beitragen, was die unverzichtbaren Bedingungen sind, um die Brüderlichkeit zu fördern. Der interreligiöse Dialog 19. Das Wesen und die universale Berufung der Kirche erfordern, daß sie im Dialog mit den Anhängern der anderen Religionen steht. Dieser Dialog basiert im Nahen Osten auf den geistlichen und historischen Beziehungen, welche die Christen mit den Juden und mit den Muslimen verbinden. Dieser Dialog, der in erster Linie nicht von pragmatischen Erwägungen politischer oder gesellschaftlicher Art bestimmt ist, beruht vor allem auf theologischen Fundamenten, die den Glauben anfragen. Sie stammen aus der Heiligen Schrift und sind in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, Lumen gentium, und in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Nostra aetate,(Anmerkung 17: Vgl. Propositio 40) klar definiert. Juden, Christen und Muslime glauben an den einen Gott, den Schöpfer aller Menschen. Könnten doch die Juden, die Christen und die Muslime einen der göttlichen Wünsche, den der Einheit und der Harmonie der Menschheitsfamilie, wiederentdecken! Könnten doch die Juden, die Christen und die Muslime im Andersgläubigen einen Bruder entdecken, der zu achten und zu lieben ist, um in erster Linie in ihren Ländern das schöne Zeugnis der Gelassenheit und des freundschaftlichen Umgangs unter den Söhnen Abrahams zu geben! Anstatt sich in den wiederholten und für einen wirklich Glaubenden nicht zu rechtfertigenden Konflikten instrumentalisieren zu lassen, kann die Erkenntnis eines alleinigen Gottes – wenn sie mit reinem Herzen gelebt wird – wirksam zum Frieden der Region und zum respektvollen Zusammenleben ihrer Bewohner beitragen. 20. Zahlreich und tief sind die Bande zwischen den Christen und den Juden. Sie sind in einem kostbaren gemeinsamen spirituellen Erbe verankert. Da ist natürlich der Glaube an einen einzigen Schöpfergott, der sich offenbart und sich für immer an den Menschen bindet und der aus Liebe die Erlösung will. Da ist weiter die Bibel, die den Juden und den Christen großenteils gemeinsam ist. Sie ist für die einen wie für die anderen "Wort Gottes". Der gemeinsame Umgang mit der Heiligen Schrift führt uns näher zusammen. Zudem ist Jesus, ein Sohn des auserwählten Volkes, als Jude geboren, hat als Jude gelebt und ist als Jude gestorben (vgl. Röm 9,4 - 5). Auch Maria, seine Mutter, lädt uns ein, die jüdischen Wurzeln des Christentums wiederzuentdecken. Diese engen Bande sind ein einzigartiges Gut, auf das alle Christen stolz sind und das sie dem auserwählten Volk verdanken. Wenn auch das Judesein des "Nazoräers" den Christen erlaubt, mit Freude die Welt der Verheißung auszukosten, und sie definitiv in den Glauben des auserwählten Volkes einführt, indem es sie mit ihm vereint, so geben doch die Person und die eigentliche Identität ebendieses Jesus Anlaß zu Trennung, denn die Christen erkennen in ihm den Messias, den Sohn Gottes. 21. Es ist gut, wenn die Christen sich der Tiefe des Mysteriums der Inkarnation bewußter werden, um Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben (vgl. Dtn 6,5). Christus, der Sohn Gottes, ist Mensch geworden in einem Volk, in einer Glaubenstradition und in einer Kultur, deren Kenntnis das Verständnis des christlichen Glaubens nur bereichern kann. Die Christen haben ihrerseits diese Kenntnis bereichert durch den besonderen Beitrag, den Christus selbst durch seinen Tod und seine Auferstehung geliefert hat (vgl. Lk 24,26). Doch sie müssen sich stets ihrer Wurzeln bewußt und für sie dankbar sein. Denn, damit der eingepfropfte Zweig auf dem alten Baum anwachsen kann (vgl. Röm 11,17 - 18), braucht er den Pflanzensaft, der aus den Wurzeln kommt. 22. Die Beziehungen zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften sind geprägt durch die Geschichte und durch die menschlichen Leidenschaften. Immer wieder kam es zu unzähligen Formen von Unverständnis und gegenseitigem Mißtrauen. Unentschuldbar und aufs schärfste zu verurteilen sind die unterschwelligen oder gewaltsamen Verfolgungen der Vergangenheit! Und dennoch sind trotz dieser traurigen Situationen die Beiträge beider Seiten im Laufe der Jahrhunderte so fruchtbar gewesen, daß sie zur Entstehung und zur Entfaltung einer Zivilisation und einer Kultur beigetragen haben, die allgemein jüdischchristlich genannt wird – als hätten diese beiden Welten, die aus verschiedenen Gründen unterschiedlich oder gegensätzlich bezeichnet werden, beschlossen, sich zu vereinen, um der Menschheit eine edle Verschmelzung anzubieten. Dieses Band, das Juden und Christen vereint und doch zugleich voneinander trennt, muß sie einer neuen Verantwortung füreinander und miteinander öffnen.(Anmerkung 18: Vgl. BENEDIKT XVI., Ansprache im Hechal Shlomo-Zentrum, Jerusalem [12. Mai 2009]: AAS 101 [2009], S. 522 - 523; vgl. Propositio 41.) Denn die beiden Völker haben den gleichen Segen erhalten und Verheißungen der Ewigkeit, die es erlauben, in Richtung auf das brüderliche Miteinander zuversichtlich voranzugehen. 23. In der Treue zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils betrachtet die katholische Kirche die Muslime mit Hochachtung – sie, die Gott vor allem durch Gebet, Almosen und Fasten dienen, die Jesus als Propheten verehren, ohne allerdings seine Gottheit anzuerkennen, und die Maria, seine jungfräuliche Mutter, ehren. Wir wissen, daß die Begegnung zwischen Islam und Christentum häufig die Form der doktrinellen Kontroverse angenommen hat. Leider haben diese Unterschiede in der Lehre der einen wie der anderen Seite als Vorwand gedient, um im Namen der Religion Praktiken der Intoleranz, der Diskriminierung, der Ausgrenzung und sogar der Verfolgung zu rechtfertigen.(Anmerkung 19: Vgl. Propositio 5.) 24. Trotz dieser Tatsache teilen die Christen mit den Muslimen den gleichen Alltag im Nahen Osten, wo ihre Anwesenheit weder neu noch zufällig, sondern geschichtlich ist. Als ein feststehender Teil des Nahen Ostens haben sie im Laufe der Jahrhunderte eine Art der Beziehung zu ihrer Umgebung entwickelt, die lehrreich sein kann. Sie haben sich durch die Religiosität der Muslime herausfordern lassen, und sie haben entsprechend ihren Mitteln und im Rahmen des Möglichen in der herrschenden Kultur weiter die Werte des Evangeliums gelebt und gefördert. Das Ergebnis ist eine besondere Symbiose. Aus diesem Grund ist es recht, den jüdischen, christlichen und muslimischen Beitrag zur Bildung einer dem Nahen Osten eigenen reichen Kultur anzuerkennen.(Anmerkung 20: Vgl. Propositio 42.) 25. Die Katholiken des Nahen Ostens, deren Mehrheit einheimische Bürger ihres Landes sind, haben die Pflicht und das Recht, am nationalen Leben voll teilzunehmen, indem sie für den Aufbau ihrer Heimat arbeiten. Sie müssen eine volle Staatsbürgerschaft besitzen und dürfen nicht als Bürger oder Gläubige zweiter Klasse behandelt werden. Wie in der Vergangenheit, wo sie als Pioniere der arabischen Renaissance ein wesentlicher Bestandteil des kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens der verschiedenen Zivilisationen der Region waren, möchten sie heute immer noch ihre Erfahrungen mit den Muslimen teilen und so ihren spezifischen Beitrag leisten. Jesus ist der Grund, warum der Christ ein feines Empfinden hat für die Würde der Person und für die Religionsfreiheit, die daraus folgt. Die Liebe zu Gott und zur Menschheit, mit der zugleich die zweifache Natur Christi geehrt wird, und die Ausrichtung auf das ewige Leben sind der Grund, warum die Christen Schulen, Krankenhäuser und Einrichtungen aller Art ins Leben gerufen haben, in denen unterschiedslos alle aufgenommen werden (vgl. Mt 25,31 ff.) Aus diesen Gründen schenken die Christen den fundamentalen Menschenrechten besondere Beachtung. Jedoch zu behaupten, diese Rechte seien nur christliche Rechte des Menschen, ist nicht richtig. Es sind einfach Rechte, welche die Würde jedes Menschen und jedes Bürgers einfordert, unabhängig von seiner Herkunft, seinen religiösen Überzeugungen und seinen politischen Entscheidungen. 26. Die Religionsfreiheit ist der Gipfel aller Freiheiten. Sie ist ein heiliges und unveräußerliches Recht. Sie umfaßt auf persönlicher wie auf gemeinschaftlicher Ebene sowohl die Freiheit, in religiösen Dingen dem eigenen Gewissen zu folgen, als auch die Freiheit der Religionsausübung. Sie schließt die Freiheit ein, die Religion zu wählen, die man für die wahre hält, und den eigenen Glauben öffentlich zu bekunden.(Anmerkung 21: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 2 - 8; BENEDIKT XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2011: AAS 103 [2011], S. 46 - 58; DERS., Ansprache an die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Korps [10. Januar 2011]: AAS 103 [2011], S. 100 - 107.) Es muß möglich sein, den eigenen Glauben und dessen Symbole frei zu bekennen und zum Ausdruck zu bringen, ohne das eigene Leben und die persönliche Freiheit in Gefahr zu bringen. Die Religionsfreiheit ist in der Menschenwürde verwurzelt; sie garantiert die moralische Freiheit und begünstigt die gegenseitige Achtung. Die Juden, die lange Zeit oft tödliche Feindseligkeiten erlitten haben, können die Vorteile der Religionsfreiheit nicht vergessen. Die Muslime ihrerseits teilen mit den Christen die Überzeugung, daß in religiösen Dingen kein Zwang und erst recht keine Gewaltanwendung erlaubt sind. Ein solcher Zwang, der vielerlei und unterschwellige Formen auf persönlicher wie gesellschaftlicher, kultureller, behördlicher und politischer Ebene annehmen kann, ist gegen den Willen Gottes. Er ist eine Quelle von politischreligiöser Instrumentalisierung, von Diskriminierung und Gewalt, die zum Tod führen kann. Gott will das Leben, nicht den Tod. Er verbietet den Mord, sogar den des Mörders (vgl. Gen 4,15 - 16; 9,5 - 6; Ex 20,13). 27. Die religiöse Toleranz existiert in vielen Ländern, doch sie ist wenig verpflichtend, denn sie bleibt auf ihren Aktionsradius beschränkt. Es ist notwendig, von der religiösen Toleranz zur Religionsfreiheit zu gelangen. Dieser Schritt öffnet keineswegs dem Relativismus die Tür, wie einige behaupten. Dieser Schritt, der getan werden muß, ist nicht ein offener Riß im Glauben, sondern eine erneute Berücksichtigung der anthropologischen Beziehung zur Religion und zu Gott. Er ist keine Verletzung der "Grundwahrheiten" des Glaubens, denn ungeachtet der menschlichen und religiösen Divergenzen erleuchtet ein Strahl der Wahrheit alle Menschen.(Anmerkung 22: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 2.) Wir wissen sehr wohl, daß außerhalb Gottes die Wahrheit "in sich selbst" nicht existiert. Dann wäre sie ein Götze. Die Wahrheit kann sich nur in der Beziehung zum anderen entwickeln, die auf Gott hin öffnet, der seine eigene Andersheit durch meine Mitmenschen und in ihnen zu erkennen geben will. So ist es unangebracht, in ausschließender Weise zu behaupten: "Ich besitze die Wahrheit". Die Wahrheit ist niemals Besitz eines Menschen. Sie ist immer Geschenk, das uns auf einen Weg ruft, sie immer tiefer uns anzueignen. Die Wahrheit kann nur in der Freiheit erkannt und gelebt werden; denn wir können dem anderen die Wahrheit nicht aufzwingen. Nur wenn wir einander in Liebe begegnen, enthüllt sich die Wahrheit. 28. Die ganze Welt richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten, der seinen Weg sucht. Möge diese Region zeigen, daß das Zusammenleben keine Utopie ist und daß Mißtrauen und Vorurteil kein unabwendbares Schicksal sind. Die Religionen können sich gemeinsam in den Dienst des Gemeinwohls stellen und zur Entfaltung jedes Menschen sowie zum Aufbau der Gesellschaft beitragen. Die Christen des Nahen Ostens leben seit Jahrhunderten im islamisch-christlichen Dialog. Für sie handelt es sich um den Dialog des Alltags und im Alltag. Sie kennen seine bereichernden Elemente und seine Grenzen. Neuerdings leben sie auch den jüdisch-christlichen Dialog. Seit langer Zeit gibt es zudem einen bilateralen oder trilateralen Dialog jüdischer, christlicher und muslimischer Intellektueller oder Theologen. Das ist ein Laboratorium unterschiedlicher Begegnungen und Forschungen, das man fördern muß. Einen wirksamen Beitrag dazu leisten all die verschiedenen katholischen Institute und Zentren philosophischer, theologischer und anderer Ausrichtung, die vor langer Zeit im Nahen Osten entstanden sind und dort unter manchmal schwierigen Bedingungen arbeiten. Ich grüße sie herzlich und ermutige sie, ihr Friedenswerk fortzusetzen, wohl wissend, daß alles unterstützt werden muß, was die Unwissenheit bekämpft und die Erkenntnis fördert. Die glückliche Verbindung des Dialogs des Alltags mit dem der Intellektuellen oder der Theologen wird mit Gottes Hilfe sicher allmählich dazu beitragen, das jüdisch-christliche, das jüdisch-islamische und das islamisch-christliche Zusammenleben zu verbessern. Das ist mein Wunsch, den ich hier zum Ausdruck bringe, und das Anliegen, für das ich bete. Zwei neue Realitäten 29. Wie die übrige Welt kennt der Nahe Osten zwei entgegengesetzte Realitäten: die Laizität mit ihren manchmal extremen Formen und den gewaltsamen Fundamentalismus, der einen religiösen Ursprung beansprucht. Mit großem Argwohn betrachten einige politischen und religiösen Verantwortungsträger aus allen Gemeinschaften des Nahen Ostens die Laizität als atheistisch oder unmoralisch. Es trifft zu, daß die Laizität manchmal in verengter Weise behaupten kann, die Religion gehöre ausschließlich in die Privatsphäre, als sei sie nur ein individueller und häuslicher Kult, der außerhalb des Lebens, der Ethik und der Beziehung zum anderen angesiedelt ist. In ihrer extremen und ideologischen Form verweigert diese zu Säkularismus gewordene Laizität dem Bürger die öffentliche Ausübung seiner Religion und erhebt den Anspruch, daß der Staat allein Gesetze über seine öffentliche Form erlassen kann. Diese Theorien sind alt. Sie sind nicht mehr nur westlich, und sie sind mit dem Christentum unvereinbar. Die gesunde Laizität bedeutet dagegen, den Glauben von der Last der Politik zu befreien und die Politik durch die Beiträge des Glaubens zu bereichern. Dabei sind der nötige Abstand, die klare Unterscheidung und die unentbehrliche Zusammenarbeit zwischen beiden zu wahren. Keine Gesellschaft kann sich gesund entfalten, ohne die gegenseitige Achtung zwischen Politik und Religion zu bekräftigen und dabei die ständige Versuchung der Vermischung oder der Opposition zu vermeiden. Die rechte Beziehung gründet sich vor allen Dingen auf die Natur des Menschen – auf eine gesunde Anthropologie also – und auf die völlige Achtung seiner unveräußerlichen Rechte. Die Einsicht in diese ideale Beziehung macht verständlich, daß es eine Art von Einheit in der Unterscheidung gibt, welche die Beziehung zwischen Geistlichem (Religion) und Weltlichem (Politik) kennzeichnen muß, denn beide sind – wenn auch in der nötigen Unterscheidung – berufen, einträchtig für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten. Eine solche gesunde Laizität garantiert der Politik zu handeln, ohne die Religion für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, und der Religion, frei zu leben, ohne sich mit der politischen Wirklichkeit zu belasten, die von Interessen geleitet ist und sich manchmal mit dem Glauben nur schwer oder sogar überhaupt nicht vereinbaren läßt. Das ist der Grund, warum die gesunde Laizität (Einheit in der Unterscheidung) für beide Teile nötig und sogar unverzichtbar ist. Der Herausforderung, die in der Beziehung zwischen dem Politischen und dem Religiösen liegt, kann mit Geduld und Mut durch eine angemessene menschliche und religiöse Bildung begegnet werden. Immer wieder muß man an den Platz Gottes im persönlichen, familiären und zivilen Leben erinnern wie auch an den rechten Platz des Menschen im Plan Gottes. Und vor allem muß man dafür noch mehr beten. 30. Die wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten, die Begabung einiger zur Manipulation und ein mangelhaftes Verständnis der Religion bilden unter anderem die Basis für den religiösen Fundamentalismus. Dieser sucht alle religiösen Gemeinschaften heim und lehnt das jahrhundertealte Zusammenleben ab. Aus politischen Gründen sucht er – manchmal mit Gewalt – die Macht über das Gewissen der einzelnen und über die Religion zu gewinnen. Ich appelliere an alle jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsführer der Region, danach zu streben, durch ihr Beispiel und ihre Lehre alles zu tun, um diese Bedrohung auszumerzen, die unterschiedslos und tödlich die Gläubigen aller Religionen ergreift. "Geoffenbarte Worte, heilige Schriften oder den Namen Gottes zu gebrauchen, um unsere Interessen, unsere – so leicht willfährige – Politik oder unsere Gewalttätigkeit zu rechtfertigen, ist ein sehr schwerer Fehler.“(Anmerkung 23: BENEDIKT XVI., Ansprache anläßlich der Begegnung mit den Mitgliedern der Regierung, Vertretern der staatlichen Institutionen, mit dem Diplomatischen Korps und mit Vertretern der wichtigsten Religionen, Cotonou [19. November 2011]: AAS 103 [2011], S. 820.) Die Migranten 31. Die Wirklichkeit des Nahen Ostens ist in ihrer Vielfalt reich, doch allzu häufig ist sie von Zwang und sogar Gewalt geprägt. Das betrifft die Gesamtheit der Bevölkerung der Region und alle Aspekte ihres Lebens. Die Christen, die sich in einer oft heiklen Lage befinden, spüren in besonderer Weise und manchmal mit Überdruß und wenig Hoffnung die negativen Konsequenzen dieser Konflikte und dieser Unsicherheiten. Häufig fühlen sie sich gedemütigt. Aus Erfahrung wissen sie auch, daß sie die ausgesuchten Opfer sind, wenn es Unruhen gibt. Nachdem sie über Jahrhunderte aktiv am Aufbau der jeweiligen Nationen teilgenommen und zur Bildung ihrer Identität und ihres Wohlstands beigetragen haben, halten viele Christen nach günstigeren Horizonten Ausschau und entscheiden sich für Orte des Friedens, wo sie und ihre Familien würdig und in Sicherheit leben können, und für Freiheitsräume, wo sie ihren Glauben ausüben können, ohne daß sie verschiedenen Zwängen unterworfen sind.(Anmerkung 24: Vgl. BENEDIKT XVI., Botschaft zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2006 [18. Oktober 2005]: AAS 97 [2005], S. 981 - 983; Botschaft zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2008 [18. Oktober 2007]: AAS 99 [2007], S. 1065 - 1068; Botschaft zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2012 [21. September 2011]: AAS 103 [2011], S. 763 - 766.) Diese Entscheidung hinterläßt tiefe Risse. Sie hat schwere Auswirkungen für die einzelnen, die Familien und die Kirchen. Sie verstümmelt die Nationen und trägt zur menschlichen, kulturellen und religiösen Verarmung des Nahen Ostens bei. Ein Naher Osten ohne oder mit wenig Christen ist nicht mehr der Nahe Osten, denn die Christen haben mit den anderen Gläubigen Anteil an der so besonderen Identität der Region. Vor Gott sind die einen für die anderen verantwortlich. Es ist also wichtig, daß die politischen Führer und die Verantwortungsträger der Religionsgemeinschaften diese Sachlage begreifen und eine gruppenbezogene Politik oder Strategie vermeiden, die einen uniformen Nahen Osten anstreben würden, der in keiner Weise seine reiche menschliche und geschichtliche Wirklichkeit widerspiegelt. 32. Die Hirten der katholischen Ostkirchen sui iuris stellen mit Sorge und Schmerz fest, daß die Zahl ihrer Gläubigen in den traditionellen Patriarchatsgebieten abnimmt und daß sie sich seit einiger Zeit gezwungen sehen, eine Emigrationspastoral zu entwickeln.(Anmerkung 25: Vgl. Propositio 11.) Ich bin sicher, daß sie alles tun, was ihnen möglich ist, um ihre Gläubigen zur Hoffnung zu ermuntern und sie aufzufordern, in ihrem Land zu bleiben und ihren Besitz nicht zu verkaufen.(Anmerkung 26: Vgl. Propositiones 6 und 10.) Ich ermutige sie, ihre Priester und ihre Gläubigen der Diaspora weiter mit Liebe zu umgeben und sie einzuladen, in engem Kontakt mit ihren Familien und ihren Kirchen zu bleiben und vor allem treu ihren Glauben an Gott zu bewahren dank ihrer auf ehrwürdigen geistlichen Traditionen beruhenden religiösen Identität.(Anmerkung 27. Vgl. Propositio 12.) Indem sie diese Zugehörigkeit zu Gott und zu ihren jeweiligen Kirchen beibehalten und indem sie eine tiefe Liebe zu ihren lateinischen Brüdern und Schwestern pflegen, tragen sie sehr zum Wohl der katholischen Kirche im ganzen bei. Außerdem ermahne ich die Hirten der kirchlichen Gebiete, welche die Gläubigen katholischer Ostkirchen aufnehmen, sie mit Liebe und Wertschätzung wie Brüder zu empfangen, die gemeinschaftlichen Bindungen zwischen den Emigranten und den Kirchen ihrer Herkunft zu fördern, ihnen die Möglichkeit zu geben, Gottesdienste nach den eigenen Traditionen zu feiern, und dort, wo dies machbar ist, Aktivitäten auf pastoralem Gebiet und auf Pfarreiebene zu entfalten.(Anmerkung 28: Vgl. Propositio 15.) 33. Die lateinische Kirche im Nahen Osten erlebt, obwohl auch sie unter der Abwanderung vieler ihrer Gläubigen leidet, eine andere Situation und sieht sich vor zahlreiche auch neue pastorale Herausforderungen gestellt. Ihre Hirten müssen in den wirtschaftlich starken Ländern der Region eine massive Zuwanderung und den Aufenthalt von Arbeitern aller Art aus Afrika, dem Fernen Osten und dem indischen Subkontinent bewältigen. Diese Bevölkerungsgruppen, die sich aus oft einzelnen Männern und Frauen oder aus ganzen Familien zusammensetzen, stehen vor einer zweifachen Unsicherheit. Sie sind Fremde in dem Land, in dem sie arbeiten, und sie erfahren allzu häufig Situationen der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit. Dem Fremden wendet Gott seine Aufmerksamkeit zu; daher verdient der Fremde auch unsere Achtung. Wie er aufgenommen wurde, wird beim Jüngsten Gericht zur Geltung kommen (vgl. Mt 25,35.43).(Anmerkung 29: Vgl. Propositio 14.) 34. Ausgebeutet, ohne sich wehren zu können, und mit mehr oder weniger legalen Arbeitsverträgen gedungen, sind diese Menschen manchmal Opfer von Übertretungen der örtlichen Gesetze und der internationalen Konventionen. Außerdem leiden sie unter starkem Druck und unter gravierenden religiösen Einschränkungen. Die Aufgabe ihrer Hirten ist notwendig und heikel. Ich ermutige alle katholischen Gläubigen und alle Priester, gleich welcher Kirche sie angehören, zu einem echten Miteinander und zur pastoralen Zusammenarbeit mit dem Ortsbischof und diesen wiederum zu väterlichem Verständnis gegenüber den Gläubigen der katholischen Ostkirchen. Die Zusammenarbeit aller und vor allem die Einstimmigkeit im Reden sorgt dafür, daß in dieser besonderen Situation alle ihren Glauben leben und feiern können und sich dabei durch die Verschiedenheit der spirituellen Traditionen bereichern, auch wenn sie mit ihren ursprünglichen christlichen Gemeinschaften im Kontakt bleiben. Auch die Regierenden der Länder, die diese neuen Bevölkerungsgruppen aufnehmen, fordere ich auf, deren Rechte zu achten und zu schützen, ihnen die freie Ausübung ihres Glaubens zu gestatten, indem sie die Religionsfreiheit fördern und die Errichtung von Gotteshäusern begünstigen. Die Religionsfreiheit "könnte Gegenstand des Dialogs zwischen Christen und Muslimen werden, eines Dialogs, dessen Dringlichkeit und Notwendigkeit von den Synodenvätern bekräftigt wurde".(Anmerkung 30: BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe zum Abschluß der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [24. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 815.) 35. Während einheimische Katholiken des Nahen Ostens aus Notwendigkeit, Überdruß oder Verzweiflung die dramatische Entscheidung treffen, das Land ihrer Vorfahren, ihre Familie und ihre Glaubensgemeinschaft zu verlassen, entscheiden sich dagegen andere voller Hoffnung, in ihrem Land und in ihrer Gemeinde zu bleiben. Ich ermutige sie, diese edle Treue zu bewahren und fest im Glauben zu verharren. Wieder andere Katholiken schließlich treffen eine ebenso einschneidende Entscheidung wie die Katholiken im Nahen Osten, die emigrieren: In der Hoffnung, eine bessere Zukunft aufzubauen, fliehen sie aus unsicheren Situationen und wählen die Länder der Region, um dort zu arbeiten und zu leben. 36. Als Hirte der universalen Kirche wende ich mich hier an die Gesamtheit der katholischen Gläubigen der Region, die einheimischen und die neu hinzugekommenen, deren Anteile sich in diesen letzten Jahren einander angenähert haben, denn für Gott gibt es nur ein einziges Volk und für die Gläubigen nur einen einzigen Glauben! Versucht, in gegenseitiger Achtung geeint und in geschwisterlicher Gemeinschaft miteinander zu leben, in gegenseitiger Liebe und Wertschätzung, um euren Glauben an Christi Tod und Auferstehung glaubwürdig zu bezeugen! Gott wird euer Gebet erhören, euer Verhalten segnen und euch seinen Geist schenken, um die Last des Tages zu tragen. Denn "wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit" (2 Kor 3,17). Der heilige Petrus schrieb an Gläubige, die ähnliche Situationen erlebten, Worte, die ich gerne aufgreife, um sie als Aufruf an euch zu richten: "Und wer wird euch Böses zufügen, wenn ihr euch voll Eifer um das Gute bemüht? … Fürchtet euch nicht vor ihnen und laßt euch nicht erschrecken, sondern haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt" (1 Petr 3,13 - 15). ZWEITER TEIL "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32) 37. Die Sichtbarkeit der christlichen Urgemeinde wird mit immateriellen Eigenschaften beschrieben, welche die kirchliche koinonia zum Ausdruck bringen – ein Herz und eine Seele – und so den tiefen Sinn des Zeugnisses übersetzen. Es ist der Widerschein einer persönlichen und gemeinschaftlichen Innerlichkeit. Wenn sie sich von innen her von der göttlichen Gnade formen läßt, kann jede Teilkirche die Schönheit der ersten Gemeinde der Glaubenden wiederfinden, die von einem Glauben gefestigt wird, der von jener Liebe beseelt ist, die die Jünger Christi vor den Augen der Menschen kennzeichnet (vgl. Joh 13,35). Die koinonia verleiht dem Zeugnis Bestand und Kohärenz und erfordert eine ständige Umkehr. Diese macht die Gemeinschaft vollkommen und festigt ihrerseits das Zeugnis. "Ohne Gemeinschaft gibt es kein Zeugnis: das große Zeugnis ist gerade das Gemeinschaftsleben."(Anmerkung 31: Vgl. BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe zur Eröffnung der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [10. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 805.) Die Gemeinschaft ist eine Gabe, die von allen ganz anzunehmen ist, und eine Wirklichkeit, die unermüdlich aufgebaut werden muß. In diesem Sinne lade ich alle Glieder der Kirchen im Nahen Osten ein, entsprechend der je eigenen Berufung die Gemeinschaft in Demut und durch das Gebet neu zu beleben, damit sich die Einheit verwirklicht, um die Jesus gebetet hat (vgl. Joh 17,21). 38. Der Begriff der "katholischen" Kirche sieht die Gemeinschaft zwischen dem Universalen und dem Partikularen vor. Es besteht hier die Beziehung eines "wechselseitigen Ineinanders" der Gesamtkirche mit den Teilkirchen, welche die Katholizität der Kirche kennzeichnet und konkretisiert. Die Gegenwart "des Ganzen im Teil" setzt den Teil in eine Spannung zur Universalität. Diese Spannung zeigt sich – einerseits – im missionarischen Geist jeder der Kirchen und – andererseits – in der aufrichtigen Wertschätzung des Guten der "anderen Teile", die das Handeln in Einklang und Synergie mit ihnen einschließt. Die Gesamtkirche ist eine Wirklichkeit, die den Teilkirchen vorausgeht, und diese gehen in und aus der Gesamtkirche hervor.(Anmerkung 32: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als communio – Communionis notio [28. Mai 1992], 9, §§ 1 - 3: AAS 85 [1993], S. 843 - 844; vor allem Paragraph 1: "Daher 'kann die Gesamtkirche nicht als die Summe der Teilkirchen aufgefaßt werden und ebensowenig als Zusammenschluß von Teilkirchen'. Sie ist nicht das 'Ergebnis' von deren Gemeinschaft; sie ist vielmehr im Eigentlichen ihres Geheimnisses eine jeder einzelnen Teilkirche ontologisch und zeitlich vorausliegende Wirklichkeit.") Diese Wahrheit gibt treu die katholische Lehre wieder, insbesondere jene des Zweiten Vatikanischen Konzils.(Anmerkung 33: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 23.) Sie führt in das Verständnis der hierarchischen Dimension der Gemeinschaft der Kirche ein und ermöglicht der reichen und legitimen Vielfalt der Teilkirchen, sich stets in der Einheit auszudrücken, in der die besonderen Gaben zu einem echten Reichtum für die Universalität der Kirche werden. Sich dieser grundlegenden Aspekte der Ekklesiologie neu bewußt zu werden und sie zu leben macht es möglich, die Besonderheit und den Reichtum der katholischen Identität im Orient wiederzuentdecken. Die Patriarchen 39. Als "Väter und Häupter" der Kirchen sui iuris sind die Patriarchen die sichtbaren Bezugspunkte und die wachsamen Hüter der Gemeinschaft. Aufgrund ihrer besonderen Identität und Sendung sind sie Männer der Gemeinschaft, die über die Herde wachen, wie Gott es will (vgl. 1 Petr 5,1 - 4), und Diener der Einheit der Kirche. Sie üben ein Dienstamt aus, das durch die Liebe wirksam ist, die auf allen Ebenen wirklich gelebt wird: unter den Patriarchen selbst, zwischen dem Patriarchen und den Bischöfen, den Priestern, den gottgeweihten Personen und den gläubigen Laien unter ihrer Jurisdiktion. 40. Die Patriarchen, deren unverbrüchliche Einheit mit dem Bischof von Rom in der ecclesiastica communio gründet, um die sie den Obersten Hirten gebeten und die sie nach ihrer kanonischen Wahl erhalten haben, machen durch dieses besondere Band die Universalität und Einheit der Kirche greifbar.(Anmerkung 34: Vgl. Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Cann. 76 §§ 1 - 2 und 92 §§ 1 - 2.) Ihre Fürsorge gilt jedem Jünger Jesu Christi, der im Gebiet ihres Patriarchats lebt. Im Zeichen der Gemeinschaft werden sie um des Zeugnisses willen die Einheit und Solidarität innerhalb des Rates der katholischen Patriarchen des Ostens und der verschiedenen Patriarchalsynoden stärken. Dabei werden sie im Hinblick auf ein kollegiales und einheitliches Handeln in Fragen von großer Wichtigkeit für die Kirche stets vorrangig das Einvernehmen suchen. Für die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses wird der Patriarch nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Standhaftigkeit und Sanftmut streben (vgl. 1 Tim 6,11), einen schlichten Lebensstil nach dem Vorbild Christi beherzigen, der arm wurde, um uns durch seine Armut reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9). Ebenso wird er darauf achten, innerhalb der kirchlichen Gebiete durch eine vernünftige Personalführung und eine gute Verwaltung der Kirchengüter eine echte Solidarität zu fördern. Dies gehört zu seinen Pflichten.(Anmerkung 35: Vgl. ebd., Can. 97.) In der Nachfolge Jesu, der alle Städte und Dörfer besuchte, um seine Sendung zu erfüllen (vgl. Mt 9,35), wird der Patriarch mit Eifer die Pastoralvisitation in seinen kirchlichen Gebieten durchführen.(Anmerkung 36: Vgl. ebd., Can. 83 § 1.) Er wird dies nicht nur tun, um sein Aufsichtsrecht und seine Aufsichtspflicht auszuüben, sondern auch, um seine brüderliche und väterliche Liebe zu den Bischöfen, den Priestern und den gläubigen Laien, vor allem zu den Armen, Kranken und Ausgegrenzten wie auch zu denen, die seelisch leiden, konkret zu bezeugen. Die Bischöfe 41. Kraft seiner Weihe ist der Bischof zugleich Mitglied des Bischofskollegiums und – durch seinen Dienst des Lehrens, des Heiligens und des Leitens – Hirte einer Ortskirche. Mit den Patriarchen sind die Bischöfe die sichtbaren Zeichen der Einheit in der Vielfalt der Kirche, die als ein Leib verstanden wird, dessen Haupt Christus ist (vgl. Eph 4,12 - 15). Sie sind die ersten, die aus Gnade erwählt und zu allen Völkern gesandt werden, um sie zu Jüngern zu machen und sie zu lehren, alles zu befolgen, was der Auferstandene ihnen geboten hat (vgl. Mt 28,19 - 20).(Anmerkung 37: Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores gregis [16. Oktober 2003], 26: AAS 96 [2004], S. 859 - 860.) Es ist daher von entscheidender Wichtigkeit, daß sie das Wort Gottes hören und in ihrem Herzen bewahren. Sie müssen es mutig verkünden und in den schwierigen Situationen, an denen es im Nahen Osten leider nicht fehlt, den Glauben in seiner Gesamtheit und Einheit mit Entschiedenheit verteidigen. 42. Um das Leben in einem Geist der Gemeinschaft und der diakonia zu fördern, ist es wichtig, daß die Bischöfe immer an ihrer persönlichen Erneuerung arbeiten. Diese Wachsamkeit des Herzens verwirklicht sich "vor allem durch ein Leben des Gebets, der Entsagung, des Opfers und des Zuhörens; dann durch ein vorbildliches Leben als Apostel und Hirten in Einfachheit, Armut und Demut und schließlich durch die beständige Sorge, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die guten Sitten und die Anliegen der Armen zu verteidigen.“(Anmerkung 38: DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 60: AAS 89 [1997], S. 364.) Außerdem erfolgt die so sehr gewünschte Erneuerung der Gemeinden durch die väterliche Sorge, die sie für alle Getauften und insbesondere für ihre unmittelbaren Mitarbeiter, die Priester, hegen sollen.(Anmerkung 39: Vgl. Propositio 22.) 43. Die Gemeinschaft innerhalb einer jeden Ortskirche ist das erste Fundament der Gemeinschaft zwischen den Kirchen, die sich stets vom Wort Gottes und von den Sakramenten wie auch von anderen Formen des Gebets nährt. Daher lade ich die Bischöfe ein, ihre Fürsorge allen Christgläubigen in ihrem Jurisdiktionsbereich, gleich welchen Standes, welcher Nationalität und kirchlicher Herkunft, zu erweisen. Sie sollen für die ihnen anvertraute Herde Gottes sorgen und über sie wachen und dabei "nicht Beherrscher [ihrer] Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde" (1 Petr 5,3) sein. Sie mögen denen besondere Aufmerksamkeit widmen, die in ihrer religiösen Praxis unbeständig sind oder die diese aus verschiedenen Gründen aufgegeben haben.(Anmerkung 40: Vgl. Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Can. 192 § 1.) Es soll ihnen auch am Herzen liegen, die liebende Gegenwart Christi unter jenen Menschen zu sein, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen. So werden sie die Einheit unter den Christen selbst und die Solidarität zwischen allen Menschen fördern können, die nach dem Abbild Gottes geschaffen sind (vgl. Gen 1,27), denn alles stammt vom Vater und wir leben auf ihn hin (vgl. 1 Kor 8,6). 44. Den Bischöfen obliegt es, eine gute, ehrliche und transparente Verwaltung der kirchlichen Güter zu gewährleisten, in Übereinstimmung mit dem Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen oder dem Codex des kanonischen Rechts der lateinischen Kirche. Die Synodenväter hielten es für notwendig, daß eine zuverlässige Auflistung der Finanzen und der Güter gemacht wird in dem Bestreben, eine Verwechslung von persönlichen Gütern und Gütern der Kirche zu vermeiden.(Anmerkung 41: Vgl. Propositio 7.) Der Apostel Paulus sagt, daß der Diener Gottes ein Verwalter von Geheimnissen Gottes ist. "Von Verwaltern aber verlangt man, daß sie sich treu erweisen" (1 Kor 4,2). Ein Verwalter trägt Sorge für Güter, die nicht ihm gehören und die, gemäß dem Apostel, zu einer höheren Verwendung bestimmt sind, nämlich für die Geheimnisse Gottes (vgl. Mt 19,28 - 30; 1 Petr 4,10). Diese treue und uneigennützige Verwaltung, wie sie die Gründermönche – wahre Säulen vieler orientalischer Kirchen – gewollt haben, muß vorrangig der Evangelisierung und der Nächstenliebe dienen. Die Bischöfe werden dafür sorgen, den Priestern, ihren ersten Mitarbeitern, einen gerechten Unterhalt zu gewährleisten, damit sie nicht in der Suche nach weltlichen Dingen aufgehen, sondern sich der Sache Gottes und ihrer seelsorglichen Sendung mit Würde widmen können. Und außerdem: Wer einem Armen hilft, verdient sich den Himmel! Der heilige Jakobus betont die dem Armen geschuldete Achtung, seine Größe und seinen wahren Platz in der Gemeinschaft (vgl. 1,9 - 11; 2,1 - 9). Daher ist es notwendig, daß die Verwaltung der Güter zu einer Grundlage wirksamer Verkündigung der befreienden Botschaft Jesu wird: "Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe" (Lk 4,18 - 19). Der treue Verwalter ist derjenige, der verstanden hat, daß nur der Herr die kostbare Perle (vgl. Mt 13,45 - 46) und nur er der wahre Schatz ist (vgl. Mt 6,19 - 21; 13,44). Mögen die Bischöfe das den Priestern, den Seminaristen und den Gläubigen auf vorbildliche Weise vor Augen führen! Im übrigen muß die Veräußerung von Kirchengütern unbedingt den kanonischen Normen und den geltenden päpstlichen Anordnungen entsprechen. Die Priester, die Diakone und die Seminaristen 45. Durch die Priesterweihe wird der Priester Christus gleichförmig und zu einem engen Mitarbeiter des Patriarchen und des Bischofs gemacht, an deren dreifachem munus er Anteil erhält.(Anmerkung 42: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum ordinis, 4 - 6.) Aufgrund dieser Tatsache ist er Diener der Gemeinschaft; und die Erfüllung dieser Aufgabe erfordert seine beständige Verbundenheit mit Christus sowie seinen Eifer in der Nächstenliebe und den Werken der Barmherzigkeit gegenüber allen. So wird er die Heiligkeit ausstrahlen können, zu der alle Getauften berufen sind. Er soll das Volk Gottes dazu erziehen, eine Kultur der Liebe, wie sie das Evangelium lehrt, und eine Kultur der Einheit aufzubauen. Daher wird er das Leben der Gläubigen durch die kluge Weitergabe des Wortes Gottes, der Überlieferung und der Lehre der Kirche sowie durch die Sakramente erneuern und stärken.(Anmerkung 43: Vgl. Schlußbotschaft [22 Oktober 2010], 4.3: L’Osservatore Romano [dt.], Jg. 40 [2010], Nr. 44 [5. November 2010], S. 14.) Die östlichen Traditionen hatten ein Gespür für die geistliche Begleitung. Mögen die Priester, die Diakone und die Gottgeweihten selber diese Führung geben und durch sie den Gläubigen die Wege zur Ewigkeit eröffnen. 46. Ferner verlangt das Zeugnis der Gemeinschaft eine theologische Bildung und eine gediegene Spiritualität, die eine ständige intellektuelle und geistliche Erneuerung erfordern. Es ist Aufgabe der Bischöfe, die Priester und Diakone mit den nötigen Mitteln auszustatten, um es ihnen zu ermöglichen, ihr Glaubensleben zum Wohl der Gläubigen zu vertiefen, damit sie ihnen "Speise zur rechten Zeit" geben können (Ps 145,15). Überdies erwarten die Gläubigen von ihnen das Beispiel eines tadellosen Lebenswandels (vgl. Phil 2,14 - 16). 47. Ich lade euch ein, liebe Priester, jeden Tag die ontologische Bedeutung der heiligen Weihe neu zu entdecken, die dazu drängt, das Priestertum als eine Quelle der Heiligung für die Getauften und zur Förderung des ganzen Menschen zu leben. "Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes ... nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung" (1 Petr 5,2). Hegt auch für das Leben in Gemeinschaft Wertschätzung – dort, wo es möglich ist – trotz der Schwierigkeiten, die damit verbunden sind (vgl. 1 Petr 4,8 - 10), weil es euch hilft, das priesterliche und seelsorgliche Miteinander auf lokaler und universaler Ebene zu erlernen und besser zu leben. Liebe Diakone, dient in Gemeinschaft mit eurem Bischof und den Priestern dem Volk Gottes gemäß dem eigenen Amt und den spezifischen Aufgaben, die euch anvertraut werden. 48. Der priesterliche Zölibat ist eine unschätzbare Gabe Gottes an seine Kirche, die sowohl im Osten wie im Westen mit Dankbarkeit aufgenommen werden soll, weil sie ein prophetisches Zeichen darstellt, das immer aktuell ist. Bedenken wir zudem den Dienst der verheirateten Priester, die ein alter Bestandteil der östlichen Traditionen sind. Ich möchte auch diesen Priester Mut machen, die mit ihren Familien in der treuen Ausübung ihres Dienstes und in ihren mitunter schwierigen Lebensbedingungen zur Heiligkeit gerufen sind. Euch allen sage ich noch einmal, daß die Schönheit eures priesterlichen Lebens(Anmerkung 44: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum ordinis, 11) zweifellos neue Berufungen erwecken wird, deren Pflege euch obliegt. 49. Die Berufung des jungen Samuel (vgl. 1 Sam 3,1 - 19) lehrt, daß die Menschen kluge Führungspersönlichkeiten brauchen, die ihnen helfen, den Willen des Herrn zu erkennen und seinem Ruf großherzig zu folgen. In diesem Sinn muß das Gedeihen von Berufungen durch eine eigene Pastoral gefördert werden. Diese muß durch das Gebet in der Familie, in der Pfarrei, in den kirchlichen Bewegungen und in den Bildungseinrichtungen unterstützt werden. Jene Menschen, die auf den Ruf des Herrn antworten, müssen in besonderen Ausbildungsstätten reifen und durch geeignete und vorbildliche Ausbilder begleitet werden. Diese sollen sie zum Gebet, zur Gemeinschaft, zum Zeugnis und zum missionarischen Bewußtsein erziehen. Geeignete Programme sollen auf die verschiedenen Aspekte des menschlichen, geistlichen, intellektuellen und pastoralen Lebens eingehen und mit den unterschiedlichen Umfeldern, Herkünften, kulturellen und kirchlichen Zugehörigkeiten klug umgehen.(Anmerkung 45: Vgl. KONGREGATION FÜR DAS KATHOLISCHE BILDUNGSWESEN, Ratio fundamentalis institutionis sacerdotalis [19. März 1985], 5 - 10.) 50. Liebe Seminaristen, wie das Schilfrohr ohne Wasser nicht wachsen kann (vgl. Ijob 8,11), so könnt auch ihr keine wahren Gemeinschaftsstifter und echte Glaubenszeugen werden, ohne tief in Jesus Christus verwurzelt zu sein, ohne beständige Hinwendung zu seinem Wort, ohne Liebe zu seiner Kirche und ohne selbstlose Liebe zum Nächsten. In der heutigen Zeit seid ihr gerufen, die Gemeinschaft im Blick auf ein mutiges ungetrübtes Zeugnis zu leben und zu vervollkommnen. Die Stärkung des Glaubens des Gottesvolkes wird auch von der Qualität eures Zeugnisses abhängen. Ich lade euch ein, euch im Hinblick auf eure zukünftige Sendung noch mehr für die kulturelle Vielfalt eurer Kirchen zu öffnen, zum Beispiel durch das Erlernen anderer Sprachen und das Kennenlernen anderer Kulturen. Seid auch offen für die kirchliche und ökumenische Vielfalt sowie für den interreligiösen Dialog. Ein aufmerksames Studium meines Briefes an die Seminaristen wird euch von großem Nutzen sein.(Anmerkung 46: Vgl. Brief an die Seminaristen (18. Oktober 2010): AAS 102 [2010], S. 793 - 798.) Das gottgeweihte Leben 51. Das Mönchtum in seinen verschiedenen Formen entstand im Nahen Osten und steht am Anfang einiger Kirchen, die sich dort befinden.(Anmerkung 47: Vgl. JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Orientale Lumen [2. Mai 1995]: AAS 87 [1995], S. 745 - 774.) Die Mönche und die Nonnen, die ihr Leben dem Gebet weihen, indem sie die Stunden des Tages und der Nacht heiligen und die Sorgen und Nöte der Kirche und der Menschheit in ihr Gebet hineinnehmen, mögen für alle eine beständige Erinnerung an die Bedeutung des Gebets im Leben der Kirche und eines jeden Gläubigen sein. Mögen die Klöster auch Orte sein, an denen die Gläubigen eine Einführung in das Gebet erhalten können. 52. Das gottgeweihte Leben – sei es kontemplativ oder apostolisch – ist eine Vertiefung der Taufweihe. Die Ordensleute streben nämlich danach, durch die Profeß der evangelischen Räte des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut Christus radikaler nachzufolgen.(Anmerkung 48: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 44; Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis, 5; JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Vita consecrata [25. März 1996], 14.30: AAS 88 [1996], S. 387 - 388.403 - 404.) Die vorbehaltlose Gabe ihrer selbst an den Herrn und ihre selbstlose Liebe zu allen Menschen geben Zeugnis von Gott und sind wirkliche Zeichen seiner Liebe zur Welt. Gelebt als eine kostbare Gabe des Heiligen Geistes, ist das gottgeweihte Leben eine unersetzliche Stütze für das Leben und die Seelsorge der Kirche.(Anmerkung 49: Vgl. Propositio 26.) In diesem Sinne werden die Ordensgemeinschaften prophetische Zeichen von Gemeinschaft in ihren Kirchen und in der ganzen Welt sein, wenn sie wirklich auf das Wort Gottes, die brüderliche Gemeinschaft und das Zeugnis des Dienstes gründen (vgl. Apg 2,42). Im zönobitischen Leben ist die Gemeinschaft oder das Kloster berufen, der bevorzugte Ort der Vereinigung mit Gott und der Gemeinschaft mit dem Nächsten zu sein. Es ist der Ort, an dem die gottgeweihte Person lernt, immer neu von Christus her zu beginnen(Anmerkung 50: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE INSTITUTE DES GEWEIHTEN LEBENS UND DIE GESELLSCHAFTEN DES APOSTOLISCHEN LEBENS, Neubeginn in Christus. Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im dritten Jahrtausend [19. Mai 2002]: Enchiridion Vaticanum 21, Nrn. 372 - 510), um ihrer Sendung im Gebet und in der Sammlung treu zu sein und um für alle Gläubigen ein Zeichen des ewigen Lebens zu sein, das schon hier auf Erden begonnen hat (vgl. 1 Petr 4,7). 53. Euch alle, die ihr im Nahen Osten zur Nachfolge Christi im Ordensleben gerufen seid, lade ich ein, euch stets wie der Prophet Jeremia vom Wort Gottes betören zu lassen und es in eurem Herzen wie ein verzehrendes Feuer zu hüten (vgl. Jer 20,7 - 9). Es ist der Seinsgrund, das Fundament und der letzte und objektive Bezugspunkt eurer Weihe. Das Wort Gottes ist Wahrheit. Indem ihr ihm gehorcht, heiligt ihr eure Seelen, um einander aufrichtig als Brüder und Schwestern zu lieben (vgl. 1 Petr 1,22). Welchen kanonischen Status auch immer euer Institut hat, seid bereit, im Geist der Gemeinschaft mit dem Bischof am seelsorglichen und missionarischen Wirken mitzuarbeiten. Das Ordensleben ist ein persönliches Verbundensein mit Christus, dem Haupt des Leibes (vgl. Kol 1,18; Eph 4,15), und spiegelt das unauflösliche Band zwischen Christus und seiner Kirche wider. Unterstützt daher in diesem Sinn die Familien in ihrer christlichen Berufung und ermutigt die Pfarreien, für die verschiedenen Priester- und Ordensberufungen offen zu sein. Dies trägt dazu bei, innerhalb der Ortskirche das Gemeinschaftsleben für das Zeugnis zu stärken.(Anmerkung 51: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE ORDENSLEUTE UND SÄKULARINSTITUTE / KONGREGATION FÜR DIE BISCHÖFE, Leitlinien für die gegenseitigen Beziehungen zwischen Bischöfen und Ordensleuten in der Kirche Mutuae relationes [19. Mai 1978], 52 - 65: AAS 70 [1978], S. 500 - 505. Zur Stellung der Mönche in den katholischen Ostkirchen siehe Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen, Cann. 410 - 572.) Werdet nicht müde, auf die Anfragen der Männer und Frauen unserer Zeit zu antworten, indem ihr ihnen den Weg und den tiefen Sinn des Menschseins zeigt. 54. Ich möchte eine zusätzliche Erwägung hinzufügen, die sich nicht nur an die Gottgeweihten richtet, sondern an alle Glieder der katholischen Ostkirchen. Sie betrifft die evangelischen Räte, die besonders das monastische Leben kennzeichnen. Bekanntlich war gerade das Ordensleben am Anfang zahlreicher Kirchen sui iuris maßgeblich und ist es in ihrem gegenwärtigen Leben weiterhin. Mir scheint, es wäre angebracht, ausführlich und sorgfältig über die evangelischen Räte – den Gehorsam, die Keuschheit und die Armut – nachzudenken, um ihre Schönheit, die Kraft ihres Zeugnisses und ihre seelsorgliche Dimension heute wiederzuentdecken. Eine innere Erneuerung des Gläubigen, der Gemeinde der Glaubenden und der ganzen Kirche kann es nur geben, wenn es – gemäß der jeweiligen Berufung – eine entschlossene und unmißverständliche Rückkehr zum quaerere Deum, zur Suche nach Gott, gibt, die hilft, die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst zu bestimmen und in Wahrheit zu leben. Dies betrifft gewiß die Kirchen sui iuris, aber auch die lateinische Kirche. Die Laien 55. Durch die Taufe sind die gläubigen Laien volle Glieder des Leibes Christi und haben teil an der Sendung der universalen Kirche.(Anmerkung 52: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 30 - 38; Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem, 3; JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici [30. Dezember 1988]: AAS 81 [1989], S. 393 - 521.) Ihre Teilnahme am Leben und am inneren Wirken der Kirche ist die beständige geistliche Quelle, die es ihnen ermöglicht, über die Grenzen der kirchlichen Strukturen hinauszugehen. Als Apostel in der Welt übersetzen sie das Evangelium, die Glaubens- und die Soziallehre der Kirche in konkrete Taten.(Anmerkung 53: Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 45.103: AAS 89 [1997], S. 350 - 352.400; Propositio 24.) Die Christen können und müssen nämlich "als vollberechtigte Bürger im Geist der Seligpreisungen ihren Beitrag leisten und so Erbauer des Friedens und Apostel der Versöhnung zum Wohl der ganzen Gesellschaft werden."(Anmerkung 54: BENEDIKT XVI., Predigt in der Eucharistiefeier zum Abschluß der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten [24. Oktober 2010]: AAS 102 [2010], S. 814.) 56. Da der euch eigene Bereich der weltliche ist(Anmerkung 55: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 31), ermutige ich euch, liebe gläubige Laien, die Bande der Brüderlichkeit und der Zusammenarbeit mit den Menschen guten Willens zu stärken für das Streben nach dem Gemeinwohl, für die gute Verwaltung der öffentlichen Güter, die Religionsfreiheit und die Achtung der Würde jedes Menschen. Auch wenn die Sendung der Kirche in einer Umgebung, in der die ausdrückliche Verkündigung des Evangeliums auf Hindernisse stößt oder nicht möglich ist, schwierig geworden ist, so führt unter den Völkern "ein rechtschaffenes Leben, damit sie durch eure guten Taten zur Einsicht kommen und Gott preisen am Tag der Heimsuchung" (1 Petr 2,12). Laßt es euch ein Herzensanliegen sein, durch die Kohärenz eures Lebens und eures täglichen Handelns für euren Glauben Rede und Antwort zu stehen (vgl. 1 Petr 3,15).(Anmerkung 56: Vgl. Propositio 30.) Damit euer Zeugnis wirklich Frucht bringt (vgl. Mt 7,16.20), rufe ich euch auf, die Spaltungen und alle subjektivistischen Interpretationen des christlichen Lebens zu überwinden. Seid darauf bedacht, das christliche Leben – mit seinen Werten und Anforderungen – nicht vom Leben in der Familie oder in der Gesellschaft, bei der Arbeit, in der Politik und in der Kultur zu trennen, weil alle verschiedenen Bereiche im Leben des Laien in den Plan Gottes hineingenommen sind.(Anmerkung 57: Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici [30. Dezember 1988], 57 - 63: AAS 81 [1989], S. 506 - 518.) Ich lade euch ein, um Christi willen wagemutig zu sein in der Gewißheit, daß weder Bedrängnis, noch Not, noch Verfolgung euch von ihm scheiden können (vgl. Röm 8,35). 57. Im Nahen Osten sind die Laien gewohnt, regelmäßige brüderliche Beziehungen mit den katholischen Gläubigen der verschiedenen Patriarchatskirchen oder mit der lateinischen Kirche zu pflegen und ihre Gotteshäuser zu besuchen, besonders wenn keine andere Möglichkeit besteht. Zu dieser bewundernswerten Wirklichkeit, die eine authentisch gelebte Gemeinschaft zeigt, kommt die Tatsache hinzu, daß sich die verschiedenen kirchlichen Jurisdiktionen auf fruchtbare Weise innerhalb desselben Territoriums überschneiden. In dieser Hinsicht ist die Kirche im Nahen Osten beispielhaft für die anderen Ortskirchen der restlichen Welt. Der Nahe Osten ist so gewissermaßen ein Labor, das schon die Zukunft der kirchlichen Situation vorwegnimmt. Diese Beispielhaftigkeit, die danach verlangt, vervollkommnet und unentwegt gereinigt zu werden, betrifft ebenso die vor Ort erworbene Erfahrung auf dem Gebiet der Ökumene. Die Familie 58. Die Familie ist als auf die Ehe gründete göttliche Institution, wie sie vom Schöpfer selbst gewollt wurde (vgl. Gen 2,18-24; Mt 19,5), heute einigen Gefahren ausgesetzt. Besonders die christliche Familie ist mehr denn je mit der Frage nach ihrer eigentlichen Identität konfrontiert. Denn die Wesenseigenschaften der sakramentalen Ehe – Einheit und Unauflöslichkeit (vgl. Mt 19,6) – und das christliche Modell von Familie, Sexualität und Liebe werden in unseren Tagen von manchen Gläubigen, wenn nicht bestritten, so doch zumindest nicht verstanden. Es gibt die Versuchung, sich Modelle anzueignen, die dem Evangelium widersprechen, doch durch eine gewisse, auf der ganzen Welt verbreitete, zeitgenössische Kultur vermittelt werden. Die eheliche Liebe ist in den endgültigen Bund zwischen Gott und seinem Volk eingefügt, der im Kreuzesopfer vollständig besiegelt wurde. Ihr Merkmal der gegenseitigen Selbsthingabe bis zum Martyrium wird in manchen Ostkirchen deutlich, wo während der Hochzeitsfeier, die mit Fug und Recht "Feier der Krönung" genannt wird, jeder der Verlobten den anderen als "Krone" empfängt. Die eheliche Liebe ist nicht das Werk eines Augenblicks, sondern das geduldige Projekt eines ganzen Lebens. Die christliche Familie, die aufgerufen ist, täglich die Liebe in Christus zu leben, ist ein bevorzugtes Instrument der Gegenwart und der Sendung der Kirche in der Welt. In dieser Hinsicht braucht sie seelsorgliche Begleitung(Anmerkung 58: Vgl. DERS., Apostolisches Schreiben über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute Familiaris consortio [22. November 1981]: AAS 74 [1982], S. 81 - 191; HEILIGER STUHL, Charta der Familienrechte [22. Oktober 1983], Vatikanstadt 1983; JOHANNES PAUL II., Brief an die Familien [2. Februar 1994]: AAS 86 [1994], S. 868 - 925; PÄPSTLICHER RAT FÜR GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nrn. 209 - 254) und Unterstützung in ihren Problemen und Schwierigkeiten, besonders dort, wo die gesellschaftlichen, familiären und religiösen Bezugspunkte im Begriff sind, schwächer zu werden oder verloren zu gehen.(Anmerkung 59: Vgl. Propositio 35.) 59. Ihr christlichen Familien im Nahen Osten, ich lade euch ein, euch immer durch die Kraft des Wortes Gottes und der Sakramente zu erneuern, um noch mehr Hauskirche zu sein, die zum Gebet und zum Glauben erzieht, wie auch Pflanzstätte von Berufungen, natürliche Schule der Tugenden und der sittlichen Werte, lebendige Grundzelle der Gesellschaft. Betrachtet stets die Familie von Nazareth(Anmerkung 60: Vgl. BENEDIKT XVI., Homilie in der Messe auf dem "Mount Precipice", Nazareth [14. Mai 2009]: AAS 101 [2009], S. 478 - 482), welche die Freude hatte, das Leben zu empfangen und ihre Frömmigkeit durch die Einhaltung des Gesetzes und der religiösen Bräuche ihrer Zeit auszudrücken (vgl. Lk 2,22 - 24.41). Schaut auf diese Familie, die auch die Prüfung des Verlusts des jungen Jesus, den Schmerz der Verfolgung und der Auswanderung sowie die harte Alltagsarbeit erlebt hat (vgl. Mt 2,13 ff.; Lk 2,41 ff.) Helft euren Kindern, im Heranwachsen an Weisheit und Gnade zuzunehmen vor Gott und den Menschen (vgl. Lk 2,52); lehrt sie, Gottvater zu vertrauen, Christus nachzuahmen und sich vom Heiligen Geist führen zu lassen. 60. Nach diesen Überlegungen über die gemeinsame Würde und Berufung von Mann und Frau in der Ehe gehen meine Gedanken mit besonderer Aufmerksamkeit zu den Frauen im Nahen Osten. Der erste Schöpfungsbericht zeigt die ontologische Gleichheit von Mann und Frau (vgl. Gen 1,27 - 29). Diese Gleichheit ist durch die Folgen der Sünde verletzt (vgl. Gen 3,16; Mt 19,4). Dieses Erbe, das Frucht der Sünde ist, zu überwinden, ist für jeden Menschen, Mann oder Frau, eine Pflicht.(Anmerkung 61: Vgl. JOHANNES PAUL II., Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem [15. August 1988], 10: AAS 80 [1988], S. 1676 - 1677.) Ich möchte allen Frauen versichern, daß die katholische Kirche in Treue zum göttlichen Plan die persönliche Würde der Frau und ihre Gleichheit mit dem Mann fördert angesichts der verschiedensten Formen von Diskriminierung, denen sie aufgrund der Tatsache ihres Frauseins unterworfen sind.(Anmerkung 62: Vgl. DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici [30. Dezember 1988], 49: AAS 81 [1989], S. 487.) Ein derartiges Handeln verwundet das Leben der Gemeinschaft und des Zeugnisses. Es verletzt nicht nur die Frau schwer, sondern auch und vor allem Gott, den Schöpfer. In Anerkennung ihrer natürlichen Feinfühligkeit für die Liebe und den Schutz des menschlichen Lebens und in Wertschätzung ihres spezifischen Beitrags in der Erziehung, der Gesundheit, der humanitären Arbeit und des apostolischen Lebens bin ich der Ansicht, daß die Frauen sich für das öffentliche und kirchliche Leben stärker einsetzen und darin noch mehr einbezogen werden sollen.(Anmerkung 63: Vgl. DERS., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban [10. Mai 1997], 50: AAS 89 [1997], S. 355; Schlußbotschaft [22. Oktober 2010], 4.4: L’Osservatore Romano [dt.], Jg. 40 [2010], Nr. 44 [5. November 2010], S. 14; vgl. Propositio 27.) So werden sie ihren eigenen Beitrag zum Aufbau einer brüderlicheren Gesellschaft und einer durch die wirkliche Gemeinschaft der Getauften noch schöneren Kirche leisten. 61. Ferner muß bei Rechtsstreitigkeiten, in denen sich Mann und Frau, vor allem in Ehefragen, leider gegenüberstehen, die Stimme der Frau gleich der des Mannes voll Respekt gehört und berücksichtigt werden, damit gewisse Ungerechtigkeiten ein Ende finden. In diesem Sinn muß eine bessere und gerechtere Anwendung des Kirchenrechts angeregt werden. Die Gerechtigkeit der Kirche muß auf allen Ebenen und in allen Bereichen, die sie berührt, vorbildlich sein. Man muß unbedingt darauf achten, daß Rechtsstreitigkeiten in Ehefragen nicht zum Glaubensabfall führen. Außerdem müssen die Christen in den Ländern der Region die Möglichkeit haben, im Bereich der Ehe und in anderen Bereichen ihr Recht ohne Einschränkung anwenden zu können. Die Jugendlichen und die Kinder 62. Mit väterlicher Sorge grüße ich alle Kinder und Jugendlichen der Kirche im Nahen Osten. Ich denke an die Jugendlichen auf der Suche nach einem bleibenden menschlichen und christlichen Sinn ihres Lebens. Ich vergesse auch jene nicht, für die die Jugendzeit mit einer zunehmenden Entfernung von der Kirche einhergeht, was durch ein Aufgeben der religiösen Praxis zum Ausdruck kommt. 63. Ich lade euch, liebe Jugendliche, ein, durch die Kraft des Gebets ständig die wahre Freundschaft mit Jesus zu pflegen (vgl. Joh 15,13 - 15). Je fester sie ist, desto mehr wird sie euch als Leuchtturm dienen und euch vor Verwirrungen des Jugendalters schützen (vgl. Ps 25,7). Das persönliche Gebet wird durch den regelmäßigen Empfang der Sakramente stärker, die eine echte Begegnung mit Gott und mit den Brüdern in der Kirche ermöglichen. Fürchtet oder schämt euch nicht, die Freundschaft mit Jesus im Kreis der Familie und in der Öffentlichkeit zu bezeugen. Macht es immer im Respekt vor Andersgläubigen, Juden und Muslimen, mit denen ihr den Glauben an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und auch die großen menschlichen und spirituellen Ideale teilt. Fürchtet oder schämt euch nicht, Christen zu sein. Die Beziehung zu Jesus wird euch die innere Bereitschaft zu einer vorbehaltlosen Zusammenarbeit mit euren Mitbürgern schenken, welcher Religion sie auch angehören, um die Zukunft eurer Länder auf die Menschenwürde zu bauen, die Quelle und das Fundament der Freiheit, der Gleichheit und des Friedens in Gerechtigkeit. In der Liebe zu Christus und zu seiner Kirche könnt ihr in der heutigen Zeit die Werte, die für eure volle Verwirklichung nützlich sind, von den Übeln, die langsam euer Leben vergiften, klug unterscheiden. Gebt acht, euch nicht durch den Materialismus und durch gewisse soziale Netzwerke verführen zu lassen, deren wahlloser Gebrauch die wahre Natur der menschlichen Beziehungen beeinträchtigen könnte. Die Kirche im Nahen Osten rechnet sehr mit eurem Gebet, eurem Enthusiasmus, eurer Kreativität, eurem Können und eurem ganzen Einsatz im Dienst für Christus, für die Kirche, für die Gesellschaft und vor allem für eure Altersgenossen.(Anmerkung 64: Vgl. Propositio 36.) Zögert nicht, euch allen Initiativen anzuschließen, die euch helfen, euren Glauben zu stärken und dem besonderen Ruf, den der Herr an euch richtet, zu antworten. Zögert auch nicht, dem Ruf Christi zu folgen und das priesterliche, gottgeweihte oder missionarische Leben zu wählen. 64. Ist es nötig, liebe Kinder – ich richte mich jetzt an euch –, euch daran zu erinnern, daß ihr auf eurem Weg mit dem Herrn euren Eltern besondere Ehre schuldet (vgl. Ex 20,12; Dtn 5,16)? Sie sind eure Erzieher im Glauben. Gott hat euch ihnen anvertraut als eine unermeßliche Gabe für die Welt, damit sie für eure Gesundheit, eure menschliche und christliche Erziehung und für eure intellektuelle Bildung Sorge tragen. Die Eltern, die Erzieher und Ausbilder und die öffentlichen Einrichtungen haben ihrerseits die Pflicht, die Rechte der Kinder vom Augenblick der Empfängnis an zu respektieren.(Anmerkung 65: Vgl. Propositio 27.) Was euch betrifft, liebe Kinder, lernt schon jetzt den Gehorsam gegenüber Gott, indem ihr euren Eltern gehorcht, wie Jesus es als Kind getan hat (vgl. Lk 2,51). Lernt auch, in der Familie, in der Schule und überall als Christen zu leben. Der Herr vergißt euch nicht (vgl. Jes 49,15). Er geht immer an eurer Seite und möchte, daß ihr aufgeweckt, mutig und freundlich mit ihm geht (vgl. Tob 6,2). In allen Umständen lobt Gott, den Herrn, bittet ihn, eure Wege zu leiten und eure Pfade und eure Unternehmungen zum Ziel zu führen. Erinnert euch immer an seine Gebote und laßt sie euch nicht aus eurem Herzen reißen (vgl. Tob 4,19). 65. Ich möchte auch erneut auf die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen dringen, die von besonderer Bedeutung ist. Die christliche Familie ist der natürliche Ort der Entfaltung des Glaubens der Kinder und Jugendlichen, ihre erste Schule der Katechese. In diesen schwierigen Zeiten ist es nicht leicht, ein Kind oder einen Jugendlichen zu erziehen. Diese unersetzbare Aufgabe ist aufgrund der besonderen sozio-politischen und religiösen Situation, in der sich die Region befindet, noch komplexer geworden. Daher möchte ich den Eltern meine Unterstützung und mein Gebet versichern. Es ist wichtig, daß ein Kind in einer Familie aufwächst, die eins ist und ihren Glauben einfach und überzeugt lebt. Es ist für Kinder und Jugendliche wichtig, ihre Eltern beten zu sehen. Es ist wichtig, daß sie ihre Eltern zur Kirche begleiten und sehen und verstehen, daß sie Gott lieben und danach verlangen, ihn noch besser zu kennen. Es ist ebenfalls wichtig, daß Kinder und Jugendliche die Liebe ihrer Eltern gegenüber dem Nächsten, der wirklich in Not ist, sehen. So verstehen sie, daß es gut und schön ist, Gott zu lieben, und sie werden gerne in der Kirche sein und stolz darauf sein, weil sie von innen her verstanden und erfahren haben, wer der wahre Fels ist, auf den sie ihr Leben bauen (vgl. Mt 7,24 - 27; Lk 6,48). Den Kindern und Jugendlichen, die diese Chance nicht haben, wünsche ich, auf ihrem Weg echte Zeugen zu finden, die ihnen helfen, Christus zu begegnen und die Freude zu entdecken, sich in seine Nachfolge zu begeben. DRITTER TEIL "Wir … verkündigen Christus als den Gekreuzigten … Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Kor 1,23 - 24) 66. Das christliche Zeugnis, die erste Missionsform, gehört zur ursprünglichen Berufung der Kirche und wird in der Treue zu dem von Jesus, dem Herrn, empfangenen Auftrag erfüllt: "Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde" (Apg 1,8). Wenn sie Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündigt (vgl. Apg 2,23 - 24), wird die Kirche immer mehr das, was sie von ihrem Wesen und ihrer Berufung her schon ist: Sakrament der Gemeinschaft und der Versöhnung mit Gott und unter den Menschen.(Anmerkung 66: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 1.) Gemeinschaft und Zeugnis für Christus sind also die beiden Aspekte ein und derselben Wirklichkeit, denn das eine wie das andere schöpfen aus der gleichen Quelle, der Heiligen Dreifaltigkeit, und ruhen auf denselben Fundamenten: auf dem Wort Gottes und den Sakramenten. 67. Diese geben den anderen Gottesdiensthandlungen Nahrung und machen sie authentisch ebenso wie die Andachtsübungen der Volksfrömmigkeit. Die Stärkung des geistlichen Lebens läßt die Liebe wachsen und führt naturgemäß zum Zeugnis. Der Christ ist vor allem ein Zeuge. Und um den Ansprüchen unserer Zeitgenossen genügen zu können, verlangt das Zeugnis nicht nur eine christliche Bildung, die der Verständlichkeit der Glaubenswahrheiten angemessen ist, sondern auch die Kohärenz eines Lebens, das mit ebendiesem Glauben übereinstimmt. Das Wort Gottes, Seele und Quelle der Gemeinschaft und des Zeugnisses 68. "Sie hielten an der Lehre der Apostel fest" (Apg 2,42). Durch diese Aussage macht der heilige Lukas die erste Gemeinde zum Prototyp der apostolischen Kirche, d. h. der Kirche, die auf die von Christus erwählten Apostel und ihre Lehre gegründet ist. Die Hauptaufgabe der Kirche, die sie von Christus selber erhält, ist, das apostolische Glaubensgut, das Fundament ihrer Einheit, unversehrt zu bewahren (vgl. 1 Tim 6,20) und diesen Glauben der ganzen Welt zu verkünden. Die Lehre der Apostel hat die Beziehung der Kirche zu den Schriften des Ersten Bundes, die in der Person Jesu Christi ihre Erfüllung finden, deutlich dargestellt (vgl. Lk 24,44 - 53). 69. Wenn man das Geheimnis der Kirche als Gemeinschaft und Zeugnis im Licht dieser Schriften, des großen Buches des Bundes zwischen Gott und seinem Volk (vgl. Ex 24,7), meditiert, wird man zu der Erkenntnis Gottes als "Licht für den Pfad" (vgl. Ps 119,105) geführt, das den "Fuß nicht wanken" läßt (Ps 121,3).(Anmerkung 67: Vgl. BENEDIKT XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini [30. September 2010], 24: AAS 102 [2010], S. 704.) Mögen die Gläubigen, die Erben dieses Bundes, die Wahrheit immer in der gesamten Schrift suchen, die von Gott eingegeben ist (vgl. 2 Tim 3,16 - 17). Sie ist nicht Objekt historischen Interesses, sondern "Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte erfahren können“(Anmerkung 68: Ebd., Nr. 19: AAS 102 [2010], S. 701), in unserer menschlichen Geschichte. 70. Die exegetischen Schulen von Alexandrien, von Antiochien, von Edessa oder von Nisibis haben im 4. und 5. Jahrhundert stark zum Verständnis und zur dogmatischen Formulierung des christlichen Mysteriums beigetragen.(Anmerkung 69: Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.) Die ganze Kirche ist ihnen dafür dankbar. Die Anhänger der verschiedenen Strömungen der Textinterpretation einigten sich über traditionelle exegetische Grundsätze, die von den Kirchen des Ostens und des Westens gemeinhin anerkannt werden. Der wichtigste ist der Glaube, daß Jesus Christus die innere Einheit der beiden Testamente und folglich die Einheit von Gottes Heilsplan in der Geschichte verkörpert (vgl. Mt 5,17). Die Jünger haben erst nach der Auferstehung, als Jesus verherrlicht worden war (vgl. Joh 12,16), begonnen, diese Einheit zu begreifen. Danach kommt die Treue zu einer typologischen Lesart der Bibel, der zufolge gewisse Tatsachen des Alten Testaments eine Präfiguration (Typus und Bild) der Wirklichkeiten des Neuen Bundes in Jesus Christus sind; er ist der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Bibel (vgl. 1 Kor 15,22.45 - 47; Hebr 8,6 - 7). Die liturgischen und geistlichen Texte der Kirche bezeugen die Fortdauer dieser beiden Interpretationsprinzipien, die die kirchliche Feier des Wortes Gottes strukturieren und das christliche Zeugnis inspirieren. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dazu weiter klargestellt, daß man, um den richtigen Sinn der heiligen Texte zu entdecken, auf den Inhalt und auf die Einheit der ganzen Schrift achten muß, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens.(Anmerkung 70: Vgl. Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 12.) Aus der Sicht eines kirchlichen Zugangs zur Bibel wird eine individuelle wie auch eine in der Gruppe durchgeführte Lektüre des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens Verbum Domini sehr nützlich sein. 71. Die christliche Präsenz in den biblischen Ländern des Nahen Ostens ist weit mehr als eine soziologische Zugehörigkeit oder ein bloßer wirtschaftlicher und kultureller Erfolg. Wenn sie in der Nachfolge der ersten Jünger, die Jesus wählte, um sie als seine Gefährten bei sich zu haben und um sie zur Verkündigung auszusenden (vgl. Mk 3,14), den Elan des Ursprungs wiederfindet, wird die christliche Präsenz einen neuen Anlauf nehmen. Damit das Wort Gottes die Seele und das Fundament des christlichen Lebens sei, soll die Verbreitung der Bibel in den Familien die tägliche Lektüre und Meditation des Wortes Gottes (lectio divina) begünstigen. Es geht darum, in geeigneter Weise eine wirkliche biblische Pastoral einzurichten. 72. Die modernen Kommunikationsmittel können ein passendes Instrument zur Verkündigung des Wortes Gottes sein und seine Lektüre und Meditation fördern. Eine einfache und verständliche Erklärung der Bibel wird dazu beitragen, Vorurteile oder falsche Vorstellungen über sie, die nutzlose und beschämende Kontroversen schüren, gründlich zu zerstreuen.(Anmerkung 71: Vgl. Propositio 2.) In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, die notwendige Unterscheidung zwischen Inspiration und Offenbarung mit einzubeziehen, denn die nicht eindeutige Auffassung dieser beiden Begriffe in der Vorstellung vieler verfälscht ihr Verständnis der heiligen Texte, was für die Zukunft des interreligiösen Dialogs nicht ohne Auswirkung bleibt. Diese Mittel können auch für die Verbreitung der Lehre der Kirche hilfreich sein. 73. Damit diese Ziele erreicht werden, sollte man die bereits bestehenden Kommunikationsmittel unterstützen oder die Entwicklung neuer geeigneter Strukturen fördern. Die Ausbildung von Personal, das auf diesem nicht nur unter technischem, sondern auch unter dogmatischem und ethischem Aspekt neuralgischen Gebiet spezialisiert ist, wird immer dringlicher, besonders im Hinblick auf die Evangelisierung. 74. Doch gleich welcher Platz den eingesetzten sozialen Kommunikationsmitteln eingeräumt wird, dürfen sie nicht die Meditation des Wortes Gottes, seine Verinnerlichung und seine Anwendung im Hinblick auf die Beantwortung der Fragen der Gläubigen ersetzen. So wird in ihnen eine Vertrautheit mit der Schrift wachsen, sie werden nach Spiritualität suchen und sie vertiefen, und sie werden sich für das Apostolat und die Mission einsetzen.(Anmerkung 72: Vgl. ebd.) Entsprechend den pastoralen Bedingungen eines jeden Landes der Region könnte eventuell ein Jahr der Bibel ausgerufen und, wenn es angebracht erscheint, im Anschluß daran eine jährliche Bibelwoche durchgeführt werden.(Anmerkung 73: Vgl. Propositio 3.) Die Liturgie und das sakramentale Leben 75. Die ganze Geschichte hindurch ist die Liturgie für die Gläubigen des Nahen Ostens ein wesentliches Element geistlicher Einheit und der Gemeinschaft gewesen. Tatsächlich bezeugt die Liturgie in vorzüglicher Weise die Überlieferung der Apostel, die in den besonderen Traditionen der Kirchen des Ostens und des Westens fortgesetzt und entfaltet worden ist. Eine Erneuerung der liturgischen Texte und Feiern dort vorzunehmen, wo es nötig ist, könnte den Gläubigen erlauben, sich die Tradition sowie den biblischen und patristischen, theologischen und spirituellen Reichtum(Anmerkung 74: Vgl. Propositio 39) der Liturgien in der Erfahrung des Mysteriums, in das diese einführen, besser zu eigen zu machen. Eine solche Unternehmung muß natürlich so weit wie möglich in Zusammenarbeit mit den Kirchen durchgeführt werden, die nicht in voller Gemeinschaft stehen, aber gemeinsam Hüter derselben liturgischen Traditionen sind. Die erwünschte liturgische Erneuerung muß auf das Wort Gottes, auf die jeder Kirche eigene Tradition und auf die neuen christlichen Errungenschaften auf den Gebieten der Theologie und der Anthropologie gegründet sein. Sie wird Frucht bringen, wenn die Christen zu der Überzeugung kommen, daß das sakramentale Leben sie tief in das neue Leben in Christus einführt (vgl. Röm 6,1 - 6; 2 Kor 5,17), das die Quelle von Gemeinschaft und Zeugnis ist. 76. Ein wesentliches Band besteht zwischen der Liturgie, die Quelle und Höhepunkt des Lebens der Kirche ist und die Einheit des Episkopats wie der Weltkirche begründet, und dem Petrusdienst, der diese Einheit erhält. Die Liturgie drückt diese Wirklichkeit vor allem während der Eucharistie aus, die in Einheit nicht nur mit dem Bischof, sondern als erstes mit dem Papst, dem Episkopat, dem gesamten Klerus und mit dem ganzen Volk Gottes gefeiert wird. 77. Durch das Sakrament der Taufe, die im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit gespendet wird, treten wir in die Gemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ein und werden Christus gleichgestaltet, um ein neues Leben zu führen (vgl. Röm 6,11 - 14; Kol 2,12), ein Leben des Glaubens und der Umkehr (vgl. Mk 16,15 - 16; Apg 2,38). Die Taufe fügt uns auch in den Leib Christi, die Kirche, ein, die ein Keim und eine Vorwegnahme der in Christus versöhnten Menschheit ist (vgl. 2 Kor 5,19). Da sich die Getauften in Gemeinschaft mit Gott befinden, sind sie aufgerufen, hier und jetzt untereinander in geschwisterlicher Gemeinschaft zu leben und eine echte Solidarität mit den anderen Gliedern der Menschheitsfamilie zu entwickeln, ohne Diskriminierung z. B. aufgrund der Ethnie und der Religion. In diesem Zusammenhang sollte man dafür sorgen, daß die Vorbereitung der Jugendlichen und der Erwachsenen auf die Sakramente mit äußerster Gründlichkeit und über einen nicht zu kurzen Zeitraum hin geschieht. 78. Die katholische Kirche sieht in der gültig gespendeten Taufe "ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind".(Anmerkung 75:: ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 22.) Möge eine ökumenische Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Taufe zwischen der katholischen Kirche und den Kirchen, mit denen sie einen theologischen Dialog führt, unverzüglich zustande kommen, um in der Folge die volle Gemeinschaft im apostolischen Glauben wiederherstellen zu können! Die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft und des christlichen Zeugnisses im Nahen Osten hängt zum Teil davon ab. 79. Die Eucharistie, in der die Kirche das große Mysterium des Todes und der Auferstehung Jesu Christi für das Heil der vielen feiert, begründet die kirchliche Gemeinschaft und führt sie zur Vollendung. Der heilige Paulus hat das in wunderbarer Weise zu einem ekklesiologischen Grundsatz erhoben, indem er sagt: "Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot" (1 Kor 10,17). Da die Kirche Christi in ihrer Mission unter dem Drama der Spaltungen und der Trennungen leidet und nicht wünscht, daß die Zusammenkunft ihrer Glieder ihnen zum Gericht wird (vgl. 1 Kor 11,17 - 34), hofft sie inständig, daß der Tag nahe ist, an dem alle Christen endlich gemeinsam in der Einheit eines einzigen Leibes an dem einen Brot teilhaben können. 80. In der Feier der Eucharistie macht die Kirche auch die tägliche Erfahrung der Gemeinschaft ihrer Glieder im Hinblick auf das tägliche Zeugnis in der Gesellschaft; diese Erfahrung stellt eine wesentliche Dimension der christlichen Hoffnung dar. So wird sich die Kirche der inneren Einheit von eschatologischer Hoffnung und Engagement in der Welt bewußt, wenn sie das Gedächtnis der gesamten Heilsökonomie feiert – von der Inkarnation bis zur Parusie. Diese Einsicht könnte noch mehr vertieft werden in einer Zeit, in der die eschatologische Dimension des Glaubens verblaßt ist und der christliche Sinn der Geschichte als Weg zur Vollendung in Gott von Projekten überdeckt wird, die auf den rein menschlichen Horizont beschränkt bleiben. Als Pilger auf dem Weg zu Gott und in der Nachfolge unzähliger Einsiedler und Mönche, die als Suchende nach dem Absoluten Ausschau hielten, werden die Christen im Nahen Osten in der Eucharistie die Kraft und das Licht zu finden wissen, die nötig sind, um – oft gegen den Strom und trotz zahlloser Beschränkungen – das Evangelium zu bezeugen. Sie werden sich auf die Fürsprache der Gerechten, der Heiligen, der Märtyrer und der Bekenner sowie all jener stützen, die dem Herrn wohlgefällig sind, wie unsere Liturgien des Ostens und des Westen sie besingen. 81. Das Sakrament der Vergebung und der Versöhnung, für das ich gemeinsam mit allen Synodenvätern eine Erneuerung im Verständnis und in der Praxis der Gläubigen wünsche, ist eine Einladung zur Umkehr des Herzens.(Anmerkung 76: Vgl. Propositio 37.) In der Tat fordert Christus klar und deutlich: "Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst … geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder" (Mt 5,23 - 24). Die sakramentale Umkehr ist ein Geschenk, das verlangt, besser angenommen und praktiziert zu werden. Das Sakrament der Vergebung und der Versöhnung schenkt gewiß den Nachlaß der Sünden, aber es heilt auch. Eine häufigere Praxis fördert unweigerlich die Gewissensbildung und die Versöhnung und hilft zugleich, die verschiedenen Ängste zu überwinden und die Gewalt zu bekämpfen. Denn Gott allein schenkt den wahren Frieden (vgl. Joh 14,27). In diesem Sinne ermahne ich die Hirten und die ihnen anvertrauten Gläubigen, unablässig das individuelle und das kollektive Gedächtnis zu reinigen und durch die gegenseitige Akzeptanz und die Zusammenarbeit mit Menschen guten Willens das Denken von Vorurteilen zu befreien. Ich rufe sie ebenfalls auf, alle Initiativen für Frieden und Versöhnung zu fördern, selbst inmitten von Verfolgungen, um wahre Jünger Christi gemäß dem Geist der Seligpreisungen zu werden (vgl. Mt 5,3 - 12). Die "rechtschaffene Lebensführung" (vgl. 1 Petr 3,16) muß durch ihre Vorbildlichkeit der "Sauerteig" werden, der die gesamte Menschheit verwandelt (vgl. Lk 13,20 - 21), denn diese Rechtschaffenheit gründet sich auf Christus, der zur Vollkommenheit einlädt (vgl. Mt 5,48; Jak 1,4; 1 Petr 1,16). Das Gebet und die Wallfahrten 82. Die Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten hat mit Nachdruck die Notwendigkeit des Gebetes im Leben der Kirche unterstrichen, damit sie sich von ihrem Herrn verwandeln läßt und jeder Gläubige dazu bereit ist, daß Christus in ihm lebt (vgl. Gal 2,20). Wie nämlich Jesus selbst es gezeigt hat, als er sich in den entscheidenden Momenten seines Lebens zum Gebet zurückzog, findet die Wirksamkeit der missionarischen Verkündigung und folglich des Zeugnisses ihre Quelle im Gebet. Wenn der Gläubige sich dem Wirken des Geistes Gottes öffnet, läßt er mit seinem persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet den Reichtum der Liebe und das Licht der Hoffnung, die er in sich trägt (vgl. Röm 5,5), in die Welt dringen. Möge das Verlangen nach dem Gebet bei den Hirten des Gottesvolkes und bei den Gläubigen wachsen, damit die Betrachtung des Angesichtes Christi immer mehr ihr Zeugnis und ihre Taten inspiriere! Jesus hat seinen Jüngern empfohlen, ohne Unterlaß zu beten und nicht den Mut zu verlieren (vgl. Lk 18,1). Die durch Egoismus, Ungerechtigkeit oder Machtstreben verursachten schmerzlichen menschlichen Situationen können Überdruß und Mutlosigkeit erzeugen. Darum empfiehlt Jesus, beharrlich zu beten. Es ist das wahre "Offenbarungszelt" (vgl. Ex 40,34), der bevorzugte Ort der Gemeinschaft mit Gott und mit den Menschen. Vergessen wir nicht die Bedeutung des Namens des Kindes, dessen Geburt durch Jesaja angekündigt wurde und das das Heil bringt: Immanuel, "Gott mit uns" (vgl. Jes 7,14; Mt 1,23). Jesus ist unser Immanuel, der wahre Gott mit uns. Rufen wir ihn inständig an! 83. Als Land der biblischen Offenbarung ist der Nahe Osten sehr bald ein bevorzugtes Wallfahrtsziel für viele Christen geworden, die aus aller Welt kamen, um ihren Glauben zu festigen und eine zutiefst geistliche Erfahrung zu machen. Es handelte sich damals um einen Weg der Buße, der einem authentischen Durst nach Gott entsprach. Die heutigen biblischen Pilgerreisen müssen zu dieser anfänglichen inneren Einstellung zurückkehren. Wenn die Wallfahrt zu den heiligen und apostolischen Stätten in einer Haltung der Buße und Umkehr und in der Suche nach Gott den Schritten Christi und der Apostel in der Geschichte nachgeht, kann sie, wenn sie im Glauben und mit innerer Tiefe erlebt wird, eine authentische Nachfolge Christi sein. In zweiter Linie erlaubt sie den Gläubigen auch, noch mehr den sichtbaren Reichtum der biblischen Geschichte in sich aufzunehmen, der ihnen die großen Momente der Heilsökonomie vor Augen führt. Mit der biblischen Pilgerreise sollte man auch die Wallfahrt zu den Heiligtümern der Märtyrer und der Heiligen verbinden, in denen die Kirche Christus, die Quelle ihres Martyriums und ihrer Heiligkeit, verehrt. 84. Sicher, die Kirche lebt in der wachsamen und zuversichtlichen Erwartung der endgültigen Ankunft des Bräutigams (vgl. Mt 25,1 - 13). Ihrem Meister folgend erinnert sie daran, daß die wahre Anbetung im Geist und in der Wahrheit geschieht und nicht auf einen heiligen Ort begrenzt ist, gleich welche symbolische und religiöse Bedeutung er im Bewußtsein der Gläubigen haben mag (vgl. Joh 4,21.23). Dennoch empfindet die Kirche und in ihr jeder Getaufte das legitime Bedürfnis einer Rückkehr zu den Quellen. An den Orten, wo die Heilsereignisse stattgefunden haben, kann jeder Pilger einen Weg der Umkehr zu seinem Herrn beschreiten und neue Kraft finden. Ich hoffe, daß die Gläubigen des Nahen Ostens selber zu diesen durch den Herrn selbst geheiligten Orten pilgern können und uneingeschränkt freien Zugang zu den heiligen Stätten haben. Außerdem werden die Wallfahrten an diese Orte die Christen nicht-östlicher Tradition den liturgischen und spirituellen Reichtum der orientalischen Kirchen entdecken lassen. Sie werden auch dazu beitragen, die christlichen Gemeinden zu unterstützen und zu ermutigen, treu und tapfer auf diesem gesegneten Boden zu bleiben. Evangelisierung und Nächstenliebe: Auftrag der Kirche 85. Die Weitergabe des christlichen Glaubens ist für die Kirche ein wesentlicher Auftrag. Um besser auf die Herausforderungen der Welt von heute zu reagieren, habe ich die Gesamtheit der Gläubigen der Kirche zu einer neuen Evangelisierung aufgerufen. Damit sie Frucht bringt, muß sie treu im Glauben an Jesus Christus verharren. "Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!" (1 Kor 9,16), rief der heilige Paulus aus. In der derzeitigen im Wandel begriffenen Lage möchte diese Neuevangelisierung dem Gläubigen bewußt machen, daß sein Lebenszeugnis(Anmerkung 77: Vgl. BENEDIKT XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini [30. September 2010], 97: AAS 102 [2010], S. 767 - 768) seinem Wort Kraft verleiht, wenn er es wagt, offen und mutig von Gott zu sprechen, um die Frohe Botschaft vom Heil zu verkünden. Mit der Weltkirche ist auch die Gesamtheit der katholischen Kirche im Nahen Osten eingeladen, sich in dieser Evangelisierung zu engagieren, wobei sie umsichtig den kulturellen und sozialen Kontext berücksichtigen und in der Lage sein muß, seine Erwartungen und seine Grenzen zu erkennen. Es ist vor allem ein Aufruf, durch die Begegnung mit Christus sich selber neu evangelisieren zu lassen, ein Aufruf, der sich an die ganze kirchliche Gemeinschaft wie an jedes ihrer Glieder richtet. Denn "schließlich" – wie Papst Paul VI. in Erinnerung rief – "wird derjenige, der evangelisiert worden ist, auch seinerseits wieder evangelisieren. Dies ist der Wahrheitstest, die Probe der Echtheit der Evangelisierung: Es ist undenkbar, daß ein Mensch das Wort Gottes annimmt und in das Himmelreich eintritt, ohne auch von sich aus Zeugnis zu geben und dieses Wort zu verkünden."(Anmerkung 78: Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi [8. Dezember 1975], 24: AAS 68 [1976], S. 21.) 86. Die Vertiefung des theologischen und pastoralen Sinns dieser Evangelisierung ist eine wichtige Aufgabe, um "das unschätzbare Geschenk zu teilen, das Gott uns machen wollte, indem er uns an seinem eigenen Leben teilhaben ließ."(Anmerkung 79: BENEDIKT XVI., Apostolisches Schreiben in Form eines "Motu proprio" Ubicumque semper [21. September 2010]: AAS 102 [2010], S. 791.) Eine solche Reflexion muß auf die beiden Dimensionen hin offen sein, die innerer Bestandteil der ganz eigenen Berufung und Sendung der katholischen Kirche im Nahen Osten sind: die ökumenische und die interreligiöse Dimension. 87. Seit mehreren Jahren sind im Nahen Osten die kirchlichen Bewegungen und die neuen Gemeinschaften präsent. Sie sind ein Geschenk des Geistes an unsere Zeit. Wenn man den Geist nicht auslöschen darf (vgl. 1 Thess 5,19), ist es jedoch Pflicht eines jeden und jeder Gemeinschaft, das eigene Charisma in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen (vgl. 1 Kor 12,7). Die katholische Kirche im Nahen Osten freut sich über das Zeugnis des Glaubens und des brüderlichen Miteinanders jener Gemeinschaften, in denen sich Christen mehrerer Kirchen ohne Vermengung oder Proselytismus zusammenfinden. Ich ermutige die Mitglieder dieser Bewegungen und Gemeinschaften, in Einheit mit dem Ortsbischof und in Übereinstimmung mit den pastoralen Vorschriften sowie unter Berücksichtigung der Geschichte, der Liturgie, der Spiritualität und der Kultur der Ortskirche Verbindendes aufzubauen und Zeugen des Friedens zu sein, der von Gott kommt.(Anmerkung 80: Vgl. Propositio 17.) So werden sie ihre großherzige Hingabe sowie ihren Wunsch, der Ortskirche und der Weltkirche zu dienen, zeigen. Schließlich wird ihre gute Einbindung die Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit ausdrücken und der Neuevangelisierung hilfreich sein. 88. Als Erbin eines apostolischen Elans, der die Frohe Botschaft in ferne Länder getragen hat, ist jede der im Nahen Osten ansässigen katholischen Kirchen auch eingeladen, ihren missionarischen Geist zu erneuern; und zwar durch die Ausbildung und die Aussendung von Männern und Frauen, die auf ihren Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Christus stolz sind und in der Lage, mutig das Evangelium sowohl in der Region wie in Gebieten der Diaspora oder auch in anderen Ländern der Welt zu verkünden.(Anmerkung 81: Vgl. Propositio 34.) Das Jahr des Glaubens, das im Zusammenhang mit der Neuevangelisierung steht, wird, wenn es mit starker Überzeugung gelebt wird, ein hervorragender Anreiz sein, eine innere Evangelisierung der Kirchen der Region zu fördern und das christliche Zeugnis zu festigen. Den gestorbenen und auferstandenen Sohn Gottes, den alleinigen und einzigen Retter aller, bekannt zu machen, ist eine grundlegende Pflicht der Kirche und eine gebotene Verantwortung für jeden Getauften. "Gott will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4). Angesichts dieser dringenden und anspruchsvollen Aufgabe und in einer multikulturellen wie multireligiösen Umgebung kann die Kirche auf den Beistand des Heiligen Geistes – ein Geschenk des auferstandenen Herrn, der die Seinen weiter unterstützt – zurückgreifen und auf den Schatz der großen spirituellen Traditionen, die helfen, Gott zu suchen. Ich ermutige die kirchlichen Gebiete, die Ordensinstitute und die Bewegungen, einen authentischen missionarischen Schwung zu entwickeln, der für sie ein Unterpfand spiritueller Erneuerung sein wird. Für diese Aufgabe kann sich die katholische Kirche im Nahen Osten auf die Unterstützung der Weltkirche verlassen. 89. Seit langer Zeit wirkt die katholische Kirche im Nahen Osten durch ein Netz von Bildungseinrichtungen und sozialen wie karitativen Institutionen. Sie macht sich den Aufruf Jesu zu eigen: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40). Sie begleitet die Verkündigung des Evangeliums mit Werken der Nächstenliebe, gemäß dem Wesen der christlichen Liebe selbst, als Antwort auf die unmittelbaren Bedürfnisse aller, gleich welcher Religion und unabhängig von Parteien und Ideologien, in der einzigen Absicht, auf Erden die Liebe Gottes zu den Menschen zu leben.(Anmerkung 82: Vgl. BENEDIKT XVI., Enzyklika Deus caritas est [25. Dezember 2005], 31: AAS 98 [2006], S. 243 - 245.) Durch das Zeugnis der Liebe leistet die Kirche ihren Beitrag zum Leben der Gesellschaft und wünscht sich, zum Frieden beizusteuern, den die Region so nötig hat. 90. Jesus Christus hat sich zum Nächsten der Schwächsten gemacht. Nach seinem Beispiel, widmet sich die Kirche der Aufnahme von Kindern in Entbindungsstationen und Waisenhäusern und arbeitet im Dienst der Aufnahme von Armen, Behinderten, Kranken und allen Bedürftigen, damit sie immer besser in die menschliche Gemeinschaft eingebunden werden. Die Kirche glaubt an die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen, und sie betet Gott, den Schöpfer und Vater, an, wenn sie seinem Geschöpf in materieller wie in spiritueller Not dient. Um Jesu willen, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist, erfüllt die Kirche ihren Dienst der Tröstung, der nichts anderes will, als die Liebe Gottes zur Menschheit widerzuspiegeln. Ich möchte an dieser Stelle meine Bewunderung und meinen Dank all denen zum Ausdruck bringen, die ihr Leben diesem edlen Ideal widmen, und ihnen versichern, daß Gott ihnen seinen Segen schenkt. 91. Die katholischen Bildungszentren, Schulen, Hochschulen und Universitäten des Nahen Ostens sind zahlreich. Die Ordensleute und die Laien, die dort arbeiten, leisten eine eindrucksvolle Arbeit, die ich sehr begrüße und unterstütze. Weit entfernt von jeglichem Proselytismus nehmen diese katholischen Bildungseinrichtungen Schüler oder Studenten anderer Kirchen und anderer Religionen auf.(Anmerkung 83: Vgl. KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE, Lehrmäßige Note zu einigen Aspekten der Evangelisierung [3. Dezember 2007], 12, Anmerkung 49 zum Proselytismus: AAS 100 [2008], S. 502.) Da sie unschätzbare kulturelle Mittel zur Bewußtseinsbildung der Jugendlichen sind, beweisen sie in aller Deutlichkeit, daß es im Nahen Osten möglich ist, durch eine Erziehung zur Toleranz und ein ständiges Bemühen um Menschlichkeit in gegenseitiger Achtung zu leben und zusammenzuarbeiten. Aufmerksam begegnen sie auch den örtlichen Kulturen, die sie fördern möchten, indem sie die in ihnen enthaltenen positiven Elemente unterstreichen. Eine große Solidarität unter den Eltern, den Studenten, den Universitäten wie auch unter den Eparchien und Diözesen, einschließlich der Hilfe von Sozialkassen, wird es ermöglichen, allen den Zugang zur Bildung zu gewährleisten, vor allem denen, die nicht die nötigen finanziellen Mittel besitzen. Die Kirche bittet auch die verschiedenen politisch Verantwortlichen, diese Einrichtungen zu unterstützen, die durch ihre Aktivität konkret und wirkungsvoll zum Gemeinwohl beitragen und am Aufbau und der Zukunft verschiedener Nationen mitwirken.(Anmerkung 84: Vgl. Propositio 32.) Die Katechese und die christliche Erziehung 92. Der heilige Petrus erinnert in seinem ersten Brief: "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig" (3,15 - 16). Die Getauften haben das Geschenk des Glaubens erhalten. Er inspiriert ihr ganzes Leben und bringt sie dazu, feinfühlig und respektvoll gegenüber den anderen, aber auch freimütig und furchtlos darüber Rechenschaft abzulegen (vgl. Apg 4,29 ff.) Sie sollen auch in angemessener Weise auf die Feier der heiligen Mysterien vorbereitet, in die Kenntnis der offenbarten Lehre eingeführt und zu einem kohärenten täglichen Leben und Handeln aufgerufen werden. Diese Erziehung der Gläubigen wird vor allem durch die Katechese sichergestellt, so weit wie möglich in brüderlicher Zusammenarbeit unter den verschiedenen Kirchen. 93. Die Liturgie und an erster Stelle die Feier der Eucharistie ist eine Glaubensschule, die zum Zeugnis führt. Das in geeigneter Weise verkündete Wort Gottes muß die Gläubigen dazu führen, seine Gegenwart und seine Wirksamkeit in ihrem Leben und in dem der Menschen von heute zu entdecken. Der Katechismus der Katholischen Kirche ist eine notwendige Grundlage. Wie ich bereits sagte, muß seine Lektüre und die Unterweisung in seiner Lehre ebenso wie eine konkrete Einführung in die Soziallehre der Kirche gefördert werden, die bekanntlich im Kompendium der Soziallehre der Kirche und in den großen Dokumenten des Päpstlichen Lehramtes formuliert worden ist.(Anmerkung 85: Vgl. Propositio 30.) Die Realität des kirchlichen Lebens im Nahen Osten und die gegenseitige Unterstützung in der Diakonie der Liebe werden dieser Erziehung die Möglichkeit einer ökumenischen Dimension verschaffen, gemäß der Besonderheit der Orte und in Übereinstimmung mit den jeweiligen kirchlichen Autoritäten. 94. Außerdem wird das Engagement der Christen in der Kirche und in den zivilen Einrichtungen durch eine solide geistliche Bildung gestärkt werden. Es erscheint notwendig, den Gläubigen – vor allem denen, die in den östlichen Traditionen leben, und vornehmlich aufgrund der Geschichte ihrer Kirchen – den Zugang zu den Schätzen der Kirchenväter und der geistlichen Lehrer zu erleichtern. Ich lade die Synoden und die anderen bischöflichen Einrichtungen ein, ernsthaft über die schrittweise Verwirklichung dieses Wunsches und die nötige Aktualisierung der Lehre der Kirchenväter nachzudenken, welche die biblische Schulung ergänzen wird. Das schließt ein, daß an erster Stelle die Priester, die gottgeweihten Personen und die Seminaristen oder Novizen aus diesen Schätzen schöpfen, um ihr persönliches Glaubensleben zu vertiefen, damit sie dann diese Schätze sicher mit anderen teilen können. Die Unterweisungen der geistlichen Lehrer des Ostens und des Westens sowie die der Heiligen werden denen, die wirklich nach Gott suchen, hilfreich sein. SCHLUSS 95. "Fürchte dich nicht, du kleine Herde!" (Lk 12,32). Mit diesen Worten Christi möchte ich alle Hirten und die gläubigen Christen im Nahen Osten ermutigen, furchtlos die Flamme der göttlichen Liebe in der Kirche und in ihrem Lebens und Arbeitsumfeld lebendig zu erhalten. Auf diese Weise werden sie das Wesen und die Sendung der Kirche so, wie Christus sie gewollt hat, unversehrt bewahren. Auf diese Weise werden auch die legitimen und historischen Unterschiede die Gemeinschaft unter den Getauften sowie mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus, dessen Blut von aller Sünde reinigt (vgl. 1 Joh 1,3.6 - 7), bereichern. Zu Beginn der Christenheit schrieb der heilige Petrus als Apostel Jesu Christi seinen ersten Brief an einige gläubige Gemeinden Kleinasiens, die sich in Schwierigkeiten befanden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war es gut, daß sich um den Nachfolger Petri Hirten und Gläubige des Nahen Ostens und aus anderen Orten zur Synode versammelten, um gemeinsam zu beten und nachzudenken. Der apostolische Anspruch und die Vielschichtigkeit des Augenblicks laden zum Gebet und zur pastoralen Rührigkeit ein. Die Dringlichkeit der Stunde und die Ungerechtigkeit so vieler dramatischer Situationen erfordern in einer relecture des Ersten Petrusbriefes, daß man sich zusammenfindet, um gemeinsam den gestorbenen und auferstandenen Christus zu bezeugen. Dieses Zusammensein, diese von unserem Herrn und Gott gewollte Gemeinschaft, ist nötiger denn je. Schieben wir alles beiseite, was Ursache – auch berechtigter – Unzufriedenheit zu sein scheint, um uns einmütig auf das einzig Notwendige zu konzentrieren: im einzigen Sohn alle Menschen und das ganze Universum zu vereinen (vgl. Röm 8,29; Eph 1,5.10). 96. Christus hat Petrus die besondere Aufgabe anvertraut, seine Schafe zu weiden (vgl. Joh 21,15 - 17), und auf ihn hat er seine Kirche gebaut (vgl. Mt 16,18). Als Nachfolger Petri vergesse ich die Nöte und Leiden der Gläubigen Christi – und vor allem derer, die im Nahen Osten leben – nicht. Der Papst ist ihnen im Geist besonders verbunden. Das ist der Grund, warum ich die politisch und religiös Verantwortlichen der Gesellschaften im Namen Gottes bitte, nicht nur die Leiden zu lindern, sondern die Ursachen, die sie hervorrufen, zu beseitigen. Ich bitte sie, alles zu tun, damit endlich der Friede herrsche. 97. Der Papst vergißt auch nicht, daß die Kirche – die Heilige Stadt, das himmlische Jerusalem –, deren Eckstein Christus ist (vgl. 1 Petr 2,4.7) und die auf Erden zu hüten er selbst den Auftrag erhalten hat, auf Fundamenten aus verschiedenen farbigen und kostbaren Edelsteinen aufgebaut ist (vgl. Offb 21,14.19 - 20). Die altehrwürdigen orientalischen Kirchen und die Kirche lateinischen Ritus sind diese glänzenden Juwelen, die verblassen in der Anbetung vor dem "Strom, dem Wasser des Lebens, klar wie Kristall, der vom Thron Gottes und des Lammes ausgeht" (vgl. Offb 22,1). 98. Um den Menschen zu ermöglichen, daß sie das Angesicht Gottes und seinen auf ihre Stirn geschriebenen Namen (vgl. Offb 22,4) schauen, lade ich die Gesamtheit der katholischen Gläubigen ein, sich vom Geist Gottes leiten zu lassen, um untereinander die Gemeinschaft noch mehr zu festigen und sie in einer einfachen und frohen Brüderlichkeit zu leben. Ich weiß, daß gewisse Umstände manchmal dazu führen können, zu Anpassungen zu neigen, welche die menschliche und christliche Gemeinschaft zu zerbrechen drohen. Solche Anpassungen geschehen leider zu häufig, und diese Lauheit mißfällt Gott (vgl. Offb 3,15 - 19). Das Licht Christi (vgl. Joh 12,46) will alle Winkel der Erde und des Menschen erreichen, auch die dunkelsten (vgl. 1 Petr 2,9). Um ein Leuchter zu sein, der das eine Licht trägt (vgl. Lk 11,33 - 36), und um überall Zeugnis geben zu können (vgl. Mk 16,15 - 18), ist es wichtig, den Weg zu wählen, der zum Leben führt (vgl. Mt 7,14), und die unfruchtbaren Werke der Finsternis hinter sich zu lassen (vgl. Eph 5,9 - 14) und sie mit Entschiedenheit zu verwerfen (vgl. Röm 13,12 f.) 99. Möge die Brüderlichkeit der Christen durch ihr Zeugnis ein "Sauerteig" werden, der die gesamte Menschheit verwandelt (vgl. Mt 13,33)! Mögen die Christen des Nahen Ostens – Katholiken und andere – in Einheit mutig dieses nicht leichte, aber dank Christus mitreißende Zeugnis geben, um den Kranz des Lebens zu erhalten (vgl. Offb 2,10b)! Die Gesamtheit der christlichen Gemeinschaft ermutigt und unterstützt sie. Möge die Prüfung, die einige unserer Brüder und Schwestern erleben (vgl. Ps 66,10; Jes 48,10; 1 Petr 1,7), die Treue und den Glauben aller stärken! "Gnade sei mit euch und Friede in Fülle. … Friede sei mit euch allen, die ihr in Christus seid" (1 Petr 1,2b; 5,14b)! 100. Das Herz Marias, der Theotokos und Mutter der Kirche, wurde durchbohrt (vgl. Lk 2,34 - 35) aufgrund des "Widerspruchs", den ihr göttlicher Sohn herausgefordert hat, das heißt aufgrund der Widerstände und der Feindseligkeit gegen die Mission des Lichtes, auf die Christus gestoßen ist und die die Kirche, sein mystischer Leib, weiterhin erlebt. Maria, die von der ganzen Kirche – im Osten wie im Westen – innig verehrt wird, wird uns mütterlich zur Seite stehen. Maria, die ganz heilige, die unter uns gewandelt ist, wird abermals unsere Nöte vor ihren göttlichen Sohn tragen. Sie schenkt uns ihren Sohn. Hören wir auf sie, die uns der Hoffnung öffnet: "Was er euch sagt, das tut!" (Joh 2,5). Gegeben zu Beirut im Libanon, am 14. September 2012, dem Fest der Kreuzerhöhung, im achten Jahr meines Pontifikats. Benedikt XVI. [ENDE DER VOM HEILIGEN STUHL DARGEBOTENEN DEUTSCHEN FASSUNG DES APOSTOLISCHEN SCHREIBENS ECCLESIA IN MEDIO ORIENTE.] Mich beeindruckt das neue Apostolische Schreiben des regierenden Papstes sehr, es ist wohl mehr als ein gelungener Wurf, nicht zuletzt dank der Vorarbeit und offenen Vorschläge so vieler Hirten und Theologen. Da wir letztlich alle geistlich aus dem Nahen Osten herrühren, sollten wir viele darin enthaltene Vorschläge und Prinzipien auch für heimische Problemstellungen intensiv berücksichtigen. Papst Benedikt XVI. bewegt sich somit auch ganz klar und überzeugend auf den Spuren seines seligen Vorgängers Johannes Paul II., und das obige Schreiben ist also für die ganze Welt von höchster Bedeutung. Euer Dr. Alexander Pytlik - Padre Alex Dienstag, 29. Mai 2012
BESUCH DER WISSENSCHAFTLICHEN ... Geschrieben von Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
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21:00
Kommentare (0) Trackbacks (0) BESUCH DER WISSENSCHAFTLICHEN HOLOCAUST-GEDENKSTÄTTE YAD VASHEM IN JERUSALEM
Heute besuchte der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck gemeinsam mit seinem israelischen Amtskollegen Shimon Peres die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Ich kann dies nur jedem und jeder empfehlen, und so geht also erfreulicherweise der erste große Staatsbesuch des neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete. Im Gästebuch von Yad Vashem notierte Gauck folgende Worte handschriftlich:
"Wenn du hier gewesen bist, sollst du wiederkommen. Zuerst nur: die Flut der Gefühle, erschrecken vor dem Ausmaß des Bösen, mitleiden, mitfühlen, trauern - wegen eines einzigen Kinderschicksals oder wegen der Millionen unschuldiger Opfer. Und wiederkommen sollst du, weil auch du wissen kannst: Namen der Opfer - wie viele kennst du? Namen der Täter - deutsche zumeist - Verursacher, Vollstrecker, auch Namen von Schreckensorten wirst du dir einprägen und wirst erschrecken vor dem brutalen Interesse von Herrenmenschen. So wirst du dann hier stehen und dein Gefühl, dein Verstand und dein Gewissen werden dir sagen: Vergiss nicht! Niemals. Und steh zu dem Land, das hier derer gedenkt, die nicht leben durften. Joachim Gauck" Auch bei seiner Antrittsansprache und bei einem ersten Interview fand der Bundespräsident die richtigen und klaren Worte, was das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel betrifft. Aus Anlaß seines Besuches in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem erinnere ich gerne an den Besuch zweier Päpste am selben Ort und übernehme von der Internetseite des Heiligen Stuhles die damals gehaltenen Ansprachen: I. ANSPRACHE DES SELIGEN PAPSTES JOHANNES PAUL II. ANLÄSSLICH DER JUBILÄUMSPILGERREISE INS HEILIGE LAND AM 23. MÄRZ 2000: Aus unseren Herzen erheben sich die Worte des altehrwürdigen Psalms: »Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß. Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum. Sie tun sich gegen mich zusammen; sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben. Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,13 – 15). 1. An dieser Stätte der Erinnerungen empfinden Verstand, Herz und Seele ein ganz starkes Bedürfnis nach Stille. Stille zum Erinnern. Stillschweigen, in dem wir versuchen, etwas Besinnung in die Erinnerungen zu bringen, die uns überfluten. Stille, weil es keine Worte gibt, die stark genug wären, um die grauenhafte Tragödie der »Shoah« zu beklagen. Meine eigenen, persönlichen Erinnerungen betreffen all die Ereignisse, die sich damals zugetragen haben, als die Nazis Polen während des Krieges okkupierten. Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn: Manche von ihnen kamen um, andere haben überlebt. Ich bin nach »Yad Vashem« [Ein Denkmal und ein Name] gekommen, um den Millionen Juden die Ehre zu erweisen, denen alles genommen wurde, besonders ihre Würde als Menschen, und die im Holocaust ermordet worden sind. Über ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, aber die Erinnerung bleibt. Hier, wie in Auschwitz und an vielen anderen Orten in Europa, sind wir überwältigt vom Widerhall der herzzerreißenden Klage so vieler Menschen. Männer, Frauen und Kinder schreien zu uns auf aus den Tiefen des Greuels, das sie erfahren mußten. Wie sollten wir ihren Aufschrei nicht hören? Niemand kann das, was damals geschah, vergessen oder ignorieren. Niemand kann die Ausmaße dieser Tragödie schmälern. 2. Wir möchten uns erinnern. Wir möchten uns aber mit einer bestimmten Zielsetzung erinnern, nämlich um zu gewährleisten, daß das Böse nie mehr die Überhand gewinnen wird, so wie es damals für Millionen unschuldiger Opfer des Nazismus der Fall war. Wie konnte der Mensch eine solche Verachtung des Menschen entwickeln? Weil er den Punkt der Gottesverachtung erreicht hatte. Nur eine gottlose Ideologie konnte die Ausrottung eines ganzen Volkes planen und ausführen. Die Ehrung als »Gerechte der Völker«, die der Staat Israel hier in Yad Vashem denen zuerkannt hat, die sich heldenhaft – manchmal sogar bis zur Preisgabe ihres eigenen Lebens – für die Rettung von Juden eingesetzt haben, ist eine Anerkennung der Tatsache, daß nicht einmal in der dunkelsten Stunde jedes Licht ausgelöscht ist. Das ist der Grund, weshalb die Psalmen und die ganze Bibel, die sich zwar der Fähigkeit des Menschen zum Bösen wohl bewußt sind, auch verkünden, daß das Böse nicht das letzte Wort haben wird. Aus den Tiefen des Leids und der Trauer kommt der Aufschrei des Herzens des Gläubigen: »Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,15). 3. Juden und Christen teilen ein unermeßliches geistliches Erbe, das aus der Selbstoffenbarung Gottes hervorgegangen ist. Unsere religiösen Lehren und unsere geistliche Erfahrung fordern von uns, das Böse mit Gutem zu überwinden. Wir erinnern uns, aber ohne jedes Verlangen nach Rache oder als Ansporn zum Haß. Für uns bedeutet Erinnerung, für Frieden und Gerechtigkeit zu beten und uns dieser Sache zu verpflichten. Nur eine Welt im Frieden mit Gerechtigkeit für alle kann eine Wiederholung der Verfehlungen und grauenvollen Verbrechen der Vergangenheit verhindern. Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, daß die katholische Kirche – vom Gebot des Evangeliums zur Wahrheit und Liebe und nicht von politischen Überlegungen motiviert – zutiefst betrübt ist über den Haß, die Taten von Verfolgungen und die antisemitischen Ausschreitungen von Christen gegen die Juden, zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer. Die Kirche verwirft jede Form von Rassismus als ein Leugnen des Abbildes des Schöpfers, das jedem Menschenwesen innewohnt (vgl. Gen 1,26). 4. An diesem Ort des feierlichen Erinnerns bete ich inständig dafür, daß unsere Trauer um die Tragödie, die das jüdische Volk im zwanzigsten Jahrhundert erlitten hat, zu einer neuen Beziehung zwischen Christen und Juden führen möge. Laßt uns eine neue Zukunft aufbauen, in der es keine antijüdischen Gefühle seitens der Christen und keine antichristlichen Empfindungen seitens der Juden mehr geben wird, sondern vielmehr die gegenseitige Achtung, wie sie jenen zukommt, die den einen Schöpfer und Herrn anbeten und auf Abraham als unseren gemeinsamen Vater im Glauben schauen (vgl. Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah, V; O.R. deutsch, Nr. 14, 3. April 1998, S. 9). Die Welt muß die Warnung hören, die die Holocaust-Opfer und das Zeugnis der Überlebenden an uns richten. Hier in Yad Vashem lebt die Erinnerung fort und brennt sich in unsere Seelen ein. Sie läßt auch uns rufen: »Ich höre das Zischeln der Menge – Grauen ringsum […] Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ›Du bist mein Gott‹« (Ps 31,14–15). II. ANSPRACHE DES REGIERENDEN PAPSTES BENEDIKT XVI. ANLÄSSLICH DER PILGERREISE INS HEILIGE LAND AM 11. MAI 2009: „Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen … Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals ausgetilgt wird“ (Jes 56,5). Diese Stelle aus dem Buch des Propheten Jesaja liefert die beiden schlichten Worte, die feierlich die tiefe Bedeutung dieser ehrwürdigen Stätte zum Ausdruck bringen: yad – „Denkmal“; shem – „Name“. Ich bin gekommen, um in Stille vor diesem Denkmal zu stehen, das zur ehrenvollen Erinnerung an die Millionen in der schrecklichen Tragödie der Schoah getöteten Juden errichtet wurde. Sie haben ihr Leben verloren, doch niemals werden sie ihre Namen verlieren: Diese sind fest in die Herzen ihrer Lieben, ihrer Mitgefangenen, die überlebt Der ponische Arzt Janusz Korczak (Henryk Goldszmit) begleitete die Kinder seines Waisenhauses in ein Vernichtungs-lager, obwohl dies auch für ihn den Tod bedeutete. Man kann einen Mitmenschen seines Besitzes, seiner Chancen oder seiner Freiheit berauben. Man kann ein heimtückisches Netz von Lügen spinnen, um andere zu überzeugen, daß gewisse Gruppen keine Achtung verdienen. Doch sosehr sich einer auch bemüht, man kann niemals den Namen eines Mitmenschen wegnehmen. Die Heilige Schrift lehrt uns die Wichtigkeit der Namen, wenn jemandem eine einzigartige Aufgabe oder eine besondere Gabe verliehen wird. Gott nannte Abram „Abraham“, weil er zum „Stammvater einer Menge von Völkern“ werden sollte (Gen 17, 5). Jakob wurde „Israel“ genannt, weil er „mit Gott und mit Menschen gestritten und gewonnen“ hat (Gen 32,29). Die in diesem ehrwürdigen Denkmal bewahrten Namen werden auf immer einen heiligen Platz unter den zahllosen Nachfahren Abrahams einnehmen. Wie bei ihm wurde ihr Glaube geprüft. Wie Jakob wurden sie in das mühevolle Ringen, die Pläne des Allmächtigen zu erkennen, hineingestellt. Mögen die Namen dieser Opfer niemals vergehen! Möge ihr Leid nie geleugnet, herabgesetzt oder vergessen werden! Und mögen alle Menschen guten Willens weiter wachsam darauf achten, aus dem Herzen des Menschen auszumerzen, was immer zu Tragödien wie dieser führen könnte! Die Katholische Kirche, in Verpflichtung zur Lehre Jesu und in der Absicht, seine Liebe zu allen Menschen nachzuahmen, empfindet tiefes Mitgefühl für die Opfer, derer hier gedacht wird. Ebenso ist sie all denen nahe, die heute aufgrund von Volkszugehörigkeit, Hautfarbe, Lebensbedingungen oder Religion verfolgt werden – sie teilt ihre Leiden und macht sich ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit zu eigen. Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus bekräftige ich – wie meine Vorgänger –, daß die Kirche verpflichtet ist, unablässig zu beten und zu arbeiten, um zu gewährleisten, daß der Haß nie wieder in den Herzen der Menschen herrsche. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist der Gott des Friedens (vgl. Ps 85,9). Die Schriften lehren, daß es unsere Aufgabe ist, die Welt daran zu erinnern, daß Gott lebt, auch wenn wir es manchmal schwierig finden, seine geheimnisvollen und unergründlichen Wege zu verstehen. Er hat sich selbst geoffenbart und wirkt weiterhin in der menschlichen Geschichte. Er allein regiert die Welt in Gerechtigkeit und spricht den Völkern ein gerechtes Urteil (vgl. Ps 9,9). Wenn man auf die Gesichter blickt, die sich im Becken spiegeln, das innerhalb der Gedenkstätte in Stille ruht, kann man nicht anders, als sich daran erinnern, daß ein jedes davon einen Namen trägt. Ich kann mir nur die freudige Erwartung ihrer Eltern vorstellen, als sie sehnsüchtig auf die Geburt ihrer Kinder warteten. Welchen Namen sollen wir diesem Kind geben? Was wird aus ihm oder ihr werden? Wer hätte sich vorstellen können, daß sie zu einem solch beklagenswerten Schicksal verurteilt werden würden! Wenn wir hier in Stille stehen, hallt ihr Schrei in unseren Herzen wider. Es ist ein Schrei gegen jeden Akt von Ungerechtigkeit und Gewalt. Es ist ein ständiger Vorwurf gegen das Vergießen von unschuldigem Blut. Es ist der Schrei Abels, der vom Erdboden zum Allmächtigen aufsteigt. Wir bekennen unser unerschütterliches Vertrauen in Gott und verleihen diesem Beim Hinausfahren steht Ezechiel 37,14: "Ich hauche euch meinen Geist ein, dann werdet ihr lebendig und ich bringe euch wieder in euer Land ..." „Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue. Mein Anteil ist der Herr, sagt meine Seele, darum harre ich auf ihn. Gut ist der Herr zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht. Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn.“ (Klgl 3,22 - 26). Liebe Freunde, Gott und Ihnen bin ich äußerst dankbar für die Gelegenheit, hier in Stille zu verweilen: eine Stille, um zu gedenken, eine Stille, um zu beten, eine Stille, um zu hoffen. [ENDE DER BEIDEN PÄPSTLICHEN ANSPRACHEN IN DER GEDENKSTÄTTE YAD VASHEM.] Meine Photographien sind allesamt genau drei Wochen vor dem Besuch des deutschen Bundespräsidenten entstanden. Mit herzlichem Gruß, Euer Padre Alex Montag, 16. April 2012
ZUM 85. GEBURTSTAG SEINER HEILIGKEIT ... Geschrieben von Padre Alex / Dr. Alexander Pytlik
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10:28
Kommentare (0) Trackbacks (2) ZUM 85. GEBURTSTAG SEINER HEILIGKEIT PAPST BENEDIKT XVI.
Anläßlich des 85. Geburtstages Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI., des sichtbaren Stellvertreters unseres Herrn Jesus Christus auf Erden, erlaube ich mir, zwei wichtige Texte von der Seite des Heiligen Stuhles zu übernehmen, nämlich einerseits die Ansprache im Berliner Reichtstagsgebäude im Rahmen seiner Apostolischen Reise nach Deutschland, gehalten am 22. September 2011, und andererseits die Predigt in der Chrisam-Messe am Gründonnerstag vormittag, gehalten somit am 5. April 2012. Das wissenschaftliche fundierte Ansprechen von Problemen und das Mitdenken auf geistlicher Ebene und somit die Orientierung für suchende Menschen sind zweifellos die großen Stärken des derzeitigen Papstes. Und so lasse ich ihn selbst zu Wort kommen:
I. ANSPRACHE BEIM BESUCH DES DEUTSCHEN BUNDESTAGS (22. SEPTEMBER 2011): Es ist mir Ehre und Freude, vor diesem Hohen Haus zu sprechen – vor dem Parlament meines deutschen Vaterlandes, das als demokratisch gewählte Volksvertretung hier zusammenkommt, um zum Wohl der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Dem Herrn Bundestagspräsidenten möchte ich für seine Einladung zu dieser Rede ebenso danken wie für die freundlichen Worte der Begrüßung und Wertschätzung, mit denen er mich empfangen hat. In dieser Stunde wende ich mich an Sie, verehrte Damen und Herren – gewiß auch als Landsmann, der sich lebenslang seiner Herkunft verbunden weiß und die Geschicke der deutschen Heimat mit Anteilnahme verfolgt. Aber die Einladung zu dieser Rede gilt mir als Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für die katholische Christenheit trägt. Sie anerkennen damit die Rolle, die dem Heiligen Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft zukommt. Von dieser meiner internationalen Verantwortung her möchte ich Ihnen einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats vorlegen. Lassen Sie mich meine Überlegungen über die Grundlagen des Rechts mit einer kleinen Geschichte aus der Heiligen Schrift beginnen. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, daß Gott dem jungen König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich der junge Herrscher in diesem Augenblick erbitten? Erfolg – Reichtum – langes Leben – Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9). Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muß. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muß Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, ohne den er überhaupt nicht die Möglichkeit politischer Gestaltung hätte. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt[Anm. 1 = De civitate Dei, IV, 4, 1]. Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, daß diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, daß Macht von Recht getrennt wurde, daß Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und daß der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen. In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber daß in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muß sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen. Im 3. Jahrhundert hat der große Theologe Origenes den Widerstand der Christen gegen bestimmte geltende Rechtsordnungen so begründet: „Wenn jemand sich bei den Skythen befände, die gottlose Gesetze haben, und gezwungen wäre, bei ihnen zu leben …, dann würde er wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im Namen des Gesetzes der Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung Vereinigungen bilden würde …“[Anm. 2 = Contra Celsum GCS Orig. 428 (Koetschau); vgl. A. Fürst, Monotheismus und Monarchie. Zum Zusammenhang von Heil und Herrschaft in der Antike. In: Theol.Phil. 81 (2006) 321 - 338; Zitat S. 336; vgl. auch J. Ratzinger, Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter (Salzburg – München 1971) 60.] Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen. Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, daß geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war. Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden. Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. Die christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte. In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts kam es zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen Philosophen entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen Lehrern des römischen Rechts.[Anm. 3 = Vgl. W. Waldstein, Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft (Augsburg 2010) 11 ff.; 31 - 61.] In dieser Berührung ist die abendländische Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der Menschheit von entscheidender Bedeutung war und ist. Von dieser vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz, mit dem sich unser Volk 1949 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekannt hat. Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, daß sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon Paulus im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: „Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie… sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab …“ (Röm 2,14 f.) Hier erscheinen die beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft. Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so daß man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen. Ich möchte kurz andeuten, wieso diese Situation entstanden ist. Grundlegend ist zunächst die These, daß zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil es sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur. Wenn man die Natur – mit den Worten von H. Kelsen – als „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen.[Anm. 4 = Waldstein, a. a. O., 15 - 21.] Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erkennt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen. Das gleiche gilt aber auch für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn. Deshalb müssen Ethos und Religion dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden und fallen aus dem Bereich der Vernunft im strengen Sinn des Wortes heraus. Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede bildet. Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganze ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verweisen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen. Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen? Ich erinnere an einen Vorgang in der jüngeren politischen Geschichte, in der Hoffnung, nicht allzusehr mißverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken hervorzurufen. Ich würde sagen, daß das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet. Jungen Menschen war bewußt geworden, daß irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Daß Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern daß die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen. Es ist wohl klar, daß ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies. Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen. Erlauben Sie mir, bitte, daß ich noch einen Augenblick bei diesem Punkt bleibe. Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt ansprechen, der nach wie vor – wie mir scheint –ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur achtet, sie hört und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit. Kehren wir zurück zu den Grundbegriffen Natur und Vernunft, von denen wir ausgegangen waren. Der große Theoretiker des Rechtspositivismus, Kelsen, hat im Alter von 84 Jahren – 1965 – den Dualismus von Sein und Sollen aufgegeben. (Es tröstet mich, daß man mit 84 Jahren offenbar noch etwas Vernünftiges denken kann.) Er hatte früher gesagt, daß Normen nur aus dem Willen kommen können. Die Natur könnte folglich Normen nur enthalten – so fügt er hinzu –, wenn ein Wille diese Normen in sie hineingelegt hätte. Dies wiederum – sagt er – würde einen Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die Natur miteingegangen ist. „Über die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist völlig aussichtslos“, bemerkt er dazu.[Anm. 5 = Zitiert nach Waldstein, a.a.O., 19.] Wirklich? – möchte ich fragen. Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus voraussetzt? An dieser Stelle müßte uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist. Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt würde? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! [ENDE DER ANSPRACHE DES PAPSTES VOR DEM DEUTSCHEN BUNDESTAG.] . II. PREDIGT IN DER HEILIGEN CHRISAM-MESSE IM PETERSDOM (5. APRIL 2012): In dieser Heiligen Messe gehen unsere Gedanken zurück in die Stunde, in der der Bischof uns mit Handauflegung und Gebet in das Priestertum Jesu Christi hineingenommen hat, so daß wir „in der Wahrheit geheiligt sind“ (Joh 17,19), wie Jesus in seinem hohepriesterlichen Gebet es für uns vom Vater erbetet hat. Er selbst ist die Wahrheit. Er hat uns geheiligt, das heißt für immer an Gott übergeben, damit wir von Gott her und auf ihn hin den Menschen dienen können. Aber sind wir auch in der Wirklichkeit unseres Lebens geheiligt – Menschen, die von Gott her in der Gemeinschaft mit Jesus Christus wirken? Mit dieser Frage steht der Herr vor uns, stehen wir vor ihm. „Wollt ihr dem Herrn Jesus Christus enger verbunden und gleichgestaltet werden, auf euch selbst verzichten und die Versprechen erneuern, eure heiligen Pflichten, die ihr am Weihetag mit Freude übernommen habt?“ So werde ich nach dieser Homilie jeden einzelnen und auch mich selbst fragen. Zweierlei wird da vor allem gesagt: Es geht um eine innere Verbindung, ja, um Gleichgestaltung mit Christus, und dabei geht es notwendig um ein Überschreiten unserer selbst, um den Verzicht auf das bloß Eigene, auf die viel beschworene Selbstverwirklichung. Es geht darum, daß wir, daß ich mein Leben gerade nicht für mich selbst beanspruche, sondern es einem anderen – Christus – zur Verfügung stelle. Daß ich nicht frage: Was habe ich davon, sondern frage: Was kann ich für ihn und so für die anderen geben? Oder noch konkreter: Wie muß diese Gleichgestaltung mit Christus, der nicht herrscht, sondern dient; der nicht nimmt, sondern gibt – wie muß sie in der oft dramatischen Situation der Kirche von heute aussehen? Vor kurzem hat eine Gruppe von Priestern in einem europäischen Land einen Aufruf zum Ungehorsam veröffentlicht und dabei gleichzeitig auch konkrete Beispiele angeführt, wie dieser Ungehorsam aussehen kann, der sich auch über endgültige Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes hinwegsetzen soll wie zum Beispiel in der Frage der Frauenordination, zu der der selige Papst Johannes Paul II. in unwiderruflicher Weise erklärt hat, daß die Kirche dazu keine Vollmacht vom Herrn erhalten hat. Ist Ungehorsam ein Weg, um die Kirche zu erneuern? Wir wollen den Autoren dieses Aufrufs glauben, daß sie die Sorge um die Kirche umtreibt; daß sie überzeugt sind, der Trägheit der Institutionen mit drastischen Mitteln begegnen zu müssen, um neue Wege zu öffnen – die Kirche wieder auf die Höhe des Heute zu bringen. Aber ist Ungehorsam wirklich ein Weg? Spüren wir darin etwas von der Gleichgestaltung mit Christus, die die Voraussetzung jeder wirklichen Erneuerung ist oder nicht doch nur den verzweifelten Drang, etwas zu machen, die Kirche nach unseren Wünschen und Vorstellungen umzuwandeln? Aber machen wir es uns nicht zu leicht. Hat nicht Christus die menschlichen Traditionen korrigiert, die das Wort und den Willen Gottes zu überwuchern drohten? Ja, er hat es getan, um den Gehorsam zum wirklichen Willen Gottes, zu seinem immer gültigen Wort neu zu wecken. Es ging ihm gerade um den wahren Gehorsam, gegen die Eigenwilligkeit des Menschen. Und vergessen wir nicht: Er war der Sohn, mit der einzigartigen Vollmacht und Verantwortung, den reinen Gotteswillen freizulegen, um so den Weg von Gottes Wort in die Welt der Völker zu eröffnen. Und endlich: Er hat seinen Auftrag mit seinem eigenen Gehorsam und seiner Demut bis ans Kreuz hin konkretisiert und so seine Sendung beglaubigt. Nicht mein, sondern dein Wille: Dies ist das Wort, das den Sohn, seine Demut und seine Göttlichkeit zugleich zeigt und uns den Weg weist. Lassen wir uns noch einmal fragen: Wird mit solchen Erwägungen nicht doch der Immobilismus, die Erstarrung der Traditionen verteidigt? Nein. Wer auf die Geschichte der Nachkonzilszeit hinschaut, der kann die Dynamik der wahren Erneuerung erkennen, die in lebendigen Bewegungen oft unerwartete Gestalten angenommen hat und die unerschöpfliche Lebendigkeit der heiligen Kirche, die Anwesenheit und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes geradezu greifbar werden läßt. Und wenn wir auf die Menschen hinschauen, von denen diese frischen Ströme des Lebens ausgingen und ausgehen, dann sehen wir auch, daß zu neuer Fruchtbarkeit das Erfülltsein von der Freude des Glaubens, die Radikalität des Gehorsams, die Dynamik der Hoffnung und die Kraft der Liebe gehören. Liebe Freunde, es bleibt dabei: Die Gleichgestaltung mit Christus ist Voraussetzung und Grund aller Erneuerung. Aber vielleicht erscheint uns manchmal die Gestalt Jesu Christi zu hoch und zu groß, als daß wir wagen könnten, daran Maß zu nehmen. Der Herr weiß das. Deshalb hat er für Übersetzungen in Größenordnungen gesorgt, die uns zugänglicher und näher sind. Paulus hat aus eben diesem Grund seinen Gemeinden ohne Scheu gesagt: Ahmt mich nach, ich aber gehöre Christus. Er war für seine Gläubigen eine Übersetzung von Christi Lebensstil, die sie sehen und der sie sich anschließen konnten. Seit Paulus hat es die ganze Geschichte hindurch immerfort solche Übersetzungen von Jesu Weg in geschichtliche Lebensgestalten hinein gegeben. Wir Priester können an eine große Schar heiliger Priester denken, die uns als Wegweiser vorangehen: von Polykarp von Smyrna und Ignatius von Antiochien angefangen, über die großen Seelsorger Ambrosius, Augustinus und Gregor dem Großen bis hin zu Ignatius von Loyola, Karl Borromäus und bis zu Johannes Maria Vianney und den Priestermärtyrern des 20. Jahrhunderts und schließlich bis zu Papst Johannes Paul II., der im Tun und Leiden die Gleichgestaltung mit Christus uns als „Gabe und Geheimnis“ vorgelebt hat. Die Heiligen zeigen uns, wie Erneuerung geht und wie wir ihr dienen können. Und sie lassen uns auch wissen, daß Gott nicht auf die große Zahl und auf die äußeren Erfolge schaut, sondern seine Siege im demütigen Zeichen des Senfkorns erringt. Liebe Freunde, ganz kurz möchte ich noch zwei Stichworte aus der Erneuerung des Weiheversprechens berühren, die uns in dieser Stunde der Kirche und unseres eigenen Lebens zu denken geben sollten. Da ist zunächst die Erinnerung daran, daß wir – wie Paulus es ausgedrückt hat – „Ausspender der Geheimnisse Gottes sind“ (1 Kor 4,1) und daß uns der Dienst der Lehre, der (munus docendi) obliegt, der ein Teil dieses Ausspendens von Gottes Geheimnissen ist, in denen er uns sein Gesicht und sein Herz zeigt, um uns sich selber zu schenken. In der Begegnung der Kardinäle anläßlich des jüngsten Konsistoriums haben mehrere der Hirten der Kirche aus ihrer Erfahrung von einem religiösen Analphabetismus gesprochen, der sich mitten in unserer gescheiten Gesellschaft ausbreitet. Die Grundlagen des Glaubens, die früher jedes Kind wußte, werden immer weniger gekannt. Aber damit wir unseren Glauben leben und lieben können, damit wir Gott lieben können und damit recht auf ihn zu hören fähig werden, müssen wir wissen, was Gott uns gesagt hat; muß unser Verstand und unser Herz von seinem Wort berührt werden. Das Jahr des Glaubens, das Gedenken an die Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren soll uns ein Anlaß sein, mit neuem Eifer und neuer Freude die Botschaft des Glaubens zu verkündigen. Die finden wir natürlich grundlegend und zuallererst in der Heiligen Schrift, die wir nicht genug lesen und bedenken können. Aber dabei machen wir alle die Erfahrung, daß wir Hilfe brauchen, um sie recht in die Gegenwart zu übertragen; daß sie uns wirklich ins Herz trifft. Diese Hilfe finden wir zuallererst im Wort der lehrenden Kirche: Die Texte des II. Vaticanums und der Katechismus der Katholischen Kirche sind die wesentlichen Instrumente, die uns unverfälscht zeigen, was die Kirche vom Wort Gottes her glaubt. Und natürlich gehört der ganze, noch längst nicht ausgeschöpfte Schatz der Dokumente dazu, die uns Papst Johannes Paul II. geschenkt hat. All unsere Verkündigung muß Maß nehmen an dem Wort Jesu Christi: „Meine Lehre ist nicht meine Lehre“ (Joh 7,16). Wir verkündigen nicht private Theorien und Meinungen, sondern den Glauben der Kirche, deren Diener wir sind. Aber das darf natürlich nicht heißen, daß ich nicht mit meinem ganzen Ich hinter dieser Lehre und in ihr stehen würde. Ich muß dabei immer an das Wort des heiligen Augustinus denken: Was ist so sehr mein wie ich selbst? Und was ist so wenig mein wie ich selbst? Ich gehöre nicht mir selbst, und ich werde ich selber gerade dadurch, daß ich mich überschreite und durch die Überschreitung meiner selbst in Christus und in seinen Leib, die Kirche, hineinfinde. Wenn wir nicht uns selbst verkündigen und wenn wir inwendig ganz eins geworden sind mit dem, der uns gerufen hat als seine Botschafter, so daß wir vom Glauben geformt sind und ihn leben, dann wird unsere Predigt glaubhaft werden. Ich werbe nicht für mich selbst, sondern ich gebe mich selbst. Der Pfarrer von Ars war kein Gelehrter, kein Intellektueller, das wissen wir. Aber er hat die Menschen ins Herz getroffen mit seiner Verkündigung, weil er selbst ins Herz getroffen war. Das letzte Stichwort, das ich noch anrühren möchte, heißt Seeleneifer (animarum zelus). Es ist ein altmodischer Ausdruck, der heute kaum noch gebraucht wird. Das Wort Seele gilt in manchen Kreisen geradezu als ein verbotenes Wort, weil es angeblich einen Dualismus zwischen Leib und Seele ausdrücke, den Menschen zu Unrecht zerteile. Natürlich ist der Mensch nur einer, mit Leib und Seele zur Ewigkeit bestimmt. Aber das kann doch nicht bedeuten, daß wir nun keine Seele mehr hätten, kein konstitutives Prinzip, das die Einheit des Menschen in seinem Leben und über seinen irdischen Tod hinaus gewährleistet. Und natürlich sorgen wir uns als Priester um den ganzen Menschen, gerade auch um dessen leibliche Nöte – um die Hungernden, um die Kranken, um die Obdachlosen. Aber wir sorgen uns nicht nur um den Leib, sondern gerade auch um die seelischen Nöte des Menschen: um die Menschen, die unter der Zerstörung des Rechts oder unter zerstörter Liebe leiden; um die Menschen, die sich im Wahrheitsdunkel befinden; die unter der Abwesenheit von Wahrheit und Liebe leiden. Wir sorgen uns um das Heil der Menschen an Leib und Seele. Und als Priester Jesu Christi tun wir es mit Eifer. Die Menschen dürfen nie das Gefühl haben, daß wir unsere Pflichtstunden gewissenhaft ableisten, aber zuvor und danach nur uns selbst gehören. Ein Priester gehört nie sich selbst. Die Menschen müssen unseren Eifer spüren, durch den wir glaubhaft das Evangelium Jesu Christi bezeugen. Bitten wir den Herrn, daß er uns mit Freude an seiner Botschaft erfülle und daß wir so mit freudigem Eifer seiner Wahrheit und seiner Liebe dienen dürfen. Amen. [ENDE DER PÄPSTLICHEN CHRISAMPREDIGT.] Und soferne die Gerüchte zutreffen, daß es im Rahmen der Katholischen Kirche eine kirchenrechtliche Lösung für die Priesterbruderschaft St. Pius X. geben soll, bin ich natürlich sehr gespannt, wie dann dabei das Problem des Gehorsams gelöst wurde und wird. Ähnlich spannend bleibt es bei der Übersetzung der Wandlungsworte innerhalb der Heiligen Messe im deutschen Sprachraum: vor zwei Tagen hat nämlich Papst Benedikt XVI. selbst für die katholischen Bischöfe ein persönliches Schreiben dazu unterfertigt. Und so schließe ich mich den Geburtstagswünschen zum 85. an und verbleibe mit österlichen Grüßen Euer Padre Alex - Dr. Alexander Pytlik |
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